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Kapitel 5 - Der Mentor

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Zusammen mit den anderen Teilnehmern strebte Tom einem der drei Ausgängen des sich rasch leerenden Tagungsraums entgegen. „Dein Mentor ist Chris“, hatte es in der Einladung lediglich geheißen. Keine weiteren Details zu Chris. „Circa siebzig Prozent männliche Teilnehmer, davon rund die Hälfte jünger als vierzig, die ich als Mentoren mal ausklammere, macht bei rund hundert Zuhören fünfunddreißig potentielle Chris“, rechnete sich Tom vor. „Toll“, sagte er zu sich selbst, „soll ich die jetzt alle ansprechen?“

Tom fuhr erst einmal wie die meisten anderen auch mit der Rolltreppe aus dem Untergeschoss in die ebenerdig gelegene Aula des Kongresszentrums. Hier erhob sich ein eindrucksvolles pyramidenförmiges Glaskonstrukt über fünf Etagen in die Höhe. Der Zentralbereich der Aula gab den Blick bis zur Spitze des Gebäudes frei. Im Kontrast zu der Glasfassade des Gebäudes stand – farblich wie materiell - die Außenanlage aus hellem Kalkstein. Der Außenbereich war großzügig gestaltet. Vom Haupteingang fiel das Gelände leicht ab, bis es stufenlos im Meer verschwand. Jede Welle zeichnete aufs Neue ein kurzlebiges, einmaliges Muster in den hellen Kalk. Jetzt in der Vormittagssonne und bei dem strahlend blauen Himmel, der sich in der Glasfassade widerspiegelte, wirkte das Gebäude wie die Spitze eines riesigen, aus dem Meer ragenden Eisberges.

Tom war angetan von dem Zusammenspiel aus Glas und Kalkstein, dem von der Architektur provoziertem Farbspiel des Tageslichts und den Formen des Baus. Als er nach einigen Minuten – oder waren es doch nur Sekunden? – gerade wieder in das Gebäude hineingehen wollte, tippte ihn jemand von schräg hinten an. „Hallo, bist du Tom?“

Tom schätzte den Mann auf gut sechzig Jahre. Er trug einen hellbeigen, etwas zerknitterten Leinenanzug, darunter ein orangefarbenes T-Shirt. Unter einem schon ausgeblichenen New York Yankees Basecap quoll knapp schulterlanges schlohweißes Haar hervor. Seine Füße steckten in bequemen Leinen-Sneakers, passend zur Farbe seines Anzugs. „Ein Oldie, der bemüht auf lässig macht, wird mir hier als Aufpasser zur Seite gestellt und soll mir womöglich noch was beibringen?“, meldete sich eine spontane Stimme in Toms Kopf zu Wort.

„Ja, ich bin Tom. Aber woher wissen Sie …?“

„Chris. Bitte nenne mich Chris. Es freut mich, dich kennenzulernen, Tom! Der VPHV hat mir ein paar Angaben zu meinem diesjährigen Mentee – also zu dir – zukommen lassen, und als ich dich hier draußen stehen sah, dachte ich mir, das könnte passen, der junge Mann könnte Tom sein.“

„Hallo Chris, ja freut mich auch. Gut, dass du mich gefunden hast, ich hätte gar nicht gewusst, wo ich beginnen soll zu suchen, ich habe kein Foto von dir bekommen.“

„Ein Foto habe ich auch nicht bekommen, aber was soll’s, Mentor und Mentee haben ja nun zueinandergefunden! – Schön hier draußen, nicht?“

„Ja, heute Morgen hatte ich gar keinen Blick dafür, weil ich etwas spät dran war, aber jetzt – ja wirklich schön hier, direkt am Meer!“

„Ja, und frisch! Wie wär’s mit einem Kaffee – im dritten Stock gibt es eine kleine Cafe-Bar mit herrlichem Blick nach draußen.“

„Ja, gerne, warum nicht?“

Wenige Minuten später saßen die beiden an einem kleinen Tisch der Bar direkt an der Fensterfront, die in der Tat einen grandiosen Ausblick bot. Trotzdem war Tom im Augenblick an ganz anderen Dingen interessiert: Wieso musste ausgerechnet er die beiden Tage mit einem Mentor verbringen, wo doch offensichtlich andere Novizen keinen Mentor zugeordnet bekommen haben? Was ist dieser VPHV überhaupt genau, was führen die im Schilde und warum ist er auf diesen Kongress eingeladen? Und: Wer ist Chris?

„Wenn du kein Foto von mir bekommen hast – was weißt du dann über mich, dass du mich so schnell finden konntest?“

„Ich habe mehr oder weniger deinen Lebenslauf bekommen.“

„Also Name, Geburtsdatum, Ausbildung, et cetera?“

„Ja, genau. Damit konnte ich mir ein erstes ungefähres Bild von dir machen. Und mit ein bisschen Lebenserfahrung war es dann gar nicht so schwierig, dich hier auszumachen. So viele Teilnehmer sind ja nun auch wieder nicht da, und die Frauen kann man ja zum Beispiel gleich mal abziehen.“ Chris grinste.

„Schon, aber in meiner Altersklasse kämen doch bestimmt noch mindestens ein Dutzend andere in Frage.“

„Ja, aber nur einer davon stand alleine ohne Ansprechpartner und hat sich dem Trubel und der Kontaktanbahnung in der Eingangshalle entzogen und genoss augenscheinlich die frische Luft und den Blick aufs Meer und hat sich heute für einen gut sitzenden dunkelblauen Anzug entschieden und hat eine sportliche Figur und hat keine Dreadlocks und – ganz abgesehen davon könnte ich ja vor dir schon mehrere Männer fälschlicherweise angesprochen haben.“

„Und - hast du?“

„Nein, habe ich nicht.“

„Das mit den Dreadlocks, also dass ich eben keine habe, steht aber wohl nicht in dem Lebenslauf, den du bekommen hast?“

„Nein, über deine Frisur steht da nichts drin. Aber bei deinem Lebenslauf wäre das wohl eher untypisch, oder?“

„Okay. Du weißt also, dass ich an den beiden renommiertesten Universitäten Wirtschaftswissenschaften studiert habe, seit mehreren Jahren Stipendiat bin, in Harvard als Jahrgangsbester den MBA abgeschlossen habe und kurz vor Abschluss meiner Doktorarbeit über ‚Rationale Entscheidungsmodelle in der strategischen Bewertung von Akquisitions-Potentialen‘ stehe?“

„Ja, und auch, dass du seit mehreren Semestern als Übungsleiter Statistik unterrichtest.“

„Richtig.“

„Und jetzt möchtest du wissen, wieso du es mit deiner exzellenten Ausbildung - gerade auch im Hinblick auf das Thema dieses Kongresses -, deinem messerscharfen analytischen Verstand und deinen beeindruckenden akademischen Erfolgen auf einem Kongress zur Entscheidungsfindung mit einem Mentor zu tun bekommst? Dass ausgerechnet du einen Mentor haben sollst?“

„Äh, naja, also, so hätte ich das jetzt nicht …“ Tom fühlte sich ertappt. Chris sprach ganz genau aus, was Tom in der Tat dachte. Wenn nicht er, wer sonst könnte gut und gerne auf einen Mentor verzichten? Es konnte doch gar nicht sein, dass andere Novizen bessere Voraussetzungen mitbrachten als er?

„Ich meine, ich denke schon, dass ich gerade für das Thema Entscheidungsfindung recht fundiertes Wissen mitbringe. Das Thema spielt ja im Rahmen meines Studiums eine wichtige Rolle und ist jetzt sogar Gegenstand meiner Dissertation. Also insofern …“

„Am besten“, unterbrach ihn Chris, „erinnerst du mich gegen Ende des Kongresses daran, falls es dann noch eine offene Frage für dich sein sollte. Für den Augenblick gebe ich dir folgende Antwort: Ja, du bist zweifellos ganz hervorragend ausgebildet, gerade auch für das Thema dieser Tage hier, weit mehr als jeder andere Novize dieses Jahr, soweit ich das überblicken kann. Und genau deshalb hat man dir einen Mentor zugeordnet. Ich freue mich übrigens sehr, dich hier begleiten zu dürfen. Du wirst sehen, mit mir kann man es ganz gut aushalten.“

Und genau deshalb – das wird ganz bestimmt eine offene Frage bleiben“, dachte sich Tom.

„In einer Viertelstunde in der Aula, okay?“, hatte Chris Tom noch schnell zugerufen. Er hatte es plötzlich eilig, müsse noch ein dringendes Telefonat führen, hatte er gesagt. Tom war zwar schleierhaft, wie er dann noch einigermaßen pünktlich zum nächsten Vortrag kommen sollte, aber sein Mentor wird sich wohl etwas dabei gedacht haben, sagte er zu sich selbst. Oder auch nicht. Tom war irritiert. Einerseits strahlte Chris eine Souveränität aus, die ihm durchaus imponierte, andererseits hatte ihn die Antwort auf seine Frage, was er denn so mache, wenn er nicht gerade Mentor auf Kongressen sei, in seiner generellen Skepsis gegenüber einer Mentorenschaft für diesen Kongress mehr als bestärkt. Er käme gerade vom Baumwollpflücken in Kambodscha. Sein Mentor ein Baumwollpflücker! Bei allem Respekt, aber was sollte er denn von dem lernen können? Um organische Rohstoffernte ging es hier ja schließlich nicht.

„Komm, lass uns ein bisschen frische Luft schnappen. Hier kann man wunderbar an der Uferpromende entlangschlendern. Den Vortrag jetzt kannst du getrost sausen lassen. Dr. Anastrop ist nicht gerade ein Meister der Rhetorik und das meiste, was er zu sagen hat, dürfte dir ohnehin bekannt sein.“

„Na gut, du bist der Mentor. Gegen etwas frische Luft habe ich nichts einzuwenden.“

Die Pilotenkonferenz

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