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Kapitel 1- Julie Wildungen / Cassel 1878

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Julie hatte die sieben Jahre, die seit Maries Auszug vergangen waren, weidlich genutzt. Wie die große Schwester war sie von beachtlicher Wissbegierde erfüllt, hatte gar dem älteren Bruder Carl bei seinen altsprachlichen Schulaufgaben über die Schulter geschaut und ihre Kenntnisse – „Lehrerin spielend“ - an die jüngeren Geschwister weitergegeben, insbesondere an Ernst und Caroline. Julie war die Anführerin dieser kleinen Troika der „mittleren“ Geschwister, die altersmäßig recht nah beieinander waren: Ernst zwei Jahre, Caroline fünf Jahre jünger als sie.

Die Mädchen besuchten, wie Marie, eine private Höhere Töchterschule; Ernst das Fürstlich-Waldecksche Gymnasium in Korbach. Wenn das Trio zuhause vereint war, saßen sie gern im heimatlichen „Musikzimmer“ – Caroline meist am Klavier, Julie und Ernst vertieft in Lektüre.

Ernst, der später über den römischen Satiriker Lucilius promovieren und nach der Habilitation als ordentlicher Professor in Hamburg lehren würde, bevorzugte lange Zeit die Werke Homers. Julie assistierte bei den Übersetzungsversuchen, vor allem aber bei deren anschließenden „Aufführungen“; mit angemessenem theatralischen Pathos und mal mehr, mal weniger geglückten Hexametern. Außerdem verschaffte die Anwesenheit des Bruders Zugang zu gänzlich undamenhafter französischer Lektüre, darunter Alexandre Dumas‘ „Comte de Monte-Christo“ und „Les trois mousquétaires“.

An den Wochenenden veranstaltete die Familie Landpartien und Picknicks; oft kamen Freunde der Eltern mit Familien zu Besuch; man traf sich zu geselligen Abenden, in der Saison auch zu Tanzveranstaltungen – und immer wieder zu herbeigesehnten Theaterbesuchen. Die Fahrten ins Hoftheater in Cassel waren ein Fest, das in langer Vorbereitung zelebriert wurde.

Carl, vier Jahre älter als Julie, hatte 1872 das Abitur am Fürstlich-Waldeckschen Gymnasium absolviert und eine kaufmännische Ausbildung gewählt. Besonders förderte ihn ein Freund seines Großvaters, der als Regierungsrat am Hof von Arolsen auch Bekanntschaften zum Kurfürstlichen Casselaner Hof pflegte. Den alten Herrn verband persönliche Sympathie mit dem Hofrat Fedor Ludwig Cramer. Dieser hatte gemeinsam mit seinen jung verstorbenen beiden Brüdern 1845 die „Farben- und Drogengroßhandlung Gebrüder Cramer“ am Steinweg 4 in Cassel gegründet. Das Unternehmen florierte und avancierte rasch zum kurhessischen Hoflieferanten. Der Hofrat nahm Carl unter seine Fittiche und begleitete seine Lehrzeit. Emil Cramer, seit 1873, seiner Volljährigkeit mit 24 Jahren, an der Führung der Geschäfte beteiligt, wurde bald Carls engster Freund.

So entstand eine herzliche Verbindung zwischen den Familien. Reiste die Familie Kleinschmit zu Theateraufführungen nach Cassel, war sie gern gesehener Gast im großen Haus am Steinweg, in dem sich über den Geschäftsräumen im Erdgeschoss auf zwei Etagen die weitläufigen Wohnräume der Familie befanden. Emils Mutter Mathilde, als Tochter des kurhessischen Forstverwalters in einer großen Familie im ländlichen Umfeld von Cassel aufgewachsen, war zutiefst unglücklich gewesen, nach Emil keine weiteren Kinder mehr bekommen zu können. Eine Reihe von Fehlgeburten hatten immer wieder auch ihr Leben in Gefahr gebracht, bis sie sich damit abfinden musste: Emil würde das einzige Kind bleiben. Ganz besonders eine Tochter hätte sie sich gewünscht, und so war die rundliche, gutmütige, aber ein wenig eigene Matrone nur allzu glücklich, Julie und Caroline verwöhnen zu können und in Elise eine handfeste, verlässliche Freundin zu finden.

„Wie schön, dass Sie da sind, Sie lieben Deare“, begrüßte sie die Besucher stets strahlend, ohne Ernsts Feixen und das leise Glucksen der Mädchen angesichts der merkwürdigen Pluralbildung des englischen Wortes je zu bemerken. „War Ihre Reise komfortabel? Man weiß ja nie in diesen Zeiten …“ Welche Risiken „diese Zeiten“ bargen, in denen kein Krieg mehr herrschte, noch gemeinhin Räuberhorden am Straßenrand lauerten, blieb offen. „Überaus angenehm, liebe Hofrätin“, antwortete Elise dann. „Wir hoffen, Ihr Befinden ist zufriedenstellend?“ „Nun ja, ach Gottchen, ach Gottchen, aber man weiß ja nie“, war die nebulöse Antwort.

Dieser sich wiederholende Dialog sorgte jedes Mal für Erheiterung. Obwohl Elise, die selbst mehrere Fehlgeburten hatte erleiden und die ersten Jahre ihrer Ehe, teils verzweifelt, auf die Geburt ihres ersten Kindes hatte warten müssen, dem Spott einen Riegel vorschob: „Sie hat viel Unglück erlebt. Jammern und Klagen helfen nicht, aber sie gefällt sich nun mal darin. Nehmt es besser als Lehre, selbst immer …“ – „…Contenance, Discretion und Courage zu wahren“, ergänzten Julie und Caroline wie aus einem Mund. „Ja, Maman, das wissen wir. Sie ist halt ein ‚armes Dear‘.“ Caroline prustete wieder los: So nannte die Hofrätin Marie. Das „arme Dear“ hatte eine Anstellung an einer Marburger Töchterschule angenommen und lebte nun – glücklich, aber unbemannt – ein für ihre Schicht „scandaleuse“ selbstbestimmtes Leben. Den Vogel schoss Mathilde Cramer jedoch ab, als Caroline den Damen des Hauses stolz ein neues Kleid in ihrer Lieblingsfarbe vorführte. „Ach, wie reizend, Du liebes, grünes Dear!“, rief sie arglos aus und schaute angesichts des schallenden Gelächters verständnislos in die Runde.

Im Laufe der Jahre hatte sich das Verhältnis Julies zu Carl und seinem Freund Emil kaum verändert – sie waren Freunde, gute Freunde, die zusammenhielten, gern die Freizeit miteinander verbrachten, ins Theater und gelegentlich auch auf Bälle gingen. Im Herbst 1877 ereigneten sich zwei tiefe Einschnitte: Carl hatte im Vorjahr geheiratet, nun wechselte er von Cassel zu einer Anstellung nach Quedlinburg. Dort konnte er als Assistent des Geschäftsführers in eine gehobene Position mit Aussicht auf Übernahme in die Firmenleitung einsteigen, wie Emil sie im Großhandel der Gebrüder Cramer innehatte. Und im Oktober verstarb überraschend und unerwartet der Hofrat. Emil trauerte aufrichtig um ihn; Mathilde war verzweifelt. An ein gesellschaftliches Leben war im Trauerjahr nicht zu denken. Elise und Julie reisten jedoch häufiger nach Cassel, um der unglücklichen Witwe beizustehen. Die 14-jährige Caroline ging noch zur Schule und durfte nur während der Ferien mitfahren; Julie jedoch hatte die Schule schon Ostern 1875 abgeschlossen und war, wie die Mutter es sich ursprünglich mit Marie ausgemalt hatte, nun zuhause, um ihr zur Hand zu gehen.

Während Elise sich um die Trauernde kümmerte, verbrachten Julie und Emil viel Zeit gemeinsam. Emil arbeitete hart, um die unvorbereitete Übernahme der Geschäfte zu bewältigen. Immer häufiger besprach er an den Abenden, wenn beider Mütter sich zurückgezogen hatten, die Angelegenheiten der Großhandlung mit Julie. Mit schneller Auffassungsgabe und praktischem Verstand dachte Julie sich rasch in die geschäftlichen Belange und Sorgen ein und entwickelte sogar zunehmendes Vergnügen am Unternehmerischen. Da Mathilde nicht mehr in der Lage war, den Haushalt selbst zu leiten, und Elise ihr Hauswesen in Wildungen und die jüngeren Kinder – Otto und Walther waren erst sieben beziehungsweise zwölf Jahr alt - nicht zu lange Zeit allein lassen mochte, übernahm Julie während ihrer Besuche schnell die Führung des Hauspersonals, verteilte die Aufgaben, besprach mit der Köchin den Speiseplan und die Einkäufe und sorgte für die alltäglichen Belange.

Julie liebte das Haus am Steinweg; die lichten Räume in der ersten Etage mit Blick auf das Ottoneum, das Naturkundemuseum, ursprünglich das älteste Theater Deutschlands, die hohen Kastanienbäume und die im Sommer warm leuchtende Blutbuche. Gegenüber lag der Reitplatz der Militärakademie, auf der anderen Seite der Friedrichsplatz mit Schloss und Regierungsgebäuden. Mit wenigen Schritten erreichte man die „Schöne Aussicht“, die Orangerie und die Karlsauen ebenso wie die Königsstraße, das Kurfürstliche Hoftheater und die von pulsierendem Leben erfüllte Innenstadt.

An einem Abend im Mai saß sie jedoch bedrückt und auffällig still am Tisch und schien abwesend. „Haben Sie irgendwelchen Kummer, Fräulein Julie?“, erkundigte Emil sich besorgt. „Ist Ihnen nicht wohl?“ Julie sah auf und lächelte ihn an. „Nein, es geht mir gut, Danke. Ich habe nur heute eine Freundin aus Schultagen besucht, die ich länger nicht mehr sah. Sie lebt mit ihrem Gatten, einem hohen Beamten, in Berlin und ist für einige Tage hier in Cassel.“ Emil zog fragend eine Braue hoch. „Und die Begegnung hat Sie bekümmert? Haben Sie Sehnsucht nach der Schulzeit bekommen? Oder nach einem hohen Beamten?“ „Gewiss nicht“, Julie schüttelte den Kopf. „Das nun als Allerletztes. Ich hätte sie kaum wiedererkannt. Sie hatte ein strahlendes Wesen, immer unbekümmert. Und jetzt…“ „Jetzt?“, hakte Emil nach. „Jetzt ist sie ein elegant gekleideter, steifer, förmlicher, lebloser… Fisch“, schloss sie etwas lahm. Emil unterdrückte ein Lachen. „Mit toten Fischen Kaffee zu trinken, stelle ich mir in der Tat wenig amüsant vor. Auch wenn ich noch nie das Missvergnügen hatte.“ Julie zog eine Grimasse. „Ich finde ihr Leben furchtbar. Sie empfängt einmal die Woche vormittags Besuch, geht an zwei bis drei weiteren Tagen ihrerseits zu Besuchstagen und Kaffeekränzchen, ansonsten sitzt sie mit ihrer Schwiegermutter zusammen und stickt zierliche Deckchen. Hier wie dort plaudert sie über die immer gleichen „damenhaften“ Themen und Klatsch. Alles, was über Nichtigkeiten hinausgeht, ist Angelegenheit ihres Gatten. Ihre Lektüre ist strikt beschränkt, von den Zeitungen kriegt sie nur den Gesellschaftsteil zu sehen, und jedes Thema, das ich ansprach, – wirklich jedes! – war tabu. Ihre Schwiegermutter und ihr Gatte bedenken jeden Vorstoß, eigene Interessen oder, Gott behüte, gar Gedanken zu entwickeln, mit schärfster Missbilligung. Am schlimmsten finde ich jedoch, dass sie selbst diese Haltung übernommen hat. Ich glaube, Marie hat doch Recht.“ „Was hat denn Marie damit zu tun?“, erkundigte sich Emil irritiert. „Als Marie damals ankündigte, eine Ausbildung zur Lehrerin absolvieren zu wollen, sagte sie mir abends, sie wünsche sich etwas anderes im Leben als die belanglosen Beschäftigungen einer höheren Tochter. Nun, der Alltag einer Dame des gehobenen Bildungsbürgertums ist dem häufig nicht unähnlich, das wurde mir heute bewusst. Vater hat uns Mädchen sehr viel mehr Freiheiten gelassen, als üblich ist.“ Emil runzelte besorgt die Stirn. „Dann kann ich nur hoffen, dass Sie jetzt nicht den Besuch eines Lehrerinnenseminars planen.“ Julie grinste schief. „Das war nie mein Traumberuf. Außer Schriftstellerin gäbe es allerdings kaum eine Alternative. Obwohl Marie erzählte, dass mittlerweile einige Frauen in der Schweiz Medizin studieren. Was ich aber ebenfalls nicht vorhabe.“ „Das stimmt“, nickte Emil. „Im Mittelalter hatten es die Damen der gehobenen Gesellschaft leichter. Denken Sie an die Siegel führenden Handelsherrinnen – als solche könnte ich Sie mir sehr gut vorstellen. Auch die Brauereien waren fast alle in weiblicher Hand; das hätte vielleicht weniger gepasst. Und es gab Apothekerinnen, Hebammen und so weiter. Allerdings“, fügte er mit seinem scheuen Lächeln hinzu, „muss eine bürgerliche Ehe ja nicht unbedingt so verlaufen wie die Ihrer Freundin. Der Ehemann könnte seine Gattin auch als gleichwertige Gesprächspartnerin respektieren und sich verpflichten, sie keinerlei Einschränkungen und Vorschriften zu unterwerfen. Wäre es für Sie auch dann undenkbar, als Ehefrau und Mutter glücklich zu werden?“ War es nicht. Nach Ablauf des Trauerjahrs gab das Paar im Oktober 1878 die Verlobung bekannt.

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