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Kapitel 9 - Der Baumwollpflücker

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In der Aula, in der sich Tom mittlerweile wieder befand, herrschte schon reges Treiben. Dabei sollte der Vortrag von Dr. Anastrop noch gar nicht zu Ende sein. Aber wie schon so oft zuvor, war es ihm mal wieder gelungen, den Vortragssaal sozusagen leer zu lesen. Zumindest erkannte Tom so einige Gesichter von heute Morgen wieder. Unschlüssig, was er nun tun sollte, drehte er sich in alle Richtungen, um sich zu orientieren. Außer dem einen Vortragssaal im Souterrain und der Cafeteria im dritten Stock war ihm das Gebäude völlig fremd. Er beschloss, Mittagessen zu gehen. Wie er schnell herausfand, beherbergte der erste Stock eine großzügige Kantine. Er reihte sich in die Schlange der Wartenden ein und entschied sich schließlich für Piccata Milanese und einen großen Salat. Der ausgedehnte Spaziergang in der frischen Meeresluft hatte ihn hungrig gemacht. Tom ließ das Gespräch mit Chris nochmal Revue passieren während er aß. Da war viel Wahres dran an dem, was dieser erzählt hatte. Ein ganz anderer Blickwinkel zum Teil als das, was er jahrelang an verschiedenen Universitäten erfahren hatte. Kein renommierter Professor, sondern ausgerechnet ein Baumwollpflücker stellte Teile seiner akademischen Errungenschaften in Frage. Ganz nebenbei, beim Spazierengehen. Wie immer das angehen konnte, aber er schien wirklich zu wissen, wovon er sprach, und seine Argumente waren nicht von der Hand zu weisen. Theorie und Praxis – vielleicht tat sich da doch eine Kluft auf, die er als Student, der sich seine Sporen in der Praxis erst noch verdienen musste, bislang so noch nicht gesehen hatte. Oder wird nicht das Richtige gelehrt? Dauert es vielleicht zehn bis fünfzehn Jahre, bis sich Forschung und Lehre der richtigen Themen überhaupt annehmen, und nicht zehn bis fünfzehn Jahre, bis Ergebnisse der akademische Forschung in der Unternehmenspraxis ankommen, wie einer seiner Lieblingsprofessoren nicht müde wurde zu behaupten?

„Hier ist doch noch frei, oder?“, hörte er plötzlich jemanden fragen. Offenbar war er gemeint, aber bis er antworten konnte, saß ihm bereits ein Mann seines Alters gegenüber. Gut gekleidet, nicht im Business Look wie er selbst, aber ausgesucht und vermutlich ziemlich teuer. „Siegbert. Siegbert Ranstetter“, stellte sich der Mann vor.

„Ranstetter, Ranstetter“ dachte Tom, „irgendwie habe ich das Gefühl diesen Namen schon mal gehört zu haben“.

„Tom. Tom Tamme.“

„Tanne?“

„Tamme. Doppel-M wie Martha.“

„Ich hab dich vorhin gesehen, du warst draußen mit Chris, stimmt's, das warst du doch?“

„Ja, Chris ist mein Mentor.“

„Wow, Glückwunsch!“

„Du kennst ihn?“

„Ja, wer kennt ihn nicht, den guten Chris! Demnach bist du zum ersten Mal hier, richtig?“

„Ja, du nicht?“

„Nein, für mich ist es das dritte Mal. Wo hast du denn Chris gelassen, wollte er nichts essen?“

„Er hatte es plötzlich eilig, er müsse zum ICM. Hat mir aber nicht verraten, was das sein soll, er dürfe nicht darüber sprechen. Der Indian Cotton Market, oder weiß der Geier wofür ICM steht.“

„Indian Cotton Market? Wie kommst du denn darauf?“

„Nur ein Scherz, weil er ja Baumwollpflücker ist.“

„Baumwollpflücker? Chris?“ Siegbert brach in schallendes Gelächter aus. Er wollte sich gar nicht mehr beruhigen, so lustig fand er das anscheinend. Tom dagegen fand es gar nicht lustig, dass Siegbert so die Aufmerksamkeit der Tische in der näheren Umgebung auf sie zog. Aber das schien diesen wiederum nicht im Geringsten zu stören.

„Chris“ sagte er, als er sich wieder beruhigt und die Tränen aus den Augenwinkeln gewischt hatte, „Chris, der Baumwollpflücker! Da hat er dir ja einen schönen Bären aufgebunden!“

„Was soll das heißen? Dass er mich eiskalt angelogen hat?“

„Das vermutlich nicht, so wie ich ihn kenne. Vielleicht hat er sich eine Baumwollfarm zugelegt, das würde ich ihm durchaus zutrauen. Chris ist vielseitig interessiert, sagen wir mal so. Aber wenn das alles ist, was er dir von sich verraten hat, dann hat er zumindest fast alles Wesentliche ausgelassen.“

„Ach, tatsächlich?“

„Ja, Chris war ursprünglich Herzchirurg. Eines Tages hat er beschlossen aufzuhören, weil er der Meinung war, seine Motorik sei nicht mehr filigran genug für diesen Job. Ob er hier besonders strenge Maßstäbe an sich selbst anlegte oder ob sich tatsächlich ein Problem abzeichnete, weiß ich nicht. Jedenfalls genoss er bis zuletzt einen hervorragenden Ruf. Danach hat er angefangen, Herzklappen zu produzieren. Das Unternehmen, das er damit aufgebaut hat, gehört heute zu den ersten Adressen in diesem Markt. Mehrere Hundert Mitarbeiter, Dependancen auf drei oder vier Kontinenten. Vor ungefähr zehn Jahren hat er einen großen Anteil verkauft und sich aus dem operativen Geschäft zurückgezogen. Seitdem macht er verschiedenste Sachen.“

„Herzchirurg, Unternehmer, seit zehn Jahren Privatier – sag‘ mal, wie alt ist Chris eigentlich?“

„Auf dem letztjährigen Kongress hat er seinen Siebzigsten gefeiert.“

„Siebzig? Wow, sieht man ihm aber nicht an!“

„Das freut mich zu hören!“ Wie aus dem Nichts stand Chris plötzlich neben Tom.

„Ihr habt doch sicher noch ein Plätzchen frei. Jetzt weißt du also, dass ich altersmäßig dein Großvater sein könnte. Ich hoffe, das macht dir nichts aus!“

„Nein, nein, natürlich nicht!“, beeilte sich Tom zu sagen.

„Ich hoffe, du hast nichts Schlimmes über mich erzählt, Siegbert.“

„Ich habe versucht, mich auf die wenigen positiven Aspekte zu beschränken.“ Beide mussten lachen.

„Was machen die Geschäfte?“

„Könnte besser sein, aber ich will nicht klagen. Die private Nachfrage ist stabil, aber im Business-Bereich merken wir die Konjunkturdelle so allmählich. Da werden dann halt die alten Stühle noch länger durchgesessen.“

„Ranstetter – Stühle!“ Jetzt wusste Tom, woher er den Namen kannte.

„Gehört dir die Firma Ranstetter Büromöbel?“ fragte Tom.

„Was heißt gehören, ja, teilweise. Zum größeren Teil ist sie noch im Besitz meines Vaters, aber ich leite die Firma seit drei Jahren.“

„Soweit dich dein Vater lässt, oder?“ stichelte Chris.

„Inzwischen klappt’s schon ganz gut, dass er sich raushält, aber das war schon eine schwierige Zeit, stimmt. Apropos Vater – ich setze ihn wohl doch besser in Kenntnis, bevor ich Nägel mit Köpfen mache. Ich habe nämlich einen neuen Lieferanten für Textilstoffe aufgetan, einer unserer aktuellen beiden ist etwas unzuverlässig geworden. So, aber was steht eigentlich heute Nachmittag an? Hat einer die Agenda da?“ Siegbert stand schon mit seinem Tablett in der Hand da, im Begriff zu gehen.

„Ich habe vorhin Professor Peripi getroffen. Er hat eine wirklich spannende Geschichte dabei, das dürft ihr euch auf keinen Fall entgehen lassen! Und – ich bin mir nicht sicher – aber ich glaube Dr. Mo sollte heute auch noch sprechen.“

„Dr. Mo?“, fragte Siegbert wie elektrisiert.

„Ja, ich denke schon. Das Thema ihres Vortrages habe ich jetzt leider nicht präsent.“

„Egal, ist bei Dr. Mo ja auch nicht wirklich entscheidend. Ich muss jetzt zum Telefonieren, bis später.“ Im Gehen, mit dem Rücken zu Chris gewandt, flüsterte Siegbert Tom noch zu:

„ICM steht übrigens für ‚Inner Circle Meeting‘.“

„Was denn für ein Inner Circle?“

„Psst! Ich habe nichts gesagt!“

Die Pilotenkonferenz

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