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5. Das Jahr 1985

Unser 4. Gesuch auf Übersiedlung schickten wir am 18. Februar an die Abt. Innere Angelegenheiten des Rates der Stadt Magdeburg. Auf meinen Brief, den ich etwa einen Monat zuvor an den Rechtsanwalt Vogel in Berlin gerichtet hatte, erhielt ich keine Antwort.

Am 19. Februar nahm unsere Tochter von 9 bis 16 Uhr in den Räumen der Wilhelm-Pieck-Schule in der Weitlingstraße an einer Voreignungsprüfung, durchgeführt von der „Hochschule für Industrielle Formgestaltung“ Halle Burg Giebichenstein, teil. Es waren etwa 80 Mädchen und Jungen, die sich dieser Prüfung unterzogen. Ich brachte sie zu dieser Veranstaltung und holte sie auch wieder ab. Nach diesen sieben Stunden war sie doch recht abgekämpft. Ziel der Voreignungsprüfung war es, künstlerisch talentierte Schüler zu finden und Maßnahmen zu ihrer Förderung einzuleiten.

Anfang März schrieb Rosemarie an den Rechtsanwalt Vogel in Berlin. Auch dieser Brief wurde nicht beantwortet.

Wir hatten uns einige Zeit zuvor für den 5. März einen Termin für ein Gespräch in der Abt. Innere Angelegenheiten des Rates der Stadt Magdeburg geben lassen. Das Gespräch war für 11 Uhr angesetzt. Kurz vor diesem Zeitpunkt traf ich mich mit Rosemarie vor der Hauptwache. Hier am Alten Markt befand sich die Abt. Innere Angelegenheiten. In den wenigen Minuten, die wir noch bis zu unserem Termin hatten, berichtete Rosemarie mir von einem Gespräch mit ihrem Abtteilungsleiter, welches sie kurz nach Dienstbeginn mit ihm hatte. In diesem Gespräch informiert er Rosemarie darüber, dass sie ab dem 11. März als Mitarbeiterin in die Labordiagnostik umgesetzt werde! Diese Maßnahme entsprach einer Strafversetzung.

Wenige Sekunden vor 11 Uhr betraten wir das Zimmer 18. Hier erwarteten uns als „Gesprächspartner“ der Abt. Innere Angelegenheiten eine jüngere Genossin und ein Genosse, nicht mehr ganz so jung. Sie, die Genossin, erklärt gleich zu Beginn des Gespräches: „Mein Mann ist auch Doktor! Ihm käme so ein Ansinnen, die DDR verlassen zu wollen, nie in den Sinn!“

Wir ließen diese Aussage unbeantwortet im Raum stehen und konfrontierten sie mit der vom Versorgungszentrum geplante Strafversetzung Rosemaries. Unsere „Gesprächspartner“ nahmen im Gegenzug diese Information ebenfalls ungerührt zu Kenntnis! Der Schlagabtausch dauerte ca. eine Stunde, auf beiden Seiten wieder die gleichen, aber entgegengesetzten Meinungen, Argumente und Standpunkte.

„Sie haben zu diesem Schritt keinerlei Recht! Geben Sie sich damit zufrieden und achten Sie in Zukunft darauf, dass Sie nicht strafrechtlich belangt werden“, ließen sich die Genossen vernehmen. „Was verstehen Sie unter strafrechtlich belangen?“ war meine Frage, worauf sie antwortete: „Der Staat hat für seine Bürger eine Sorgepflicht und wir können nicht zulassen, dass Sie sich ins Unglück stürzen!“ „Wenn wir in die Bundesrepublik übersiedeln, dann stürzen wir uns doch nicht ins Unglück“, erwiderte Rosemarie. „Sie, Frau Bode, hätten ja als Apothekerin eine Chance. Dagegen Sie, Herr Bode, haben überhaupt keine Möglichkeit eine Arbeit in ihrem Beruf zu finden. Sie werden froh sein, wenn Sie die Straße fegen dürfen. Nehmen Sie also ihr Gesuch zurück!“

Auf unsere Frage, woher sie denn das mit unseren Berufen so genau weiß, antwortete sie: „Das müssen Sie uns schon zutrauen, dass wir dazu unsere Informationen haben!“

„Das ist ja schön, dass meine Frau nach Ihrer Ansicht eine Tätigkeit als Apothekerin erhalten würde, aber mein Beruf ist Ingenieur und diese Berufsgruppe wird bis jetzt immer noch gesucht, also machen Sie sich darüber keine Gedanken!“ war meine Antwort.

Sie versuchten dann noch einmal zu kontern: „Bei hartnäckigen Antragstellern sind auch schon, wegen Behinderung der Arbeit der Behörden, Gerichtsverfahren mit der Verurteilung zu zwei bis drei Jahren Gefängnis ausgesprochen worden!“ Ende dieser Drohung.

Es war für uns wichtig, dass wir nie ein solches Gespräch beendeten, ohne unseren festen Willen zur Ausreise aus der DDR nochmals bekundet zu haben.

Ich äußerte mich also zum Schluss nochmals mit folgenden Worten: „Wir werden das Gesuch auf Ausreise nicht zurückziehen und es so lange stellen, bis unserem Ausreiseersuchen stattgegeben wird!“ „Für die Folgen haben Sie dann selber aufzukommen“, versuchten die Genossen uns zum wiederholten Male einzuschüchtern. Damit war das „Gespräch“ beendet.

Rosemarie hat das Gespräch so erregt, dass sie zum Schluss sehr starke Magenkrämpfe bekam und wir die Sanitätsstelle des Rates der Stadt aufsuchten, wo ihr ein Beruhigungsmittel gegeben wurde.

Die Aufregungen waren damit für diesen Tag aber noch nicht zu ende, denn Rosemaries Chef sagte ihr kurz vor Feierabend, dass er bis morgen wissen möchte, ob sie der angekündigten Umbesetzung zustimmt! Zu Hause haben wir das Für und Wider aller möglichen Antworten abgewogen und uns entschlossen, dass Rosemarie am nächsten Vormittag ihrem Chef sagt, sie werde sich erst mit dem Vorsitzenden der Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) besprechen. Was sie dann auch tat.

Nach Dienstschluss rief Rosemarie von zu Hause den BGL-Vorsitzenden an. Er war empört und meinte: „Sie können Einspruch erheben. Ich werde mich belesen, auch über die Bezahlung. Von einem Änderungsvertrag ist mir nichts bekannt!“

Am nächsten Tag, während ihres erneuten Telefonats mit ihm, erhielt Rosemarie folgende Antwort: „Die Frist von drei Monaten lt. §49(2) des Arbeitsgesetzbuches (AGB) gilt nicht, da mit Ihnen vor Weihnachten gesprochen und die Strukturveränderung und Umbesetzung angekündigt wurde. Sie bekommen da kein Recht. Bitten sie noch einmal über ihren Chef um ein Gespräch beim Direktor. Ich kann Ihnen nicht helfen!“ Ende des Telefonats. Der Herr BGL-Vorsitzende war zurückgepfiffen worden!

Nachdem wir uns beraten hatten, kamen wir zu dem Entschluss, dass Rosemarie vor ihrer Zustimmung erst einmal den Änderungsvertrag sehen will.

Einen Tag später, es war der in der DDR stets mit viel Blumen, Konfekt und zum Teil auch Alkohol, begangene „Internationale Frauentag“, informierte Rosemarie ihren Chef wie folgt: „Ehe ich meine Zustimmung gebe, möchte ich erst einmal den Änderungsvertrag sehen!“ Daraufhin wurde sie zum 12. März zu einem Gespräch mit dem Direktor des Versorgungszentrums bestellt. Hier erfuhr sie vom Direktor folgendes: „Durch Änderung der Struktur und des Stellenplanes der Abt. AMH ist für sie eine betriebliche Umbesetzung zum 12. Juni dieses Jahres notwendig!“

Nun war es plötzlich nicht mehr der 11. März, sondern erst der 12. Juni. Die Begründung für die Umbesetzung sollte arbeitsrechtlich verschleiern, was in Wirklichkeit einer Bestrafung für das Stellen des Ausreiseantrags entsprach.

Mitte März war Rosemaries Tante aus Nürnberg zu Besuch bei ihrer Schwester, Rosemaries Mutter. Aus Anlass dieses Besuches machten wir drei am 17. März, es war ein Sonntag, mit der Tante einen Ausflug zum Wartberg. Der Wartberg, genauer der Große Wartberg, ist mit seinen 145,50 Meter die höchste Erhebung in der Magdeburger Börde und damit gut 100 Meter höher als die mittlere Höhe von Magdeburg.

Bei gutem Wetter hat man einen schönen Überblick auf das östlich bzw. südöstlich gelegene Magdeburg, dessen Dom mit seinen 99,25 Meter bzw. 104 Meter hohen Türmen in ca. elf Kilometer Entfernung als dominanter Punkt hervorsticht. Leider war das Wetter schlecht, sodass wir kaum etwas sahen und weiter zum Rasthof Börde fuhren. Hier besuchten wir kurz den Intershop und fuhren dann, zum Kaffeetrinken nach Hause. Weiter unten werden wir sehen, was dieser harmlose Ausflug für Aktionen der Sicherheitsorgane auslöste.

Am 6. März waren in der SED Tageszeitung „Neues Deutschland“ in großer Aufmachung Namen von ehemaligen DDR-Bürgern aufgeführt, die vor einiger Zeit in die Bundesrepublik übergesiedelt waren und nun wieder in der DDR leben wollten und entsprechende Anträge gestellt haben sollen.

Dieser Umstand veranlasste am 20. März den Direktor der Sektion 9 und am selben Tag, etwas später, den Leiter des Wissenschaftsbereiches 3 (WBL 3) mich zu sich zu rufen und meine Meinung darüber zu erfragen. Meine Äußerung dazu fiel recht kurz aus, denn ich sagte beiden Genossen: „Die Meinung dieser Leute muss man akzeptieren, was an unserem Ausreisewillen aber nichts ändert!“ Ende der Aussage!

Hierzu folgende Bemerkung [13.] 79

»1986 registrierte das MfS - bezogen auf den Zeitraum Januar 1984 bis Ende April 1985 - 543 "Rückkehrwünsche". Diese Zahl steht in einem eklatanten Widerspruch zur Propagandakampagne des Neuen Deutschland vom März 1985, das mit der Schlagzeile "Über 20.000 Ehemalige wollen in die DDR zurück" versucht hatte, Ausreisewillige zu verunsichern und den am "Zurückdrängungsprozeß" beteiligten Funktionären neue Argumente zu liefern.«

In den Betrieben und Institutionen wurde für die Ausreisewilligen ein „Betreuer“ benannt. Dieser Betreuer hatte die Aufgabe, den Ausreisewilligen in immer wiederkehrenden Gesprächen von seinem Vorhaben, die DDR verlassen zu wollen, abzubringen. Wie aus unserer OPK-Akte der Stasi zu ersehen ist, wurde über das Gespräch vom Sektionsdirektor eine Aktennotiz angefertigt und an die Kaderleitung geschickt. Von dort gelangte diese Notiz dann beim zuständigen Bearbeiter der Staatssicherheit. In meinem Fall war der Sektionsdirektor mein „Betreuer“!

Zu meinem Geburtstag bekam ich eine Karte von den unbefristeten Mitarbeitern des Wissenschaftsbereiches 3 – Regelungstechnik und Prozesssteuerungen – und dass trotz Ausreiseantrag. Hier der Text:

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag verbunden mit den besten Wünschen, daß sich Ihre Hoffnungen, Vorstellungen und Pläne so schnell wie möglich erfüllen werden sowie vor allem beste Gesundheit übermitteln Ihnen die unbefristeten Mitarbeiter J. -----, R. -----, R. -----; T. -----, S. ----- Magdeburg, 22.03.85«

Worüber ich mich sehr gefreut hatte! Ich war sehr beeindruckt und gerührt, dass die junge Kollegin und ihre drei Kollegen mir, dem zum Klassenfeind erklärten, damit ihre Sympathie zum Ausdruck brachten! Heute bin ich mir nicht mehr so sicher, ob es auch von allen Beteiligten so gemeint war, wie von mir angenommen!

Nach langen Überlegungen unterschrieb Rosemarie den ihr am 6. März angekündigten Änderungsvertrag vom 25. März:

Ȁ n d e r u n g s v e r t r a g

Werte Kollegin Bode!

Bezugnehmend auf unser Gespräch am 12. 03. 1985 erhalten Sie mit Wirkung vom 12. 06. 1985 einen Änderungsvertrag als "Mitarbeitender Apotheker" im Fachgebiet Labordiagnostik in der Agnetenstr. 24.

Begründung:

Durch Änderung des Struktur- und Stellenplanes der Abteilung Arzneimittelherstellung des Pharmazeutischen Zentrums Magdeburg/Wolmirstedt ist eine betriebliche Umsetzung notwendig. (§ 49 des AGB) …«

Die angebliche Notwendigkeit einer Änderung der Struktur und des Stellenplanes der „Arzneimittelherstellung“ (AMH) war nichts anders, als die arbeitsrechtliche Verschleierung der Strafe, die vom Direktor und seinen Mitstreiterinnen, Rosemarie für das Stellen des Ausreiseantrags zugedacht war!

Einer Einladung der Hochschule Burg Giebichenstein folgend, fuhren unsere Tochter und ich am 3. April zu um 14 Uhr in den Gobelinsaal des Kulturhistorischen Museums. Hier wurden nun die mit Spannung erwarteten Ergebnisse des Voreignungstests vom 19. Februar in feierlicher Form verkündet. Von den drei möglichen Prädikaten „besonders geeignet“, „geeignet“ und „bedingt geeignet“, erhielt unsere Tochter das Prädikat „bedingt geeignet“. Zu dem Voreignungstest waren ca. 80 Mädchen und Jungen angetreten, nur fünfzehn davon bestanden diesen Test! Somit durfte sie am Zeichenzirkel der Hochschule Burg Giebichenstein teilnehmen. Der erfolgreiche Abschluss dieses Zeichenzirkels war die Voraussetzung ihrer Teilnahme an der Eignungsprüfung zur Zulassung als Studentin an der Hochschule, die ja noch in weiter Ferne lag.

Am Sonntag, dem 5. Mai, wurde unsere Tochter in der Evangelischen Hoffnungsgemeinde am Neustädter See konfirmiert. Neben ihren Omas hatte sie eine Klassenkameradin eingeladen. Für diese war der Besuch eines Gottesdienstes eine völlig neue Erfahrung. Rosemarie hatte aus Anlass der Konfirmation, wie es bei uns üblich war, vor dem Haus weißen Sand und Tannengrün gestreut, was unsere Tochter sehr in Erstaunen versetzte und sie es sehr schön fand.

Einen Tag später schickten wir unser 5. Gesuch auf Übersiedlung an die Abt. Innere Angelegenheiten des Rates der Stadt Magdeburg, nun auch noch von unserer Tochter unterschrieben.

Am 17. Mai nahmen wir einen Tag Urlaub, um mit unserer Tochter, aus Anlass ihrer Konfirmation, mit dem Städte-Express „Börde“ in zwei Stunden und siebzehn Minuten nach Berlin-Lichtenberg zu fahren. Da die Waggons noch Abteile hatten, die durch Schiebetüren abgeschlossen waren, meinte unsere Tochter freudig: „Ich wollte schon immer einmal mit solch einem »Zimmerzug« fahren!“ Wir besuchten das Hugenotten-, das Pergamon- und das Altägyptische Museum. Durch die vergebliche Suche nach einem Hotelzimmer, verpassen wir den planmäßigen Städte-Express in Richtung Magdeburg! Hatten aber doch noch Glück, da ca. 30 Minuten später noch ein Entlastungszug eingesetzt wurde, sodass wir doch noch sehr gut in Magdeburg ankamen.

Noch saß ich in einem Einzelzimmer im E-Gebäude, welches durch das Abtrennen des Flures in der ersten Etage entstanden war. Es wurde mir nach meiner Ernennung zum Oberassistent zugewiesen. Nur mein Amtsanschluss war zwischenzeitlich gesperrt worden. Ich konnte also nur noch Telefonate innerhalb der Hochschule führen, wovon ich aber kaum noch Gebrauch machte. Seitdem an der Hochschule bekannt war, dass ich einen Ausreiseantrag gestellt hatte, klingelt mein Telefon kaum noch, aber am Freitag, dem 23. Mai, meldete es sich doch wieder einmal. Ich wurde aufgefordert, kurzfristig zum Sektionsdirektor zu kommen. Dort angekommen, ging dieser mit mir zum Genossen Direktor für Kader und Qualifizierung. Von dem ich anstelle einer Begrüßung zu hören bekam: „Nehmen Sie ihren Ausreiseantrag zurück!“ „Nein!“ war meine Antwort. „Dann haben Sie jetzt die Möglichkeit einem Änderungsvertrag, verbunden mit einer Umbesetzung in die Sektionswerkstatt, zuzustimmen! Wenn Sie nicht zustimmen, d.h. den Änderungsvertrag nicht unterschreiben, wird Ihnen gekündigt werden!“ ließ er sich vernehmen.

Mir blieb nichts anders übrig, als den mir vorgelegten Änderungsvertrag zu unterschreiben, d.h. man hatte schon damit gerechnet, dass ich den Ausreiseantrag nicht zurücknehme und folglich den Änderungsvertrag vorbereitet. Ich wurde damit vom Oberassistenten in einen Ingenieur für das Zentrale Elektroniklager, mit einer Reduzierung des Gehaltes um 40 Prozent, d.h. von 1.670 Mark auf 1.000 Mark, und der Streichung von einem Urlaubstag, zurückgestuft!

Die Tätigkeit beinhaltete vorwiegend Aufgaben, die mit der Inventur von Grund- und Arbeitsmitteln zusammenhingen, z.T. aber auch Aufgaben in der Programmierung.

Einen Tag später richtete ich an den Kaderdirektor folgendes Schreiben:

»Wie Ihnen bereits am 23.5.1985 von mir vorgetragen, bitte ich zu prüfen, ob das mir angebotene Gehalt nicht erhöht werden kann.

Die mir ab Juli 1985 übertragene Arbeit wird den Einsatz meiner ganzen Erfahrung und meines Könnens verlangen, wofür 1000,- M ganz gewiß zu gering angesetzt sind. Dieser Betrag liegt noch unter der Gehaltshöhe, die ich vor 15 Jahren bei Aufnahme meiner Tätigkeit an der TH erhalten habe und in der Zwischenzeit wurden die Gehälter um 150,- M erhöht.

In diesem Zusammenhang möchte ich Sie darüber informieren, daß ich ab Juli 1985 für den Unterhalt meiner vierköpfigen Familie alleine aufkommen muß, da meine Frau aus gesundheitlichen Gründen ihre berufliche Tätigkeit nicht fortsetzen kann.

Ich hoffe auf Ihr Verständnis und einen positiven Bescheid.«

Nachfolgend die Antwort des Kaderdirektors vom 4. Juni:

»… Entsprechend der vereinbarten Arbeitsaufgabe erfolgt die Vergütung gem. RKV80 Hochschulwesen nach Vergütungsgruppe HF III, die eine Spanne von 950,- bis 1.100,- M umfaßt. Mit der für Sie festgelegten Vergütung von 1.000,- M brutto monatlich wurde bereits eine Steigerung gewährt.«

Am 30. Mai schickten wir unser 6. Gesuch auf Übersiedlung an die Abt. Innere Angelegenheiten des Rates der Stadt Magdeburg.

Rosemarie beschäftigte sehr die ihr durch den Änderungsvertrag vom 25. März zugefügte Degradierung von ihrer Funktion als Fachgebietsleiterin zur mitarbeitenden Apothekerin in der Labordiagnostik, aus diesem Grund richtete sie am 29. Mai folgendes Schreiben an ihren Betrieb:

»Hiermit bitte ich darum, mein durch den Änderungsvertrag vom 25.3.1985 bestehendes Arbeitsrechtsverhältnis bis zum 31.12.1985 ruhen zu lassen.

Ich begründe meine Bitte damit, daß ich doch einen größeren Abstand benötige, um von der leitenden Stellung, die ich z.Zt. einnehme, in ein Unterstellungsverhältnis zu einer wesentlich jüngeren Kollegin zu gehen.

Sollte meinem Anliegen nicht stattgegeben werden, bitte ich um Aufhebung meines Arbeitsrechtsverhältnisses zum 30.6.1985.

Bitte teilen Sie mir Ihre Entscheidung mit.«

In einem Gespräch, welches Rosemarie am 3. Juni mit der Genossin Stellvertreter führte, lehnte diese die mit Schreiben vom 29. Mai ausgesprochene Bitte ab. Sie empfahl Rosemarie die Kündigung, als einzige Möglichkeit, einen Ausweg aus der bestehenden Situation zu finden. Daraufhin erneuerte Rosemarie ihre Bitte, sie als mitarbeitende Apothekerin in ihrem bisherigen Tätigkeitsbereich zu belassen. Auch darauf erhielt sie eine abschlägige Antwort, sodass sie, physisch am Ende und verzweifelt, zum 30. Juni, gezwungenermaßen, die Kündigung einreichte:

»Auf Grund meines Schreibens vom 29.5.1985 wurde mit mir ein Gespräch geführt, bei dem mir die Stellvertreterin des Direktors ----- mitteilte, daß sowohl meiner Bitte um ein ruhendes Arbeitsrechtsverhältnis für die Zeit von 6 Monaten, als auch meiner Bitte um Aufhebung meines Arbeitsrechtsverhältnisses nicht stattgegeben werden kann.

Als Ausweg aus der bestehenden Situation wurde nur die Kündigung als einzige Möglichkeit genannt.

Auf meine erneute Bitte, mich als mitarbeitende Apothekerin in meinem bisherigen Tätigkeitsbereich zu belassen, bekam ich eine abschlägige Antwort.

Da die Probleme, die zu meinem Schreiben vom 29.5.1985 führten, somit für mich weiterbestehen, sehe ich keine andere Möglichkeit als die Lösung meines Arbeitsrechtsverhältnisses durch Kündigung zum 30.6.1985.«

Die Kernaussage des Antwortschreibens des Pharmazeutischen Zentrums Magdeburg/Wolmirstedt vom 7. Juni lautete:

»…In unserem persönlichen Gespräch am 3.06.1985 erhielten Sie von mir die Mitteilung, daß seitens des Betriebes einem Aufhebungsvertrag nicht zugestimmt werden kann. Daraufhin wurde Ihrerseits spontan die Frage der Kündigung gestellt, die ich entsprechend AGB beantwortete.

Den Satz aus Ihrem Kündigungsschreiben "Als Ausweg aus der bestehenden Situation wurde mir die Kündigung als einzige Möglichkeit genannt", muß ich daher entschieden zurückweisen.«

Sicher hat sich die Genossin Stellvertreter vorgestellt, wenn wir die Frau Bode richtig in die Enge treiben, dann wird sie ihren Ausreiseantrag zurückziehen und dann kann man ja sehen, wie es weitergeht, aber einzugestehen, dass alle von Seiten des Betriebes gegen Rosemarie betriebenen Maßnahmen nur dem einen Ziel dienten, sie zu tiefst zu demütigen und zu diskreditieren, dazu hatte sie nicht den Mut! Auch war so ein Verhalten nicht Gegenstand des AGB.

Rosemarie unterschrieb das ihr am 11. Juni zugegangene Kündigungsschreiben. Drei Tage später wurde ihr die nachfolgend angeführte Beurteilung ausgehändigt:

»Frau Rosemarie Bode, … war seit dem 15.12.1981 als Fachgebietsleiter in der Abteilung Arzneimittelherstellung des Pharmazeutischen Zentrums Magdeburg/Wolmirstedt tätig.

Sie hat das Arbeitsrechtsverhältnis zum 30.6.1985 gekündigt.

Frau Bode zeigte in der Funktion des Fachgebietsleiters stets eine positive Einstellung zur Arbeit. Sie hat es gut verstanden, die Mitarbeiter fachlich anzuleiten und zu hohen Arbeitsleistungen zu motivieren.

Auf der Basis ihrer jahrelangen Berufserfahrung verfügt Frau Bode über ein breites Spektrum pharmazeutischer Kenntnisse. Sie zeigte sich neuen Entwicklungen gegenüber stets aufgeschlossen und strebte danach, ihr Wissen selbständig zu erweitern und zu vertiefen.

Ihre Arbeitsweise war zielstrebig, sie verfolgte hartnäckig berufliche Aufgaben und Zielstellungen.

Als Leiter war sie ihrem Kollektiv gegenüber kollegial, aber auch offen, wenn es um Lob oder Kritik ging.

Den Mitarbeitern stand sie fachlich aber auch privat jederzeit hilfsbereit zur Seite.

Sie hat in ihrem Kollektiv aktiv den kollegialen Zusammenhalt gefördert.«

An Hand des Kürzels ist zu erkennen, dass der Verfasser ihr unmittelbarer Vorgesetzter war. Eine derart positive Beurteilung für eine Ausreisewillige in dieser Situation zu schreiben, erforderte schon sehr viel Zivilcourage!

Am 24. Juni schrieb Rosemarie erneut an das Pharmazeutischen Zentrum Magdeburg / Wolmirstedt. Sie nahm darin zu dem Inhalt des Schreibens vom 7. Juni wie folgt Stellung:

»Wertes Frl. -----!

Zu Ihrem Schreiben vom 7.6.85, welches ich am 14.6.85 erhielt, möchte ich folgendermaßen Stellung nehmen:

Auf Ihre Mitteilung, daß weder einem ruhenden Arbeitsverhältnis für 6 Monate, noch einem Aufhebungsvertrag vom Betrieb zugestimmt werden kann, war meine spontane Reaktion die Frage nach der Kündigung. Sie verwiesen mich auf die Möglichkeit, die ich nach dem AGB besitze.

Ich weiß nicht, welche andere Möglichkeit Sie für mich im AGB gesehen haben, zu mindest nannten Sie mir keine.

Für das schon im Schreiben vom 29.5.85 aufgezeigte, rein menschliche Problem, konnten Sie mir auch im letzten Gespräch keinen Ausweg zeigen.

Fakt ist, daß ich gerne noch weiter in meinem bisherigen Tätigkeitsgebiet, auch als „mitarbeitende Apothekerin“ gearbeitet hätte.

Der Grund, weshalb das nicht möglich war, ist mir bis heute nicht genannt worden.

Eine Kündigung zum jetzigen Zeitpunkt war nicht in meinem Interesse und ich muß es nochmals betonen, daß Sie mir keinen anderen Ausweg genannt haben.«

Eine Antwort auf dieses Schreiben erhielt Rosemarie nicht. Die Leitung des Pharmazeutischen Zentrums war sicherlich froh, das Problem mit der ausreisewilligen leitenden Apothekerin so gelöst zu haben!

Am 20. Juni schickten wir das 7. Gesuch auf Übersiedlung an die Abt. Innere Angelegenheiten des Rates der Stadt Magdeburg.

Es gab kaum ein Tag, an dem nicht irgendein Ereignis, sei es ein Brief, eine Aussprache, eine Tätigkeit usw. uns im Zusammenhang mit unserem Wunsch, von Deutschland nach Deutschland zu ziehen, konfrontierte bzw. wir aktiv waren, um zu dokumentieren: „Niemand muss glauben, dass wir jemals den Ausreiseantrag zurückziehen!“ So war es auch mit dem 3. Juli, denn an diesem Tag entfernte ich alle Akten aus meinem Einzelzimmer E14 im E-Gebäude und zog offiziell in das Zimmer F12 des F-Gebäudes. Hier saß ich zusammen mit der Leiterin der Ausgabe. Da ich noch nicht offizielle aufgefordert wurde, das Zimmer E14 zu übergeben, nutzte ich es von Zeit zu Zeit als Rückzugsort, denn im Zimmer F12 war es mir teilweise zu turbulent!

Manchmal gab es auch Erfreuliches, so erhielt ich am 4. Juli die Mitteilung, dass mein Gehalt um 30 Mark, auf 1.030 Mark erhöht wurde.

Um uns immer wieder in Erinnerung zu bringen, schickten wir am 11. Juli unser 8. Gesuch auf Übersiedlung an die Abt. Innere Angelegenheiten des Rates der Stadt Magdeburg.

Da wir bei der Ausreise keinerlei Besitz in der DDR zurücklassen durften, mussten wir uns darüber Gedanken machen, was aus unserm Wochenendgrundstück in Wahlitz wird. Dieses Grundstück hatten wir 1976 für 99 Jahre von der LPG in Wahlitz gepachtet. In einem Gespräch am 22. Juli, welches ich mit dem LPG-Vorsitzende über einen Verkauf unseres Wochenendgrundstücks führte, legte ich ihm einen von uns vorbereiteten Kaufvertrag vor. Er unterschrieb und genehmigte damit den Kaufvertrag und sagte: „Erst wollen Sie unbedingt ein Stück Land haben und dann verkaufen Sie es wieder!“ Aber so weit war es ja noch nicht. Noch waren wir froh, das Wochenendgrundstück zu haben, denn zu dieser Zeit wohnten wir dort.

Wie schwer Rosemarie der Verlust ihrer Tätigkeit als Apothekerin gefallen sein muss, lässt sich in ungefähr aus ihren Aufzeichnungen entnehmen, die sie vermutlich im Juli anfertigte:

»Seit dem 15.12.1981 arbeitete ich, (R. B., geb. W.), als Fachgebietsleiter in der Abteilung Arzneimittelherstellung des Pharmaz. Zentr.81 Magd. / Wolmirstedt. Am 6.6.1984 stellte ich mit meiner Familie das Gesuch auf Ausreise in die BRD.

Vier Wochen danach wurde vom Direktor des Pharmaz. Zentrums, seiner Stellvertreterin, die gleichzeitig Parteisekretär ist, der Kaderleiterin, dem Abteilungsleiter und einer mir unterstellten Kollegin mit mir ein 1. Gespräch zu diesem Gesuch geführt. Diese Gespräche wiederholten sich in regelmäßigen Abständen. Sie hatten einen für mich demütigenden, diskriminierenden Charakter.

Im Dez. 1984 wurde mir mitgeteilt, daß ich nicht mehr in der Lage sei, als sozialist. Leiter82 eines Kollektivs tätig zu sein und daß ich mit einer Umbesetzung rechnen müßte, wenn ich von meinem Gesuch nicht zurücktreten würde.

Am 5.3.1985 teilte mir mein Abt.-Leiter mit, daß ich zum 11.3.1985 als „Mitarbeitender Apotheker“ in das FG Labordiagnostik in einem anderen Teil der Stadt umbesetzt werden sollte. Auf meine Frage nach dem Grund erhielt ich keine Antwort.

Auf meinen Einspruch hin, daß mir lt. AGB für die Umbesetzung eine Frist von 3 Monaten zusteht, wurde mit mir am 12.3.1985 wiederum in einem Gespräch mitgeteilt, daß durch Änderung des Struktur- u. Stellenplanes der Abteilung AMH eine betriebliche Umsetzung zum 12.6.1985 notwendig wäre.

Diese Begründung ist nicht zu akzeptieren, da es erstens bis heute keine 2. Planstelle für einen Apotheker im FG Labordiagnostik gibt. Zweitens wurde mit mir am 20.1.1984 eine Weiterbildungsvereinbarung für die Weiterbildung zum Fachapotheker für Arzneimitteltechnologie über vier Jahre abgeschlossen, um mich für den Posten des Leiters im Fachgebiet Augenarzneien zu qualifizieren. Dazu besuchte ich den 1. Teil des Lehrganges unter Leitung von Prof. Dr. ------ vom 6. – 10.2.1984 in Leipzig (Zum 2. Lehrgang im Oktober 1984 wurde ich jedoch nicht mehr delegiert). Drittens: Durch den regelmäßigen Kontakt, den ich in meiner Abteilung, in der ich arbeitete, hatte weiß ich, daß bis heute keine Strukturänderung stattgefunden hat. Die einzige personelle Umbesetzung, die stattfinden sollte, war ich. Meine Nachfolge als Fachgebietsleiter trat meine Stellvertreterin, ein Pharmazie-Ing., an, die dafür extra honoriert wurde. Ein 2. Pharmazie-Ing. wurde zusätzlich eingestellt.

Es war also klar, daß ich auf Grund meines Gesuches strafversetzt werden sollte, zumal das FG Labordiagnostik mit dem größten Teil seiner Herstellung-, Versandt- und Lagerräume in den Kellerräumen einer Apotheke untergebracht ist, in denen beim Hochwasser der Elbe oft 2 x im Jahr das Wasser steht. Durch die extrem schlechten Arbeitsbedingungen herrscht in diesem Fachgebiet stets Arbeitskräftemangel.

Ich war mit dem Arbeitsplatzwechsel nicht einverstanden. Meine Gründe, daß ich mich auf dem Gebiet der Herstellung von Augenarzneimitteln spezialisiert habe und in einer entsprechenden Arbeitsgruppe tätig bin, daß mein 2. Kind im September eingeschult wird und sicher meiner Unterstützung bedarf, daß ich einen längeren Arbeitsweg und schlechtere Arbeitsbedingungen habe und kein gutes Verhältnis zu der Kollegin, die meine Vorgesetzte werden soll und die ich aus vorhergehender Zusammenarbeit kenne, wurde nicht akzeptiert.

Meine Bitte, mich als „Mitarbeitenden Apotheker“ mit entsprechend weniger Gehalt in meinem Fachgebiet zu belassen, wurde abgelehnt.

Da ich aus der Erfahrung, die mein Mann mit der Technischen Hochschule Magdeburg gemacht hatte, wußte, daß mir gekündigt wird, wenn ich den Änderungsvertrag nicht annehme, unterschrieb ich am 25.3.1985 den mir vorgelegt Vertrag.

In sehr deprimierten Zustand bat ich am 29.5.1985 wiederum schriftlich, mein Arbeitsrechtsverhältnis ruhen zu lassen oder es aufzuheben, um Abstand zu gewinnen. Ich benötige ihn, um von der leitenden Stellung in ein Unterstellungsverhältnis zu gehen.

Beiden wurde in einem nachfolgenden Gespräch nicht stattgegeben.

Auf meine nochmalige Bitte, mich als Mitarbeiterin in meinem bisherigen Tätigkeitsbereich zu belassen erhielt ich wieder eine abschlägige Antwort.

Ich bat, mir einen anderen Ausweg zu zeigen. Darauf wurde mir als einzige Möglichkeit nach dem AGB die Kündigung genannt.

Da ich keine andere Möglichkeit sah, aus dieser unwürdigen, demütigenden Situation herauszukommen, löste ich mein Arbeitsrechtsverhältnis durch Kündigung zum 30.6.1985.

Ich erkläre hiermit an Eides Statt, daß die Kündigung zu diesem Zeitpunkt nicht in meinem Interesse lag.«

Diese Aufzeichnungen waren für Rosemarie sicher ein erster, aber notwendiger Schritt, sich von dem Trauma des Verlustes ihrer Tätigkeit als Apothekerin in leitender Stellung zu lösen.

Unsere Tochter benötigte ab September nächsten Jahres eine Lehrstelle. Da es ihr Wunsch war eine Töpferlehre zu beginnen, bewarb sie sich um eine Lehrstelle bei dem „VEB Keramische Erzeugnisse Ilsenburg (Harz)“, aber mit Schreiben vom 22. Juli wurde ihr mitgeteilt, dass sie keine Keramikfacharbeiter ausbilden. Bei weiterem Interesse könnte sie sich an die Berufsschule des „VEB Keramische Werke Haldensleben“ wenden.

Aber zunächst verbrachten wir Vier in der Zeit vom 27. Juli bis 3. August unseren Urlaub in Sagard/Rügen im Haus der Großmutter eines Klassenkameraden unserer Tochter. Die Großmutter besaß ein Gut mit wohl mehr als 100 Hektar Land, welches zu diesem Zeitpunkt eine LPG bewirtschaftete. Zu diesem Gut gehörte eine große Villa mit Park, die die Großmutter aber nicht mehr bewohnte, und eine Kreidegrube, welche ein VEB weiter ausbeutete. In diesem Urlaub besuchten wir die Sehenswürdigkeiten von Rügen und, da das Wetter sehr schön war, badeten wir oft in der Ostsee.

Unser Ziel war es, unseren Kindern noch so viel wie möglich, von dem Land und seiner Geschichte zu vermitteln, in dem wir groß geworden waren. Wir gingen davon aus, dass wir nach unserer Ausreise aus der DDR dieses Gebiet von Deutschland nicht mehr besuchen durften!

Folglich verbrachten wir die restlichen Tage unseres Urlaubs mit Ausflügen in die Umgebung von Magdeburg. So befanden wir uns eines Tages auf der Rückfahrt von Egeln auf der F 81, als ich unser Auto verkehrsbedingt anhalten musste, aber der Fahrer eines große LKWs der Roten Armee dies fast zu spät bemerkte! Sein Fahrzeug kam nur kurz hinter uns zum Stehen, sodass ich im Rückspiegel nur einen Teil dieses riesigen Autos sah! Wir wären nicht die ersten Opfer gewesen, die von einem sowjetischen Militärfahrzeug überrollt wurden.

So manchen Tag wohnten wir auch auf unserem Wochenendgrundstück in Wahlitz. Trotz Urlaub brachten wir uns Anfang August wieder einmal bei der Abt. Inneres des Rates der Stadt Magdeburg in Erinnerung, indem wir ihnen unser 9. Gesuch auf Übersiedlung zukommen ließen.

Den Abschluss unseres Urlaubs bildete ein Aufenthalt in Berlin, den wir an einem Wochenende Mitte August dort verbrachten. Seit Monaten schon hatten wir uns für den Besuch des Fernsehturms angemeldet und erhielten schließlich für den 16. August die Möglichkeit, uns für eine Stunde im Turmrestaurant aufhalten zu dürfen. Wie wir schließlich oben im Restaurant ankamen, war der Turmbereich, in dem sich das Restaurant befand, eine dreiviertel Stunde lang von Nebel umgeben, sodass wir leider nur noch eine viertel Stunde die Aussicht genießen konnten!

Unser nächster Weg führte uns in das Bodemuseum, womit wir für diesen Tag ziemlich ausgebucht waren. Übernachten konnten wir bei unseren Bekannten Marie und Hans-Joachim. Sie wohnten in der Nähe des Kollwitz-Platzes. Hier trafen wir auch unsere Freundin Anna. In den nächsten zwei Tagen zeigten uns unsere Bekannten einige Sehenswürdigkeiten von Berlin (Ost bzw. „Hauptstadt der DDR“). Im Programm war eine Fahrt mit dem Motorschiff über den Gr. Müggelsee, durch die Müggelspree zur Dame, entlang an der Regattastrecke in Grünau, weiter zum Langer See und zurück zum Ausgangspunkt. Am letzten Tag, bevor wir unsere Heimreise antraten, besuchten wir noch den Hugenotten- bzw. Französischen-Friedhof und den Dorotheenstädtischen Friedhof, die Grablege vieler berühmter Persönlichkeiten, dadurch historisch außerordentlich interessant. Auf der Rückfahrt nahmen wir unsere Freundin Anna mit.

Am 22. August erhielt ich gegen Mittag in der Hochschule einen Anruf von unserer Tochter. Sie informierte mich, dass wir einen Brief erhalten hatten, in dem wir aufgefordert werden „Zur Klärung eines Sachverhaltes um 15 Uhr im Volkspolizei-Kreisamt Magdeburg, Abt. Kripo, zu erscheinen!“ Da wir, außer unserer Tochter, zu diesem Zeitpunkt in Wahlitz wohnten, holte ich von dort Rosemarie und unseren Sohn ab, um uns anschließend mit unserer Tochter zu treffen.

Mit etwas gemischten Gefühlen machten wir uns auf den Weg zur Hallischen Straße im Zentrum von Magdeburg. Wir betraten das Volkspolizei-Kreisamt (VPKA) durch das so genannte „Goldene Tor“. Leider kamen wir nicht hierher, um nach der Entlassungsprozedur aus der so ungeliebten DDR-Staatsbürgerschaft durch dieses Tor hinaus in die Freiheit zum Bahnhof und zum Zug in Richtung Westen gehen zu können, nein, uns erwartete eine andere Prozedur, von der wir aber noch nicht wussten, was sie uns bringen würde!

Nachdem wir uns am Eingang bei der Wache gemeldet hatten, wurden wir durch das Vordergebäude über den Hof in ein Hintergebäude geschleust, natürlich in Begleitung eines wachthabenden Volkspolizisten.

Unser Sohn sprach aus, was wir Erwachsenen wohl in diesem Moment dachten, denn er fragte: „Sind wir hier schon im Knast?“ Wir beruhigen ihn, aber ganz sicher waren wir uns selbst nicht. Alle Fenster waren vergittert und viele der Türen waren mit einem Siegel versehen. Das Mobiliar des Zimmers, in welches wir verfrachtet wurden, bestand nur aus einigen Stühlen. Nach einiger Zeit des Wartens wurden wir Erwachsene in ein anders Zimmer befohlen, wo uns die Personalausweise (DPA) mit der Begründung abgenommen wurden: „Wir müssen Sie vor unüberlegten Schritten bewahren!“ Grundlage war eine Polizeiverordnung, nach der der Leiter des VPKA Bürgern die DPAs, bei im Einzelnen aufgeführten Tatbeständen, abnehmen konnte. Da für uns keiner der Tatbestände zutraf, wurde der letzte Absatz:

»… sollte keiner der o. a. Tatbestände zutreffen, dann kann der Minister des Inneren den Leiter des VPKA beauftragen, den betreffenden Personen den Personalausweis zu entziehen …«

(sinngemäß) herangezogen.

Anschließend führte uns der begleitende Volkspolizist über den Hof zurück und lieferte uns in der Abt. Pass- und Meldewesen ab, die sich im Vorderhaus befand. Eine von der Natur etwas stiefmütterlich modellierte Person, wohl weiblichen Geschlechts, in Polizeiuniform, reichte uns Antragsformulare und forderte uns in dem üblichen Volkspolizei-Befehlston auf: „Füllen Sie diese Anträge aus!“ Auf die Frage von Rosemarie: „Wieso sollen wir denn einen Antrag für einen verlorengegangenen Personalausweis stellen? Wir haben doch unsere Ausweise nicht verloren!“ Kam wiederum im Befehlston, der keinen weiteren Widerspruch duldete: „Machen Sie, was ich Ihnen sage und diskutieren Sie hier nicht mit mir!“ Wir drei Erwachsene hatten also keine andere Wahl, als die Anträge auszufüllen! Nach einiger Zeit bekamen wir den PM12 ausgehändigt!

Der PM12 wurde anstelle des Personalausweises ausgegeben, wenn dieser aus politischen Gründen eingezogen worden war, bzw. nach der Haftentlassung. Der Besitzer eines PM12 war faktisch vorverurteilt und unterlag meistens diversen Auflagen, wie z.B. wöchentliche Meldepflicht bei der Polizei, Arbeitsplatzbindung, Verbot die Stadt zu verlassen und ins Ausland zu reisen usw.

Dann waren wir entlassen und konnten gehen. Wir verließen das Volkspolizeikreisamt durch das „Goldene Tor“, aber leider immer noch als Staatsbürger der DDR!

Wenn wir bei den verschiedensten Möglichkeiten nach unserem Personalausweis gefragt wurden, was ja in der DDR häufig der Fall war, und diesen PM12 vorlegten, sah man uns entweder verwundert, zurückhaltend oder auch lächelnd an. Gefragt wurden wir wohl nie, wieso wir einen solchen Ausweis haben. Unsere Tochter fand diesen Ausweis recht nützlich, denn damit kam sie immer in die Disco, auch wenn diese eigentlich schon wegen Überfüllung geschlossen war. Welch eine Wertschätzung!

Am 444. Tag seit unserer Antragstellung, es war ein Sonnabend, waren wir wieder auf unserem Grundstück in Wahlitz. Unser Sohn und sein Freund aus der Nachbarschaft schaukelten und sprangen den ganzen Tag über von der Schaukel ab, dabei muss sich unser Sohn den rechten Fuß verletzt haben. Erst nachdem wir ihn fragten, warum er denn humpelt, zeigte er uns den Fuß und wir stellten fest, dass er ganz geschwollen war. Hoffentlich ist er nicht gebrochen, war unsere Befürchtung! Am Sonntag nahmen wir beide trotzdem den seit langer Zeit geplanten Termin, Besuch der Eisenbahnausstellung auf dem Hauptbahnhof, wahr. Mir war dabei nicht ganz wohl, denn ich musste ihn teilweise tragen, da sein rechtes Bein sehr weh tat! Aber er ließ es sich nicht nehmen, von mir auf die Fahrstände der Dampf- bzw. E-Loks gehoben zu werden. Die Ausstellung war für ihn viel zu interessant. Am Montag ließen wir seinen rechten Fuß röntgen, mit dem Ergebnis, dass der Fußknochen, genauer die drei äußeren Mittelfußknochen, gebrochen waren. Außerdem hatte sich ein Fußknochen zurückgebildet! Folglich wurden der rechte Fuß und der rechte Unterschenkel eingegipst!

Am 28. August schickten wir das 10. Gesuch auf Übersiedlung an die Abt. Innere Angelegenheiten des Rates der Stadt Magdeburg und zwei Tage später wurde unser Sohn Schüler der Polytechnischen Oberschule „Pablo Neruda“ Magdeburg-Nord. Wir mussten ihn fahren, da er ja mit seinem Gips-Fuß-Bein nicht soweit laufen konnte. Er war der Mittelpunkt der Einschulung! Worauf wir gerne verzichtet hätten.

Anfang September entschloss ich mich, ab sofort nicht mehr in dem Einzelzimmer E14, in dem ich als Oberassistent mindesten seit 1980 saß, aufzuhalten. Nun war auch dieser Lebensabschnitt abgeschlossen.

Seit unserer Antragstellung quälten mich wiederholt Magenschmerzen. Meine behandelnde Ärztin war der Meinung, dass meine Probleme mit dem Magen auch psychosomatischer Natur sein könnten, sodass sie mich einen Facharzt für Psychotherapie und Psychosomatik überwies und mir für den 10. September gleich einen Termin besorgte.

Ich begab mich also zum vereinbarten Termin in die Abt. „Gynäkologie, schmerzarme Geburt“ der Medizinische Akademie. Hier erhielt ich einen Fragebogen mit knapp einhundert Fragen, die ich schriftlich zu beantworten hatte, dann konnte ich wieder gehen. Vorher erhielt ich noch einen Termin, genau eine Woche später. Zum angegebenen Termin war ich wieder in der Med. Akademie Abt. „Gynäkologie, schmerzarme Geburt“, diesmal zum Gespräch über die Auswertung der von mir beantworteten Fragen. Der Arzt meinte: „Sie haben am letzten Dienstag die Fragen so beantwortet, wie Sie sich selbst gerne sehen!“ Na, so was, dachte ich mir, sollte ich die Fragen denn so beantworten, wie er es erwartet? Woher weiß ich denn, was er von mir erwartet? In dem nun schon für mich nicht mehr so interessanten Gespräch stellte er mir die Frage: „Sind Sie bedrückt, wenn Sie an ihrem alten Zimmer vorbeigehen?“ worauf ich antwortete: „Darüber habe ich noch nicht nachgedacht!“ Kopfschütteln war seine Reaktion. Wie ich dann nun auch noch auf seine weitere Frage: „Welches sind ihre Lieblingsfarben?“ absolut keine Antwort wusste, soviel er auch nachfragte, war klar, hier konnte mir nicht geholfen werden! Ich war nicht der geeignete Patient für diese Art von Beeinflussung, d.h. damit gegen meine Magenprobleme anzukämpfen. Wir verabschiedeten uns, wobei er von mir sicher dachte, dem ist nicht zu helfen, wenn er nicht einmal seine Lieblingsfarben kennt! Ein Versuch war es aber wert, dachte ich mir und war froh, dass sich meine Ärztin um meine Magenprobleme so kümmerte.

Drei Wochen nach dem Ende der Sommerferien wurde unsere Tochter zum Direktor ihrer Schule bestellt und gefragt, warum sie ihr Zeugnisheft nicht wieder in der Schule abgegeben habe. Der Grund dafür war, dass wir beschlossen hatten, das Zeugnisheft bei uns zu behalten, um es im Falle einer plötzlichen Ausreise nicht erst von der Schule abholen zu müssen! Wer weiß, ob man es uns dann überhaupt ausgehändigt hätte? Es gab, wie nicht anders zu erwarten, eine Verordnung, die besagte, dass das Zeugnisheft in der Schule abzugeben ist, um es dort aufzubewahren! Wie könnte es auch anders sein. Unsere Tochter gab dann am nächsten Schultag ihr Zeugnis im Direktorat ab. Nun war für den Genossen Direktor die Welt sicher wieder in Ordnung!

Ende September schickten wir routinemäßig unser 11. Gesuch auf Übersiedlung an die Abt. Innere Angelegenheiten des Rates der Stadt Magdeburg und Rosemarie schrieb wieder einmal an den Rechtsanwalt Vogel in Berlin. Es war in uns eine innere Unruhe, wir hatten das Bedürfnis immer wieder etwas in unserer Angelegenheit zu unternehmen.

Es war ein Freitag und nach langer Zeit klingelte mal wieder das Telefon. Die Anruferin erklärte mir, dass ich mich sofort bei dem Sektionsdirektor einzufinden hätte. Na, was wird es so Wichtiges sein, dass ich so Hals über Kopf zum Sektionsdirektor, meinem „Ausreisementor“, bestellt werde, war mein Gedanke, aber die Anspannung fiel schnell von mir ab, denn außer allgemeinem Gerede, gab es leider nichts Neues! Sicherlich musste er wieder lt. Maßnahmeplan mit mir ein „Rückgewinnungsgespräch“ führen.

Solange wir noch in Magdeburg wohnten, wollte ich die Zeit nutzen und noch einiges über unsere Vorfahren herausfinden. Mein Vater hatte neben seiner sportlichen Betätigung sehr intensiv Familienforschungen betrieben und uns Brüdern umfangreiche handschriftliche bzw. mit der Schreibmaschine geschriebene Unterlagen hinterlassen.

Die Familie Bode lebte seit 1807 im ca. drei Kilometer von Nordhausen entferntem Sundhausen. Der Großvater meines Vaters, Karl Albert Wilhelm Bischof, war 25 Jahre in diesem Ort Hauptlehre und Kantor. Noch einen Tag vor seinem Tod begleitete er den Weihnachtsgottesdienst auf der Orgel. Für meinen Vater war als Enkel die Einsichtnahme in die Bücher der Evangelischen St. Laurentius Kirche von Sundhausen sicher kein Problem, sodass er die Daten der Bodes über den Zeitraum von mehr als einhundert Jahren relativ einfach zusammentragen konnte.

Die nächsten Daten waren sicher nicht mehr so einfach zu erlangen, denn um an die Orte zu gelangen, wo einst unsere Vorfahren lebten, musste er das Fahrrad und die Eisenbahn nutzen! Auch so manche freie Stunde wurde in dieses Hobby investiert, später wohl auch zum Leidwesen meiner Mutter. Denn der 1807 nach Sundhausen zugezogene Bode kam aus Quedlinburg und war der Sohn aus der Ehe des katholischen Matthias Bode mit der evangelischen Catharina Hermes. Von Quedlinburg führt der Weg zurück zum Kloster Hamersleben, denn laut Taufbuch der Stiftskirche St. Pankratius, eine Basilika aus dem 12. Jahrhundert, des Augustiner-Chorherrenstifts, wurde obiger Matthias am 2. Mai 1748 getauft. Seine Eltern waren Matthias und Anna Elisabeth Bode, geb. Buermeister. Dieser Matthias Bode ist im Kirchenbuch als »Trituratoris - habitantis in immunitate Monasterii« verzeichnet, d.h. vermutlich jemanden der etwas mit dem Dreschen von Getreide zu schaffen hatte und als Bewohner in der Klosterfreiheit und damit frei von öffentlichen Diensten war. Ein Kirchenhistoriker äußerte mir gegenüber, dass es sich vermutlich um den Verantwortlichen für das „Korn bzw. Getreide“, d.h. den „Kornmeister“, gehandelt haben könnte! Aber weiter kam mein Vater nicht in der Ahnenreihe der Bodes, denn es gelang ihm nicht zu ermitteln, woher Matthias und Elisabeth Bode, kamen und wohin sie vom Kloster Hamersleben aus gegangen sind!

Dies war für mich Anlass, in der näheren und weiteren Umgebung von Hamersleben zu suchen, es musste mir doch gelingen, wenigstens die Lebensdaten einer weiteren Generation, deren Namen ja schon bekannt sind, zu finden. Die nächstgelegene katholische Kirchengemeinde lag in Egeln-Marienstuhl. So fuhr ich an einem Sonnabend, wesentlich einfacher mit dem Auto, als es meinem Vater möglich war, zum dortigen Pfarrer. Welcher mich sehr freundlich empfing und mir breitwillig Einsicht in die Kirchenbücher gewährte. Ich fand so einige Bodes, musste aber letztlich feststellen, dass sie leider in keiner Beziehung zu meinen Vorfahren stehen. Es sollten noch viele ergebnislose Versuche folgen.

Am darauffolgenden Sonntag begaben wir vier uns nun auf die Suche der Vorfahren von Rosemaries Vater. Die erste Station war Wolmirstedt. Hier gelang es uns in einer schon recht gefüllten Gaststätte einen Tisch zu ergattern und auch ein Mittagessen zu bekommen. Danach führte uns unser Weg auf die Friedhöfe von Farsleben, Zielitz und Loitsche. Auf dem Letzteren waren die negativen Einflüsse von Salz bzw. Kali, als Folge des benachbarten Kaliwerkes, spürbar. In Zielitz hatten wir das große Glück, mit dem dortigen Pfarrer ins Gespräch zu kommen und dabei etwas über die Vorfahren von Rosemaries Vater, die über mehrere Generationen dort lebten, zu erfahren. Der erste nachweisbare Vorfahr, der Häusler und Zimmergeselle Johann Weihe, heiratete mit etwa 23 Jahren im November 1767 die »Tochter Catharina Maria, des gewesenen Schäfers Röder« aus Zielitz.

Der 1859 in Zielitz geborene Urgroßvater von Rosemarie verließ dieses und ist erstmalig 1886 in Magdeburg-Neustadt nachweisbar. Er schaffte es, sich vom Wagenschieber, wie es auf der Geburtsurkunde seines am 1. Mai 1868 geborenen Sohnes vermerkt wurde, bis zum Rangiermeister auf dem Bahnhof Magdeburg-Neustadt heraufzuarbeiten! Bei meinen Recherchen in den »Adress- und Geschäfts-Handbüchern von Magdeburg« stellte ich fest, dass Rosemaries Urgroßvater in der Zeit von 1886 bis 1915 fünfzehn verschiedene Wohnungsanschriften hatte. In den ersten Jahren wechselten die Anschriften jährlich, was mich sehr verwunderte, bis ich aufgeklärt wurde. Der Urgroßvater mit seiner Familie gehörte zu den sogenannten „Trockenwohnern“. Dazu können wir im Duden folgenden Eintrag lesen, »jemand der in einem Neubau feuchte Räume solange bewohnt, bis sie trocken und für zahlende Mieter bewohnbar sind.«83. Das war sicherlich „Der Not gehorchend!“ finanziell eine Alternative, aber gesundheitlich eine arge Belastung.

In meinem Tagebuch fand ich unter dem 19. Oktober ein Kalenderblatt, mit einem äußerst interessanten Beitrag zum

»Tag der Werktätigen der Leicht-, Lebensmittel- und Nahrungsgüterindustrie. 1985 wird der jährliche Warenverbrauch eines vierköpfigen Haushalts in der DDR durchschnittlich bei 17.700 Mark liegen, und mehr als die Hälfte davon werden Industriewaren sein. … Ein weites Betätigungsfeld für die Entwicklung neuer, qualitativ hochwertiger Erzeugnisse haben die Textil- und Bekleidungsindustrie sowie die Möbelproduktion und die Glas- und Keramikindustrie. Hier haben die schöne Form und die modische Aktualität besonders großen Einfluß darauf, ob die Waren gefragt sind und den Menschen Freude machen. Aus dem Bericht an den X. Parteitag der SED.«

Das 12. Gesuch auf Übersiedlung schickten wir am 18. November an die Abt. Innere Angelegenheiten des Rates der Stadt Magdeburg.

Unsere Tochter hatte herausgefunden, dass es in Harbke einen Töpfer gibt, bei dem sie eine Lehre als Töpferin machen könnte. Zuständig für diesen Töpfer war das Braunkohlenwerk Harbke. Wir richteten also eine Bewerbung für eine Ausbildung unserer Tochter zur Töpferin an die Kaderabteilung des Braunkohlenwerkes. Mit Schreiben vom 18. November teilt uns der »VEB Braunkohlenwerk „Gustav Sobottka“« mit, dass unsere Tochter für die Ausbildung zum Töpfer ausgewählt wurde:

»Die Bewerbungsunterlagen Ihrer Tochter Constance Bode wurden der Bewerberkommission unseres Betriebes vorgelegt und für die Ausbildung als Töpfer bestätigt. Wir beglückwünschen Ihre Tochter zur Wahl des Berufes. Die Unterzeichnung und Ausgabe der Lehrverträge sowie Klärung eventuell auftretender Fragen erfolgt

am03.12.1985
imBKW84 Harbke Kaderabteilung
um09.30 Uhr

Zu dieser Veranstaltung laden wir Sie und Ihre Tochter herzlich ein. … «

Unsere Freude über die Lehrstelle währte nicht lange, denn am 26. November erhielt Rosemarie die telefonische Information vom VEB Braunkohlenwerk „Gustav Sobottka“, dass die Volkspolizei für unsere Tochter keine Einreise in das Sperrgebiet erteilt und damit der bereits zugesagte Lehrvertrag nicht abgeschlossen werden kann. Eine schriftliche Bestätigung der Absage würde folgen.

Am selben Tag schrieb ich folgenden Brief:

»Vorsitzender des Staatsrates der DDR

Herr Erich Honecker

1020 Berlin

Marx-Engels-Platz

Magdeburg, den 26.11.1985

Sehr geehrter Herr Vorsitzender des Staatsrates!

Vor den Herbstferien im Oktober dieses Jahres hat sich unsere Tochter, wie gesetzlich festgelegt, um eine Lehrstelle beworben.

Ende Oktober erhielten wir eine mündliche und mit Schreiben vom 18.11.1985 die schriftliche Zusage, daß unsere Tochter Constance ab September 1986 die Lehre als Töpfer im VEB Braunkohlenwerk 'Gustav Sobottka' Betriebsteil Harbke aufnehmen kann.

Von der Bewerberkommission des Betriebes wurde Constance auf Grund ihrer Vorleistungen – mehrjährige Mitgliedschaft im Volkskunstzirkel (Malerei, Keramik usw.) des MAW85 Magdeburg, Bestehen der Voreignungsprüfung und somit Besuch des Förderzirkels der Hochschule Burg Giebichenstein sowie einem Notendurchschnitt von 1,7 auf dem letzten Zeugnis – für die Lehrstelle als Töpfer ausgewählt.

Mit dem heutigen Tage wurden wir nun telefonisch von der zuständigen Bearbeiterin des o. a. Betriebes darüber informiert, daß Constance die Lehrstelle nicht antreten kann, da ihr die Deutsche Volkspolizei die Einreise in das Sperrgebiet, in dem der Lehrbetrieb liegt, nicht erteilt.

Gründe wurden nicht mitgeteilt.

Wir sind aber davon überzeugt, daß diese Ablehnung mit unserem Gesuch zusammenhängt, welches wir am 6.6.1984 bei der Abt. Innere Angelegenheiten des Rates der Stadt Magdeburg gestellt haben.

In diesem Gesuch bitten wir um die Erteilung der Genehmigung zur Ausreise aus der DDR zwecks Übersiedlung in die BRD, mit dem Ziel der Familienzusammenführung mit dem Bruder meiner Frau.

Dieses Gesuch wurde in einer Aussprache in der Abt. Innere Angelegenheiten am 26.7.1984 abgelehnt.

Seit diesem Zeitpunkt haben wir dieses Gesuch mehrfach schriftlich und auch mündlich wiederholt.

Seit Juni 1984 haben wir einige Maßregelungen über uns ergehen lassen müssen, wie z.B. Entzug meiner Lehrberechtigung und die Androhung der Kündigung zum 31.8.1985, was dann in eine Umbesetzung mit der Reduzierung meines Gehaltes um 40% abgeändert wurde, Umbesetzung meiner Frau innerhalb von Magdeburg mit der Übertragung einer anderen Arbeitsaufgabe, was sie zur Kündigung nach einer über 20-jährigen Tätigkeit im Gesundheitswesen veranlaßt hat, Verhinderung einer gebuchten Urlaubsreise nach Rumänien, Entzug der Personalausweise.

Nun die Verweigerung der Einreise unserer Tochter in das Sperrgebiet und damit Entzug der Möglichkeit für sie, einen Beruf zu erlernen, der ihren Fähigkeiten und Wünschen entspricht.

Wir glauben nicht, daß es im Sinn der von Ihnen vertretenen Politik ist, daß man uns und unseren Kindern, wir haben noch einen 7-jährigen Sohn, einerseits die Übersiedlung in die BRD versagt, aber anderseits jede Gelegenheit nutzt, unser Leben in einer Weise zu beeinflussen, die wenig Hoffnung für unsere Zukunft erwarten läßt, so daß wir eine letzte Möglichkeit in diesem Schreiben an Sie, Herr Staatsratsvorsitzender, sehen.

Sehr geehrter Herr Staatsratsvorsitzender, wir bitten Sie hiermit um Ihre Hilfe und Unterstützung, daß unserem Antrag auf Übersiedlung stattgegeben wird.

Für Ihre Bemühungen bedanken wir uns im voraus.«

Hier eine Bemerkung zu solchen Briefen: [13.]86

»Trotz aller Bemühungen des MfS erhöhte sich kontinuierlich die Zahl der Ausreiseantragsteller und deren Bereitschaft, ihre Anliegen offensiv zu vertreten. Laut Jahresanalysen der ZKG (Zentrale Koordinierungsgruppe. Bekämpfung von Flucht und Übersiedlung) stieg die Zahl der Antragsteller, die im Zusammenhang mit ihrem Ausreisebegehren Schreiben an "führende Persönlichkeiten der DDR" richteten, von rund 28.000 im Jahre 1985 auf 30.000 im Jahre 1986.«

Nachdem ich diesen Brief am folgenden Tag zur Post gebracht hatte, war mir erst einmal wohler. Die mit Spannung erwartete Antwort erreichte uns am 6. Dezember. Nachfolgend die Kernaussage:

»Über den von Ihnen geschilderten Sachverhalt haben wir entsprechend seiner sachlichen Zuständigkeit den Rat der Stadt Magdeburg, Abteilung Berufsausbildung und Berufsberatung, verständigt.

Von dort wird geprüft und Ihnen weiterer Bescheid erteilt. …«

Bis zum Jahresende bekamen wir keinen Bescheid vom Rat der Stadt Magdeburg, Abt. Berufsausbildung und Berufsberatung!

Eine Woche vor Weihnachten brachten wir uns bei der Abt. Innere Angelegenheiten des Rates der Stadt Magdeburg wieder einmal in Erinnerung, indem wir unser 13. Gesuch auf Übersiedlung an sie schickten.

Am 574. Tag unserer Antragstellung, es war Silvester, fuhren Rosemarie und ich mit unserer Freundin Anna im Zug zu unseren gemeinsamen Freunden nach Berlin. Die Fahrt war schon sehr lustig. Abends waren wir im schönen Brechttheater am Schiffbauerdamm. Die Veranstaltung stand im Zeichen von Bertold Brecht und Kurt Weill, mit Gesang von Gisela May. Es war sehr schön. Leider hatte ich mir, wohl durch eine falsche Bewegung beim Hinsetzen, einen Nerv eingeklemmt, was mich im weiteren Verlauf des Abends doch recht behinderte.

79 Seite 42 (46)

80 Rahmenkollektivvertrag

81 Pharmazeutischen Zentrums

82 sozialistischer Leiter

83 Duden - Deutschen Universalwörterbuch – Mannheim, Wien, Zürich: Dudenverlag, 2., völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage 1989

84 VEB Braunkohlenwerk

85 VEB Magdeburger Armaturenwerke „Karl Marx“

86 Seite 40

Der lange Weg in die Freiheit! Deckname

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