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Kapitel 5 - Caroline Java 1887
ОглавлениеLiebste Julie,
bis mein Brief Dich erreicht, wird auch die kleine Margarete schon einige Wochen alt sein, vielleicht habt Ihr bereits Taufe gefeiert. Ich wünsche ihr ein wundervolles, schönes, aufregendes und glückliches Leben wie allen Deinen Kindern und schicke meine allerliebsten Grüße. Wie gern würde ich Euch einmal wieder in den Arm nehmen und die kleinen Ungeheuer kennen lernen! Sechs Kinder hast Du nun - bei mir sind es drei bisher, zum Glück alle gesund und munter (auch Willem und ich), und ein weiteres hat sich soeben angekündigt. Aber so lange wir so „produktiv“ sind, ist an eine Reise nicht zu denken…
Ronny hat, als Deine Nachricht von der Geburt eintraf, umgehend die gleiche magische Zeremonie (worin auch immer sie besteht, er beharrt auf Geheimhaltung, es sei ein Zauber seiner Mutter) veranstaltet wie bei meinen. Hoffen wir, dass es was nützt, denn dann sind alle unsere Kinder mit höchsten magischen Sicherheitsvorkehrungen vor Unglück, Krankheit und jedweder Unbill geschützt. Obwohl das, solange er lebt, eigentlich überflüssig ist: Als unser Majordomus gibt er weiterhin eine höchst ehrwürdige Gestalt ab (er besteht sogar darauf, sich Hieronymus zu nennen) – aber als Kindermädchen ist er unübertroffen. Die tatsächlichen tun mir manchmal fast Leid; nichts können sie ihm recht machen, nie gut genug auf die Kleinen aufpassen, und wenn Du ihn sehen würdest, wie er mit ihnen spielt, wenn er sich unbeobachtet wähnt, würdest Du Dich schieflachen.
Willem (hör auf, ihn Edmond-Quichotte zu nennen!) hat mir neben unserem Salon ein wunderbares Musikzimmer eingerichtet, mit einem Flügel von Steinway und einer fantastischen Aussicht in den Garten. Vor einigen Tagen habe ich dort ein kleines Abenteuer erlebt. Du kannst das Folgende also Marie vorlesen, aber besser nicht Maman; ich erwähne es im Brief an die beiden nicht, damit sie sich nicht ängstigt. Ich saß stolz und glücklich an meinem Flügel, die Türen zu unserem schönen Garten weit geöffnet, und spielte gerade eine Klavieradaption von Mozarts Klarinettenkonzert, als ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Es war eine Kobra, die hier relativ weit verbreitet und giftig sind, aber in der Nähe des Hauses hatte ich noch nie eine gesehen. Sie war ziemlich schnell unterwegs und hielt geradewegs auf meinen Flügel zu. Was tun? Weglaufen darf man nicht, das hatte Ronny mir eingeschärft, und ob ich eine Schlange erschlagen könnte, wage ich zu bezweifeln. Ich hätte auch nichts Passendes zur Hand gehabt. Aber ich hatte auf den Basaren Schlangenbeschwörer gesehen und dachte mir, was die können, kann ich schon lange. Und wenn die Unbeohrten gern Musik hören (wie unlogisch!), sind sie hier zwar unerwünscht, aber gerade richtig. Also spielte ich, was das Zeug hielt. Der Mozart war zu Ende, ich ging zu Schubert über. Der gefiel ihr (oder ihm?) leider etwas zu gut, sie begann sich nämlich an meinem Kleid hochzuschlängeln. Nächstes Schubert-Stück, sie hatte die Schultern erreicht, glitt darüber (iiiih) und wechselte dann – Gott und allen Geistern sei Dank! – den Kurs nach unten. Danach blieb sie zu meinen Füßen liegen. Oh nein, bloß nicht. Ich nahm Beethoven in Angriff, und den mochte sie offenbar nicht, jedenfalls schlängelte sie sich wieder raus. Als sie weg war, merkte ich doch, dass meine Knie etwas weich wurden, und ich hoffe, dass uns Willems Wohlstand immer erhalten bleiben möge; ich hätte nur sehr wenig Lust, mich auf den Basaren als Schlangenbeschwörer durchschlagen zu müssen. Seitdem halte ich während des Spiels die Türen geschlossen und verstehe nun auch Ronny, der vor Kurzem eines der Hausmädchen fürchterlich tadelte, weil es den Kinderwagen (ohne Baby darin) auf die Terrasse geschoben und dort stehen gelassen hatte. Nicht auszudenken, wenn sich darin so ein Schlangentier versteckt und man das Kind darauf legt.
Aber Du brauchst deswegen nicht denken, dass wir hier im unzivilisierten Dschungel leben. Eigentlich geht es sehr gesittet und europäisch zu. Wir machen wunderbare Picknicks unter den ausladenden, riesigen Zedern und haben vor drei Monaten sogar ein Kostümfest gefeiert. Angesichts unserer geografischen Lage war das Motto nicht die „Meistersinger“ oder der „Figaro“ wie bei Euch, sondern „China“. Es war zauberhaft: Kleine Lampions schmückten die Plantage, und wir trugen alle (auch die Herren!) traditionelle chinesische Kleidung. Und die Frisuren! Herrlich. Perücke und schwarz nachgemalte Augenbrauen! Willem hatte sich zuvor barbieren und nur ein höchst neckisches Oberlippenbärtchen stehen lassen. Ich lege Dir ein Foto bei, ebenso von unserer Terrasse und einem Picknick unter meinem Lieblingsbaum.
Mittlerweile haben wir einige sehr nette Freunde unter den benachbarten Plantagenbesitzern und ihren Frauen. Die Frauenkränzchen, zu denen ich leider hin und wieder muss, sind zwar immer noch fest in der Hand einiger sehr steifer, sehr strenger niederländischer Damen, aber damit habe ich mich mittlerweile arrangiert. Was bin ich froh, dass ich so gründlich die Sprache lernte, bevor ich hierher kam, ich glaube, sonst hätte ich einen schlechten Stand gehabt.
Ich muss nun enden, liebste Schwester, Ronny scharrt schon mit den Füßen und will den Brief mitnehmen. Ich umarme Dich und die Deinen, grüße Ernst und Carl und Emil und die Kinder und und und…
In Liebe
Deine Caro