Читать книгу DER ÜBERHEBLICHE - Dr. Friedrich Bude - Страница 11

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4. Der 17.Juni 1953

Die Versorgungslage spitzt sich zu. Otto Grotewohl, der Ministerpräsident, fordert alle Werktätigen zu strengster Sparsamkeit auf. Das ZK der SED beschließt eine Erhöhung der Arbeitsnormen um mehr als zehn Prozent.

DDR-Rückblick 1953

Früher Nachmittag. Auf dem drehbaren Klavierhocker im schönen Erkerzimmer am Markt sitzend, versucht der 13-Jährige an einer Czerny-Etüde, sich die Finger verrenkend, den Lehrer von seinen Klavierkünsten zu überzeugen.

Bruder Albrecht hat Schuld, dass er heute nach Noten spielen kann.

Bewundert hat er seinen Bruder Albrecht, wenn der sich bei Besuchen im Osten ans Klavier setzte, ohne Noten alle möglichen Schlager spielte - nur mit dem kleinen linken Finger, zwei Fingern der rechten Hand: „In the mood, Chattanooga choo choo“ und andere amerikanische Schlager.

Was „der Kleene“ nicht wusste: Der Große konnte nur improvisieren, die Tasten mit rechts zu Melodien, die Bässe mit dem linken kleinen Finger per Gehör so schlecht und recht zusammensuchen. Als Kind keine Geduld für den Unterricht, durfte Albrecht mit Klavierüben aufhören, sich sein Leben lang darüber ärgern: „Mutti, der Kleene muss richtig Klavier lernen. Wenn das Geld nicht reicht, schicke ich paar West-Päckchen mehr. Fehler, wie ich sie gemacht, sollen sich bei dem nicht wiederholen!“

So musste der kleine Frieder üben. Bankwitzens mit dem Haushaltwarengeschäft auf der anderen Marktseite, seit dem Auszug der Russen statt Zahnarzt Pauling unter ihnen wohnend, klingelten oft entnervt: „Das kann man ja nicht aushalten. Muss der Junge denn immer das Gleiche spielen? Und dann noch um die Mittagszeit!“

Eigentlich tat er nur das Nötigste.

Erst am Vortag des wöchentlichen Klavierunterrichtes begann das intensive Üben. Sein mäßiges Können wurde vom Lehrer geduldig ertragen, die Klavierstücke seinem Niveau angepasst. Arbeitslos, als von der neuen Gesellschaft entlassener Lehrer, war er auf dieses geringe Zubrot angewiesen. Einer der vielen Altlasten des kommunistischen Neulehrersystems, verdingte sich mit Privatunterricht, spielte zu Tanzstunden auf.

Einmal, voller Neugier, ob er das merkt, lauerte der Klavierschüler dem Lehrer am Erkerfenster auf, als der unter dem gegenüber der Hausfront vorstehenden Turm vorbeiging. „Dem kann ich ja direkt auf den Kopf spucken - nee, das geht nicht. Der Wind weht alles weg!“ Mit einer vollen Tasse Wasser zielt er, schließt schnell das Fenster. - Es klingelte, der Lehrer muss sich beschwert haben. Außer Schimpfe gab es aber zum Glück von Muttern nichts. Der Lehrer brauchte diesen Job, hat sich beim Schüler nie was anmerken lassen.

Am bewussten 17. Juni 1953 stümpert Edub diesem gerade sein Geübtes vor, als vom Markt laute Rufe und Sprechchöre ins Wohnzimmer schallten. Natürlich wird Edub unruhig, begehrte auf, machte darauf aufmerksam.

Jetzt Pause machen und die Stunde ist schneller vorbei!

Neugierig rennt er ans Fenster. Vor dem Rathaus, ein Pulk von Menschen. Über die gesamte Marktbreite. Immer neue kamen hinzu, das Podest vom Kandelaber war besonders dich besetzt. Plakate wurden hochgehalten. Jetzt wurde aus dem Rufen ein Chor: „Butter und Brot statt höhere Normen!“

Auf das Rathausportal über dem Torbogen des früheren Ratskellers führt eine Treppe. Dort oben hält jemand eine Rede. Auch das Portal ist voller Leute.

Immer wieder neue Redner. Die Menschen auf dem Markt schreien durcheinander, sich gegenseitig an.

So was gab es doch noch nie!

Sonst wurde nur „Hurra“ rufend marschiert, gesungen, wurden Plakate und Fahnen geschwenkt. Vor dem Haus, direkt unterm Schlafzimmerfenster, war dann eine Tribüne aufgebaut. Dort stand der Bürgermeister mit vielen anderen wichtigen Leuten, winkte den Demonstranten zu. Marschmusik schallte schon früh um Sieben über den Marktplatz, so dass zeitig geweckt wurde.

Oben auf dem Rathausportal hatte aber noch nie etwas stattgefunden.

Der Klavierlehrer wohnte auf der unteren Marktseite. Besorgt wegen der Massen vor seinem Haus verabschiedet er sich.

Klasse, dass der ging!

Am geöffneten Erkerfenster des Turms kann Edub alles genau überblicken.

Die oben auf dem Rathausportal versuchen ein Lied anzustimmen. Na endlich - so wie am 1 .Mai - nee - jetzt wieder laute Pfiffe, Buhrufe! Der Gesang stirbt langsam, durch Gegröle und Gelächter unterbrochen.

Ein Russen-Jeep kommt angebraust. Vier Uniformierte drin, einer schießt mit der Pistole in die Luft.

„Frieder, sofort zurück vom Fenster! Mach das Fenster zu!“ ruft Mutti aufgeregt, besorgt.

Ein Teil der Leute flüchtet. Andere ziehen Richtung Amtsplatz um die Ecke. Wir hören diese noch lange durch die Straßen ziehen.

Er durfte das Fenster nicht wieder öffnen, auch nicht auf die Straße, hockte anfangs hinter der Scheibe.

Eigentlich wollten sie im Garten Skat spielen. Sein Klassenlehrer, der welcher ihm wegen seiner dummen Frage den Spitznamen „Edub“ verpasste, hatte den damals 11-Jährigen schon das Skatspielen gelehrt. Diesmal blieben die Freunde aus. Der Topf für die Limo stand schon bereit. Nur das Wasser, dem Zucker und Essig zugemischt wurde, fehlte.

Gelangweilt klimpert Edub wieder auf den Klaviertasten:

„Bravo, bravo, beinah wie Caruso“, in C-Dur lässt sich das leicht spielen. Sein erster Schlager! Seine Schwester Renate hat ihm die Bass-Begleitung der linken Hand dazu beigebracht.

Immer wieder wechselt er zum Fenster:

Laufend kommen neue Leute in kleinen Gruppen, versammeln sich erneut vorm Rathaus, es wird diskutiert.

Der dicke Konditor Döring mit schneeweißer Arbeitskleidung, bei dem gibt es in der Mittelstraße im Treppenhaus in der Nische unter den Stufen den Eisstand, ist auch dabei. Weitere Leute schreien, zeigen Fäuste Richtung Rathaus. Der Weißkittel liefert sich ein Rededuell hoch zum Rathausportal, stürmt die Treppe dort hinauf - Gedränge, Schubsen - legt sich mit dem Redner an. Zu weit entfernt, kann Edub vieles nur undeutlich wahrnehmen.

Später, dumpfer brummender Motorenlärm von der Gößnitzer Straße - auf, auf, zum Fenster - nichts zu sehen - aber das Geräusch kannte er von damals.

1945, als die Amis mit den Panzern über den Markt fuhren. Nur die dicken Ketten, die großen Räder, die vorbeiratternden Eisenflächen der Panzer konnte er damals sehen. Höher reichte der Blickwinkel des Fenstersturzes im Keller nicht.

Diesmal hört er am Turmfenster nur Brummen und Rumpeln. Es muss ein Panzer bis zur Marktecke gefahren sein, denn erschrocken ängstlich lösen sich die Grüppchen auf, flüchten in die angrenzenden Straßen.

Der Markt ist menschenleer.

So die Erinnerungen des 13-jährigen Blauen Edub.

Schluss mit lustig! - Rekonstruktion der Schmöllner Ereignisse durch den gealterten Edub.

Die Macht aus dem Osten mit ihren grausamen deutschen Handlangern, die abgeschirmt vom Volk, anonym als Staatssicherheit nach stalinistisch-tschekistischem Vorbild ungestraft agierten, prägten das grausame Geschehen des „Tages X“, des 17. Juni 1953.

Ob Kommunisten, welche zur damaligen Zeit des Umbruchs felsenfest überzeugt, oder Leidtragende, welche verbittert vom Ort der Geschehnisse berichten - alle waren ohnmächtig der zentralisierten Herrschaft ausgeliefert.

Ein halbes Jahrhundert ist vergangen. Die Erinnerungen verblassen. Der Rückblick von Zeitzeugen ist gekennzeichnet durch subjektive Detaildarstellung, aus ihrer Sicht, ihrer Überzeugung, je nach Betroffenheit.

Heinz Horn wurde am Morgen des Tages X in die Zentrale nach Gera abkommandiert. Den neuen Sekretär für Organisation beim RAT, wie die Verwaltung des Landkreises volkstümlich genannt, hatte man durch das Studium an der kommunistischen Parteischule als zukünftige politische Führungskraft der SED qualifiziert.

Nachdem die ersten Arbeiterunruhen im Raum Halle bekannt wurden, sollte er Direktiven für das weitere Verhalten des RATES einholen.

Der junge Horn, vom Vater politisch geformt, stammte aus einfachen Arbeiterkreisen, hatte Schlosser gelernt, im Gaswerk als Monteur gearbeitet. Vater Ernst Horn, Knopfarbeiter und alter SPD-Mann, hörte schon zu Beginn der Machtübernahme Hitlers RADIO MOSKAU, war so über dessen Grausamkeiten aufgeklärt.

Durch Zufall stehen damals bei einem Ausflug des Arbeitersportvereins der alte und der junge Horn auf der Gößnitzer Bahnhofsbrücke. Unter ihnen rollt ein langer Güterzug, voll gestopft mit Menschen: „Guck dir das genau an! Juden - zusammengepfercht in den offenen Waggons. Der Zug geht nach Auschwitz oder auf den Weimarer Ettersberg - die werden vergast!“

Ein schrecklicher Anblick für den Jungen.

Nur einmal bekam Sohn Horn vom Vater eine gelangt, dass er unter den Tisch flog:

„Vater, ich will nach Hamburg zur Handelsmarine!“

Wumm, da hat es geknallt, die Backe färbte sich rot:

„Die bereiten einen Krieg vor! Dann bist du nicht mehr Handelsmarine, wirst zur Kriegsmarine abkommandiert!“

Fortan musste der Junge täglich abends heimlich mithören, am Radio.

Nach dem Krieg hat Vater Horn mit einem weiteren Genossen die KPD mit der SPD in der Stadt zusammengebracht und so die Schmöllner SED gegründet, im Alter als Parteiveteran stolz bei den Demos, wie sich die organisierten Lobpreisungen, die Aufmärsche zum Jahrestag der DDR und zum 1 .Mai nannten, in der ersten Reihe der Tribüne vor unserem Haus die Parade mit abgenommen.

An der Spitze marschierten die „bewaffneten Kräfte“, wie sich im gehobenen Funktionärsjargon die Kampfgruppen nannten. Diese Uniformierten rekrutierten sich vorwiegend aus dem großen Reservoir der Parteigenossen mit den staatlichen und betrieblichen Funktionären. Wer in den volkseigenen Betrieben eine leitende Position hatte, konnte sich nur schwer von diesem ehrenvollen Auftrag der zusätzlichen Landesverteidigung drücken. So waren die salutierenden Reihen mit den diagonal vor der Brust paradierenden Kalaschnikows mit einer betont sowjetnahen lockeren Montur ausstaffiert. Vielleicht sollte dadurch das teilweise hohe Alter, die meist fehlende soldatische Haltung und Figur überspielt werden? Vielen dieser Vorbeimarschierenden war ihr pflichtgemäßes Posieren vor den neugierig, teilweise hämisch grinsenden Zuschauern unangenehm.

Dann folgten die Marschblöcke der FDJ, Freie Deutsche Jugend, im Blauhemd. Die Mehrheit der Jugendlichen war dort Mitglied. Denen schloss sich die Pionierorganisation, die Jungen Pioniere, mit blauem Halstuch bekleideter Nachwuchs im Kindesalter und die GST, Gesellschaft für Sport und Technik, mit dem Motor- und Schützensport, gedacht für die vormilitärische Ausbildung des Nachwuchses, und die Sportvereine, an.

Dazwischen Marschblöcke der Betriebe. Dort trottete der von den vorherigen Sondermarschblöcken ausgeschlossene Teil der Belegschaft alle Betriebe dahin. Die erste Reihe bestand meist aus Fahnen- und Plakatträgern, wenigen Freiwilligen, meist wurden die breit gespannten Spruchbänder auch verlässlichen Leuten einfach aufgedrängt. Das Ärgerliche für die Bedauernswerten war, dass sie diese dekorativen Symbole des Sozialismus nach der Demo wieder abzuliefern hatten, sich somit nicht unterwegs vorzeitig verdrücken konnten. Der Rest des Häufleins hinter dieser Repräsentationsreihe bummelte so spaßig unterhaltsam, wie möglich, ohne besonders negativ aufzufallen, hinterher. Die Marschkolonnen wurden somit immer länger. Aufgelockert durch im Schritt rumpelnde Traktoren, wegen der vielen Zwischenhalte stotternden Motoren von Lastkraftwagen mit Anhängern, besetzt mit Jubelnden, welche diese Erwartung auch nur kurz in Höhe der Ehrentribüne erfüllten. Über deren Köpfen hingen ebenfalls Schilder mit Lobpreisungen und Erfolgsnachrichten der Planerfüllung, wie sich Produktionsziele der Betriebe nannten.

Wie heute bei den Karnevalszügen marschierten die Uniformen und tingelten die „Kollegen der Betrieb“ mit allem Zubehör an der Tribüne vorbei, während der Ansager über Mikrofon lauthals die einzelnen Marschblöcke ankündigend, deren Vorzüge pries.

Es war schon imposant und unterhaltsam aus Edubs Turmfenstern zuzusehen - den Gleichschritt der Kampfgruppen, die Vorführungen der Sport- und Volkstanzgruppen, das Grüßen der Anführer der Marschblöcke mit ihren Transparenten Richtung Tribüne und deren dankbarer Beifall, durch Mikrofone verstärkt.

Vater Horn war dabei.

An diesem 17.Juni sollte die Demonstration einen noch nie dagewesenen Verlaufnehmen. Sohn Horn blieb bei seiner Instruktionsreise mit dem Auto schon an Geras Boulevard SORGE stecken, Demonstranten versperrten den Weg, musste ohne Weisungen zurück nach Schmölln.

Auch dort rumorte es zwischenzeitlich. Menschenmengen marschierten von der Knopfmaschinenfabrik KNOHOMA, der Schuhfabrik und Rohde & Dörrenberg Richtung Amtsplatz und Marktplatz. Rhode & Dörrenberg, jetzt PWS genannt, war eine Werkzeugfabrik und SAG, sowjetische Aktiengesellschaft, von den Russen okkupiert, wurde von russischen Ingenieuren und Funktionären geleitet. Die gesamte Produktion ging nach Osten.

Vater Horn versuchte dort als Vorsitzender der Gewerkschaft die Interessen der autoritären Macht mit denen der Einheimischen zu koordinieren. An dem Tag war er machtlos.

Sohn Horn kam noch rechtzeitig vor den rebellierenden Arbeitern wieder ins Ratsgebäude am Amtsplatz, wo beim Vorsitzenden, dem Genossen Wiese, das Telefon klingelte. Aus der Villa BELLEVUE auf dem Pfefferberg, mit Blick auf die Stadt, dem Sitz der sowjetischen Kommandantur, meldete sich deren Kommandant, diskutierte die Lage. Ob man nicht jemanden unter den Demonstranten kenne, mit diesen friedlich Verbindung aufnehmen könne? „An der Spitze marschiert Zeuner von der PWS, den kenn' ich gut“, kommentierte der junge Horn die russische Anfrage.

Auch der Schlosser der Schuhfabrik, Gerd Bauer, demonstriert mit. Am Vormittag gab es in der Fabrik heftige Diskussionen. Seine Kollegin deren Maschine er gerade eingestellt hatte, konnte die neu vorgegebene erhöhte Norm auch nicht mehr schaffen. Vor dem Abmarsch flitzte Gerd noch in die Chrimmitschauer Strasse um seine neu angetraute Frau Didi zu informieren.

Als Kleinkind radebrechte Christina ihren Namen „Didi“, das blieb hängen. Die Vermählung der Tochter des Brunnenbaumeisters Kutschenreuter gegenüber dem Bahnhof, dessen Ehefrau Martha auch Cousine von Frieders Vater war, somit Frieders Cousine 2.Grades, galt als reichster Verwandter. Didis Hochzeit war das erste große Fest, an welchem Edub Tage vorher teilnehmen durfte.

Schlosser Bauer erreicht noch rechtzeitig am Eingang zum Markt wieder den Protestzug.

Zwischenzeitlich macht sich auch Sohn Horn, wie vom russischen Kommandant empfohlen, auf den Weg zu den Demonstranten, wollte Verbindung knüpfen, schlichten. Durch den Hintereingang gelangt er unbemerkt ins Rathaus, mengt sich unter die Revolutionäre auf dem Portal, späht Zeuner aus, stellt sich unbemerkt hinter diesen und flüstert dem, als der Redner endet über die Schulter: „Zeuner! Und nun stimmen wir noch die INTERNATIONALE an“, schwups, war er wieder im Rathaus.

„Brüder zur Sonne, zur Freiheit…“ versucht Zeuner zu intonieren, nur wenige singen mit, die Melodie stirbt ab.

Der von Edub am Fenster beobachtete Pistolenschuss des russischen Uniformierten führte dann zum Rückzug der Rebellierenden. Ein Teil von ihnen zog weiter durch die Stadt.

Der Markt blieb aber weiterhin Mittelpunkt des Aufruhrs. Die aufgelöste Demonstration und die Radiomeldungen des RIAS (Radio im amerikanischen Sektor) hatten sich zwischenzeitlich wie ein Lauffeuer verbreitet. Immer wieder kamen Neugierige zum Markt, bildeten Grüppchen. Auch Sohn Horns junge Frau Ruth schlenderte mit Tochter und Kinderwagen über die untere Marktseite.

Später - Borchert, stellvertretender Ratsvorsitzender, parteitreuer Redner, versucht vom Rathausportal zu agitieren, wird ausgepfiffen. Der von Edub beobachtete, in weißer Zunftjacke eines Obermeisters gekleidete Konditor legt sich mit Borchert an:

„Die privaten Handwerker werden besonders schlecht mit Material versorgt! Wir stehen doch bei Euch auf der Abschussliste!“ Die Polizei versuchte Gruppendiskussionen zu ersticken, was nicht gelang, Verstärkung wird angefordert.

Gegen 18 Uhr kam dann der Russenpanzer. Alles flüchtet in die Seitenstraßen, auch der Schlosser Gerd Bauer mit seiner Didi. Ausgangssperre wird verhängt.

Der aufregende Tag geht zu Ende. Im RIAS werden noch die Meldungen zum Arbeiteraufstand abgehört. Zeitig gehen Bauers zu Bett. Die neu vermählte Didi wohnt mit ihrem Gerd wegen des Wohnungsnotstandes bei dessen Mutter. Die Rollos haben sie runter gelassen, muss ja nicht jeder in die Parterrefenster gucken können, bemerken deshalb auch nicht den PKW, welcher einsam schräg gegenüber am Abend abgestellt ist, dessen Insassen auf ihren Einsatz warten.

Beide schlafen fest. Jeder auf seiner Seite liegend, gekrümmt, nur mit Nachthemd zugedeckt. Die Sommerhitze steht noch im Zimmer.

Plötzlich Getrappel im Korridor - Schritte kommen näher - die Tür wird aufgerissen:

„Aufstehen, Hände hoch!“

Mit hartem Griff, verschlafen, wird Gerd Bauer von den Eindringlingen hoch gezerrt: „Hände an die Wand, die Beine auseinander!“ schreit einer, drückt ihm den Pistolenlauf ins Genick.

Im Nachthemd auf den Korridor gedrängt, müssen beide, Gesicht zur Wand, stehen, währenddessen die Wohnung von drei Geheimpolizisten auf den Kopf gestellt, Fächer und Schränke ausgeräumt, gesucht und immer wieder gesucht wird.

Proteste werden vom Bewacher, mit entsicherter Pistole hinter den beiden Benachthemdeten höhnisch zurückgewiesen.

Die Uhr schlägt dreimal:

„Anziehen, los, los, nur Hose und Jacke, mehr brauchen Sie nicht!“ Die Hose klemmt über dem Nachthemd, die Eindringlinge zerren Gerds Hände nach hinten, stopfen die Arme in die Jackenärmel, schon klicken die Handschellen.

„Was wollen Sie denn mit meinem Mann?“ verzweifelt bettelt Didi um Verstehen, um Mäßigung.

„Halten Sie den Mund, sonst kommen Sie auch noch mit!“

Auf die Straße geschubst, in einen PKW gedrückt, ab ging es mit Gerd Bauer.

Der Tag X war zu Ende.

Wie ein Lauffeuer verbreitet sich am folgenden Morgen, dass weitere Kollegen verhaftet wurden. Auch der Konditor Döring war dabei. Es wird gestreikt.

„Der Gerd ist doch so ein ruhiger Kerl! Außerdem, solchen Einfluss, uns angeblich aufzuhetzen, hat der nicht. Auf den hätten wir schon gar nicht gehört“, war der Tenor der Leute.

Bauer wurden Verbindungen zum Hetzsender RIAS angedichtet. Er wäre am Sonntag vor dem Tag X dort in Westberlin gewesen, hätte am Tag X von der Ladefläche eines Lasters an die Streikenden aufrührerische Reden gehalten. Der Konditor hätte dem Ratsmitglied Borchert nach dem Rededuell am Rathausportal geohrfeigt, angespuckt. Die Gerüchteküche hat Hochkonjunktur.

Vier Zeugen gab es dafür, dass Bauer am bewussten Sonntag auf dem Fußballplatz war. Alle Proteste der Kollegen halfen nichts. Logischster Grund für die Stasi-interne Auswahl, ausgerechnet diesen Unschuldigen als angeblichen Provokateur festzunehmen, könnte dessen Schwiegervater, Brunnenbaumeister Kutschenreuter, Edubs Onkel, gewesen sein. Der Kapitalist könne Schlimmes im Schilde führen. Vielleicht wollte man dem über die Festnahme des Schwiegersohnes was anhängen, später enteignen?

Lokale Partei- und Ratsführung, auch Vater und Sohn Horn, an exponierten Positionen arbeitend, waren machtlos, die Stasi agierte, der „Staat im Staate“.

Als die Ehefrau Didi nach acht Tagen Ungewissheit von der Inhaftierung ihres Mannes im Untersuchungsgefängnis Altenburg erfuhr, dort vorstellig wurde, war Bauer schon wieder unterwegs. Mit Viehwaggons transportierte man die Häftlinge, in Holzverschlägen getrennt, ein großer Behälter diente als Klo, an Händen und Füßen gefesselt. Für die wenigen Kilometer nach Leipzig, tagelang unterwegs, wurden die rollenden Gefängnisse in alle Richtungen kreuz und quer, auf Abstellgleise geschoben, bis der Sonderbau für die „Provokateure des Tages X“ eingerichtet war.

Dort hat man der Ehefrau die Anwesenheit Bauers verleugnet. Sie weigerte sich zu gehen, bekam ihn kurz zu Gesicht. Gefesselt, in Häftlingskleidung, verdreckt, an den nackten Füssen Holzpantinen, kam er vom Verhör. Auf dem Rücken ein großes X sollte den Provokateur brandmarken. Sein Gesicht blutig geschlagen, das Hemd zerrissen, am ganzen Körper gezeichnet, gebrochen, weint er im Vorbeiführen seiner Frau entgegen: „Didi, hilf mir!“

Ein Verzweiflungsschrei - schon wurde er fortgezogen.

Jeden Abend gab es Verhöre, Schläge, um fingierte Geständnisse zu erpressen. Fünf Verhandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Kollegen aus der Schuhfabrik wollten für ihn aussagen, kamen kaum zu Wort, wurden später ausgeschlossen.

Die Verhandlung - eine Farce!

Die Anklage der staatsfeindlichen Hetze mit der Verbindung zum RIAS, musste nach den Aussagen der vier Zeugen, welche mit Gerd Bauer zum Fußball auf dem Sportplatz waren, fallen gelassen werden.

Die Ankläger hatten auch den alten Siebelt, selbst Funktionsträger in Bauers Fabrik, als Zeugen verpflichtet. Hatte man diesen zur Aussage zwingen, überreden wollen?

Didi, als Ehefrau zur Verhandlung zugelassen, sitzt abwesend, starr vor Angst im Gerichtsaal, als Siebelt seine Aussage macht. „Horst ist aufgesprungen, hat Siebelt mit starrem, festem Blick angesehen, tief in die Augen, und gerufen: Alles was Sie sagen ist Lüge!”

Die Staatsanwältin, es war die berüchtigte stalinistisch agierende Vizepräsidentin des Obersten Gerichtes der DDR, Hilde Benjamin, putzt sich gelangweilt die Fingernägel: „Dann beantrage ich die Vereidigung des Zeugen!“

Da bricht Siebelt erschrocken zusammen, rutscht in die Bank, wird rausgeführt. Auf die Vereidigung wird, um die Aussage nicht zu gefährden, verzichtet.

Die Abschlussverhandlung dauerte nur wenigen Minuten, während dessen man die Ehefrau im Gebäude hin und her schickt, ihr die zeitgleiche Verurteilung verleugnet, diese als verschoben vorgibt.

Gerd Bauer bekam anderthalb Jahre Gefängnis wegen staatsfeindlicher Hetze als Provokateur, welcher den Aufstand vom 17.Juni mit angezettelt, die Aberkennung aller Bürgerrechte für vier Jahre, die Zahlung der gesamten Gerichtskosten auferlegt. Das Urteil gründete sich nur noch auf der Aussage eines gewissen „Danneberg“, den keiner kannte, der an keiner Verhandlung teilgenommen.

War der Name erfunden oder Deckname eines IMs, eines von der Stasi angeworbenen Spitzels, zur Falschaussage überredet?

Der Verurteilte kam als kranker Mann aus der eineinhalbjährigen Haft. Seine Didi war zwischenzeitlich nach Chemnitz gezogen. Zum Schweigen verpflichtet, sprach er nie über die Kerkerbedingungen, musste durch die vielen Schläge auf den Kopf danach mit ständigen Kopfschmerzen leben. Deren Ursachen wurden erst nach Jahren gefunden. Ein Gehirntumor hatte sich aus einem Blutgerinnsel, Produkt der Misshandlungen, gebildet. Die Operation erfolglos, Invalidität, vor Schmerzen Unmengen von Tabletten einnehmend, halbseitig gelähmt, starb der junge Mann neun Jahre nach der Haftentlassung, hinterließ Frau und Kind.

Seine Rehabilitierung erfolgte durch Gerichtsbeschluss, wieder in Leipzig, im Dezember 1992. Eine nur minimale finanzielle Wiedergutmachung an die Witwe gab es im Jahr 2002 - der Tod wäre ja zu DDR-Zeiten eingetreten!

Zeuner, der angebliche Kampflied-Anstimmer auf dem Rathausportal, war mit einem blauen Auge davon gekommen, löste später sogar Vater Horn als Gewerkschaftsführer ab. Ursache waren Querelen wegen dessen Gewerkschaftskasse, die verschwunden, geleert am Weihwehr gefunden wurde, dem Liebestreffpunkt von Edubs Rivalen Lederburkardt.

Der alte Horn, verdächtigt, seine eigene Kasse gestohlen zu haben

- ein Unding!

Borchert, parteitreuer Redner vom Rathausportal, hatte sich von der Stasi nicht ausnutzen lassen, die angeblich erhaltene Backpfeife des Konditors dementiert.

Dieser wurde am frühen Morgen nach dem Tag X abgeholt, saß zwei Wochen in Altenburg. Man hat sich sogar bei Konditor Döring entschuldigt, finanzielle Wiedergutmachung angeboten, was er ablehnte.

Sieben Jahre später flüchtet der samt Familie „´gen Westen“, nachdem er telefonisch von einem anonymen Anrufer mehrfach vor angeblicher Verhaftung gewarnt wurde. Ob provoziert, um ihn los zu werden oder ehrlich gemeint, weiß man heute noch nicht - hat seine Konditorei mit schönem Lokal geopfert.

Mein Freund Donath, verliebt in Konditors Tochter, verlor die Freundin.

Sohn Horn, anständiger überzeugter Weltverbesserer, bekleidete später höchste Posten. Der spätere Chef der ABI, Arbeiter- und Bauern-Inspektion, der SDAG WISMUT (sowjetisch-deutsche Aktiengesellschaft für Uran-Abbau), der ehrenhaften Institution zur Bekämpfung von Korruption, Miss- und Vetternwirtschaft, gewissenhaft auf eine redliche Parteilinie achtend, war trotzdem vor Kompromissen nicht gefeit.

Mit der streng gottgläubigen Ruth, welche am Tag X auch neugierig über den Markt geschlendert, verheiratet, meistert Sohn Horn aus Liebe auch diese weltanschaulichen Gegensätze - heiratete kirchlich, auswärts in einer Dorfkirche. Viele SED-Jahre zahlte dessen Schwiegervater für beide Eheleute heimlich Kirchensteuer, bar gegen handschriftliche Quittung - vor Ort. Keiner wusste dies - wahrscheinlich der Begünstigte damals auch nicht.

Und noch ein Zeuge des Marktgeschehens an diesem unheilvollen Tag X soll erwähnt werden.

Schräg gegenüber dem revolutionären Rathausportal, vor dem Schaufenster von Vogel-Emils Papiergeschäft, gegenüber dem Haus mit Turm, in welchem der Zeuge Edub das Revolutionsgeschehen beobachtete, lag nach den Tumulten eine zertretene Violine. Ein 11-jähriges Mädchen, Enkelin des alten Horn, vom Unterricht kommend, hatte diese dort abgestellt, um neugierig besser den Marschierenden folgen zu können. Sie wusste nicht, dass ihr Onkel Heinz Horn auf dem Rathausportal Frieden stiften wollte, dass ihre große Schwester im Blauhemd auf der gegenüberliegenden Marktseite am geschlossenen Fenster der FDJ-Kreisleitung, über der Gaststätte „Schwarzer Bär“, mit Gewehr vor der Brust wache hielt, alles beobachtete. Der FDJlerin wurde an diesem, ihrem 18.Geburtstag das Feiern mit Freunden verboten.

Nach deren Heirat mit einem Bergbau-Ingenieur der Wismut, welcher nach Parteieintrittsverweigerung beruflich schikaniert wurde, sind beide auch „nach dem Westen abgehauen“. Ihr erstes Kind musste während dieser Fluchtwirren sein Leben lassen.

Das kleine Mädchen machte beim Einsammeln der Geigen-Reste keinen traurigen Eindruck. Für sie war der zwangsweise verordnete Unterricht ein für allemal zu Ende.

Später hat das Mädchen, welches wegen des Wohnraummangels der kinderreichen Familie beim erzkommunistischen Großvater Horn wohnte, dort autodidaktisch Akkordeonspielen erlernt. Später, als reife Schülerin den Wasser schüttenden Klavierspieler Edub vom Turm am Markt in dessen elterlichen Mahagonibetten geliebt, danach geheiratet. Noch später beim Wasser beschütteten Lehrer an Edubs Klavier des gleichen Erkerzimmers mit Turm Klavierunterricht genommen. Den Lehrer so begeistert, dass der sich in seinem Wohnhaus, gegenüber dem geschichtsträchtigen Rathausportal, ein zweites Klavier aufgestellt - um mit der jungen Frau im Duett spielen zu können. Da dirigierte die Neulehrerin schon den Schulchor.

In dieser Zeit waren ihre vier Geschwister und die Mutter längst „im Westen“.

DER ÜBERHEBLICHE

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