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3. Die unsichtbare Front 1984

Während der Jahre, die wir auf die Genehmigung zur Ausreise aus der DDR warteten, beschäftigte sich, wie unten gezeigt, die Staatssicherheit nur wenige Tage nach unserer Antragstellung beginnend, bis Monate, nachdem wir ausgereist waren, unentwegt mit uns. Die Tätigkeiten der Mitarbeiter des MfS waren für uns nicht direkt spürbar, d.h. unsichtbar.

Die Aufgaben des MfS werden in [7.]9 wie folgt beschrieben:

»In der umfassenden Beschaffung von Informationen sah die MfS-Führung im Einklang mit der politischen Führung eine Möglichkeit, den sog. feindlichnegativen Kräften auf Dauer wirksam begegnen zu können. Einbezogen in diese Überlegung waren Maßnahmen zur vorbeugenden Verhinderung, Aufdeckung und Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit. Auch sollten Möglichkeiten der Informationsbeschaffung genutzt werden können, um Versuche „von Bürgern der DDR, die die Übersiedlung nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin zu erreichen“, zu unterbinden und zurückzudrängen, sowie Möglichkeiten für eine „vorbeugende Verhinderung, Aufklärung und wirksame Bekämpfung damit im Zusammenhang stehender feindlichnegativer Handlungen“ zu schaffen.«

Ganz im Sinne der o.a. Aufgaben des MfS wurde am 15. Juni 1984 durch den Offizier des Hauses (OdH) der Kreisdienststelle (KD) Magdeburg unter der Nr. 1622 [1.]10 auf einem Vordruck nachfolgend wiedergegebener handschriftlicher Rapport erstellt:

»Rapport zu Ersuchern auf Übersiedlung in die BRD/WB

Datum: 15.6.84 Uhrzeit: 16.40 Uhr

Wer meldet: Gen. Eckert

Personalien des Antragstellers:

Name, Geburtsname: Bode Dr. Ing.

Entscheidung der Abt. Innere Angelegenheiten

./.

Auftreten des Antragstellers und die Reaktion

Schriftlich am 6.6.84

Maßnahmen der Abt. Inneres

15.6.84 Dr. Bode.

Für sich u. Familie Antrag auf Ausreise aus der DDR zwecks Übersiedlung in die BRD. Beziehen auf die Schlußdokumente KSZE

In der BRD leben Bruder seiner Frau und ihre Tante. Tante hat Frau großgezogen

keine Antwort von Inneres

wollen Beurteilung Einschätzung

Nächste Woche mit ihm Aussprache

WB11 nicht bekannt, koppelt sich seit längerer Zeit ab, B12 1983 nicht bestätigt Lehre-Fernstudium VL-Studenten13 Automatisierungstechnik S. 7 u. 8

etwas engeres VH14 nur zu Dr. M----

Sektionsball am 8.6. kein Hinweis darauf, auch Ehefrau nichts dazu gesagt … S. 2 S-----15, C----- ehemalige RK16 S. 6 Dr. H----- ZV - Bode im MOP17 Planung drinne [sic!18] Frau Apothekenwesen Vorsitzender HGL -Kommission - Gesundheits- u. Arbeitsschutz sitzt alleine in einem Zimmer

Anlage 3 WS Mgb 0017-129/84

Reg. Nr. 1622 bei Abt. Inneres«

Nach dem Inhalt muss der Informant wohl aus meinem näheren Umfeld gewesen sein! Meinen Aufzeichnungen kann ich entnehmen, dass an dem Freitag, nach dem wir den ersten Antrag gestellt hatten, der Sektionsball stattfand. Da das Stellen des Antrags bis jetzt nur ein Thema unter uns und unserer Tochter war, hatten wir natürlich auch keine Person, schon gar nicht aus dem Umfeld der Hochschule, darüber informierten.

Das nächste Schriftstück, ebenfalls handschriftlich, der Abt. XX/3 an Ref.19 1 Gen. Major A-----, ist vom 19.6.84 [1.]20:

»Versuch zur Übersiedlung in die BRD

Am 6.6.84 stellte der Dr. BODE, Helmut … Oberassistent TH Mgb. bei der Abt. Inneres RdSt21 Mgb. einen Antrag zur Übersiedlung in die BRD Der Antrag wurde für die gesamte Familie gestellt, unterschrieben hat nur er

Seine Ehefrau … ist Mitarbeiterin im Versorgungszentrum Pharmazie und Medizintechnik der Stadt Mgb

Es existieren 2 Kinder ge. -------------

Alle Personen nicht erfaßt.

An THM22 war die Antragstellung bisher nicht bekannt. Seitens der TH wird z Z eine Beurteilung des Dr B erarbeitet u eine Aussprache ist mit ihm für den 25 od. 26.06.84 vorgesehen Ziel Rücknahme.

Vertrauenspersonen zur Rückgewinnung gibt es nicht.

Wir bitten prüfen zu lassen

Ist die Antragstellung im Arbeitsbereich bekannt?

Wenn nicht, so umgehend Verbindungsaufnahme zur Kdr Abt.23 der THM empfehlen zur Abstimmung gemeinsamer Maßnahmen!

Gab es Anzeichen, die auf Antragstellung hinweisen?

Gibt es Vertrauenspersonen zur Einflußnahme auf die Bode

GVS VVS24 Probleme

Vorstellungen zur Arbeitsumsetzung, wenn notwendig?

Sind Aussprachen mit ihm geplant?

Sind ihre Motive bekannt?

Bitte um Rückinfo bis 25.06.84 15.00 Uhr

Ref Ltr XX/3«

Auf der zweiten Seite des o.a. handschriftlichen Berichtes ist ein Handzettel mit den Abmessungen 10 x 10 cm festgeklammert. Dieser Zettel enthält den Namen meines großen Bruders! Und einige Begriffe, deren Bedeutung sich mir nicht erschließt, aber, was wir beim ersten Lesen der Akten in Berlin mit Befriedigung feststellen konnten, war noch folgendes vermerkt:

»subj. Nichteignung 1984 ins Archiv; Dixbiona 2571; Gallrein 2770«.

Wie war es zu diesem Zettel gekommen. Hier das Wenige, was ich meinem Bruder entlocken konnte, auch nach so vielen Jahren ist er nicht gewillt sich mehr darüber zu äußern! Er wurde auf seiner Arbeitsstelle angerufen und bekam zu hören: „Stellen Sie keine Fragen und machen Sie nur das, was Ihnen gesagt wird. Kommen Sie sofort zum Eingang, Sie werden erwartet.“ Er wurde von zwei Personen empfangen und in einen PKW verfrachtet. Nach einiger Zeit hielt der Wagen, er musste aussteigen und wurde in ein Haus, eine (konspirative) Wohnung und schließlich in ein Zimmer geführt. Hier versuchte man ihn dazu zu bewegen, sich zu verpflichten, über uns ständig zu berichten! Dieses Ansinnen wies er zurück, sodass er schließlich zurückgebracht wurde.

Einige Zeit später starteten die MfS-Schergen einen weiteren Versuch, meinen Bruder als Informant gegen uns zu gewinnen, diesmal in einer anderen Wohnung! Aber er blieb auch diesmal wieder standhaft und lehnte dieses Ansinnen ab!

Über diese Begebenheit hätte er, in seinem eigenen Interesse, Stillschweigen zu bewahren! Seine Weigerung, einer Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit gegen uns zuzustimmen, drückt sich ganz sicher in dem Vermerk »subj. Nichteignung« aus!

Immer wieder, wenn ich mir diese Situation versuche vorzustellen, bewundere ich meinen Bruder für seine Standhaftigkeit, diesen „doch so um unser aller Wohl besorgten“ Stasileuten gegenüber! Er ließ sich nicht einschüchtern!

Es gelang der Stasi nicht, einen IM in den Kreis unserer Familie oder Freundeskreis einzuschleusen. Dafür gab es aber Personen aus dem Kollegenkreis oder aus dem Haus, in dem wir wohnten, die sich dazu berufen fühlten der Stasi, vermutlich ohne Aufforderung, als Informant oder Denunziant anzubiedern. Dazu später mehr.

Nach [9.]25 gab es Ende 1989 im Stadtgebiet von Magdeburg

»47 konspirative Wohnungen« und wie »im März 1990 … vom Koordinationsstab der Bürgerkomitees aus dem Zentralcomputer des MfS-Berlin« ermittelt, lag die Anzahl »für den gesamten Bezirk bei knapp 500« konspirativer Wohnungen!

Im Wochenbericht der Abt. XX vom 22. Juni, Abschnitt 3.4. „Sicherungsbereich“ (SB) Hochschulen [2.]26 wird der Inhalt des Rapports vom 15. Juni zunächst in verkürzter Form wiedergegeben. Neu ist, dass sogenannte VSH27-Vermerke über BRD-Kontakte aufgeführt sind und

»Lt. Ifo des Gen. OSL28 -----------, BdVP29 v. 10.6.80 hatte B. folgende Einreisen aus der BRD:

1972, 74, 77,78 und 80

Der B. muß gem. DA 1/80 in Abt. XII30 KK31 erfaßt und in ZPDB32 eingespeichert werden. Dazu ist dem Ref. AuI33 eine aufbereitete Gesamtinformation und MKM-Auskunft34(?) zu übergeben.

Maßnahmen:

B. wurde in SLK35 erfaßt und Ehefrau in VSH36 eingelegt.«

Aus dem o.a. Wochenbericht ist zu entnehmen, dass sich der Genosse Oberstleutnant, er wohnte im gleichen Haus wie wir, als Informant der Staatssicherheit entpuppt, in dem er sich Daten über Besucher von Mitbewohnern beschaffte und diese an die Stasi meldete. Das geschah im Juni 1980, also zu einer Zeit, wo wir eigentlich noch als unbescholtene Bürger hätten gelten müssen. Auch wohnten wir erst ab September 1976 in diesem Haus. Da stellt sich doch die Frage, hatte dieser Oberstleutnant der

„Deutschen Volkspolizei“ nichts anderes zu tun oder war er aus tiefer Überzeugung ein Denunziant? Wenn ich mich recht erinnere war er später Oberst!

Er hielt es sicher als guter und aufmerksamer Genosse für seine Pflicht die Anwesenheit von Bundesbürgern zu meldete. Vielleicht war es ihm auch unangenehm, mit solchen Leuten, wenn auch nur vorübergehend, unter einem Dach zu wohnen! Dass er dann, nach der Wiedervereinigung, falls er sie erlebt hat, auch noch Bürger dieser Bundesrepublik Deutschland wurde, muss ihn wohl tief getroffen haben.

Die Möglichkeiten sich diese Daten zu besorgen, waren sicherlich zahlreich. Eine davon war ja auch der Blick in das Hausbuch. Im Hausbuch waren alle Bewohner des Hauses mit ihren relevanten Daten eingetragen.

Besucher von außerhalb der DDR mussten sich innerhalb von 24 Stunden bei dem Hausvertrauensmann melden und wurden in das Hausbuch eingetragen. Bei Besuchern aus der DDR war die Staatsmacht etwas großzügiger, denn diese mussten sich erst melden, wenn sie länger als drei Tage blieben. Der Genosse OSL war aber nicht der Hausvertrauensmann.

Der Hausvertrauensmann hätte eigentlich das Buch dem OSL, als Mitbewohner, gar nicht aushändigen dürfen, falls er es gemacht hat! Der Hausvertrauensmann genoss eigentlich das „Vertrauen der Mitbewohner“, aber das wachsame Auge der Partei ließ solche Bedenken nicht zu, auch kommt hier die Grunddevise der Partei- und Staatsführung „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!“ ins Spiel. Man traute seinen Bürgern nicht und wie sich später herausgestellt hat, traute man auch nicht den Genossen der Volkspolizei, denn auch die waren ja von IMs unterwandert.

Die Verantwortlichen der hier immer wieder zitierten Hauptabteilung XX der Bezirksverwaltung Magdeburg des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) trauten wohl auch nicht den Genossen und Genossinnen der Sektion Marxismus-Leninismus der Technischen Hochschule bzw. Technischen Universität „Otto von Guericke“!

Für uns einfache Mitarbeiter der Hochschule galten die Vertreter besagter Sektion als diejenigen, die ohne „Wenn und Aber“ hinter der Politik der Partei- und Staatsführung standen und sie in Wort und Schrift verbreiteten, auch in den zu unserem Verdruss monatlich durchgeführten politischen Schulungen, die wir über uns ergehen lassen mussten! Die Sicherheitsgenossen sahen es so wohl auch, denn ihrer „abschließenden operativen Bewertung“ vom 20. Mai 1989 in [8.] [8.][8.][8.]ist zu entnehmen, dass sie

»fest zur Partei stehen und schöpferisch versuchen, die Parteipolitik umzusetzen«.

Dieser doch aus Sicht der Partei- und Staatsführung positiven Bewertung ist aber weiter zu entnehmen, dass die Sektion

»zur Zeit 50 wissenschaftliche Mitarbeiter«

hat und dass dort

»5 IMS des Referats XX/8 sowie 5 IM der anderen Diensteinheiten tätig« sind! [8.][8.]37

D.h. von den 50 wissenschaftlichen Mitarbeitern, die als „Inkarnation der Lehre des Marxismus-Leninismus“ galten, waren zehn IMs! Ist das nicht toll! Die totale Überwachung kannte eben keine Grenzen.

Ich denke, wenn sich ein Mitarbeiter des MfS im Spiegel angesehen hat, glaubte er, ihm steht ein Klassenfeind gegenüber! Das MfS war aber letzten Endes nicht, wie fortwährend ausposaunt „Schwert und Schild“, sondern „Haue und Schaufel“ [10.]38 der Partei, wie die Ereignisse Ende des Jahres 1989 gezeigt haben.

Soviel zum OSL und Co, ich werden später auf einen weiteren „liebenswerten“ Mitbewohner unseres Hauses zurückkommen. Nun möchte ich aber weiter über das unermüdliche Schaffen der Mitarbeiter der unsichtbaren Front, im Volksmund auch „VEB Horch und Guck“ oder „VEB Sicherheitsnadel“ genannt, im Zusammenhang mit unserem Wunsch, von Deutschland nach Deutschland zu verziehen, berichten.

Nur so viel noch, dass es heute wieder selbstverständlich ist und auch keiner etwas dabei findet, wenn jemand seinen Wohnsitz in das Ausland verlegt. Höchst verwunderlich ist aber, dass einer von denjenigen meines ehemaligen Wissenschaftsbereiches, die sich am abfälligsten über mein Vorhaben, die DDR zu verlassen, geäußert hat, nach der Wende seinen Wohnsitz in die Schweiz verlegte! „Was kümmert mich das Gerede von gestern!“ Wir wollten ja nur von Deutschland nach Deutschland!

Bereits am 28. Juni vermerkt ein Hauptmann der Abt. XX/AuI [2.]39

»Durch op40 Kontrollmaßnahmen und KMK [1.]41 -Auskunft wurden nachstehende persönliche und postalische Kontakte zu Verwandten in der BRD bekannt«.

Die Aufzählung hätte unserem Adressbuch entstammen können, d.h. es waren alle Personen aus der Bundesrepublik erfasst, mit denen wir ständig oder auch nur vorübergehend einmal Briefkontakt hatten. Für diese Art der Beschaffung von Informationen durch das MfS gab es die „Abt. M“42, die für die Postkontrolle zuständig war. Postkontrolle, das hört sich so einfach an, aber so ist es natürlich nicht, denn da hatten sich die Sicherheitsgenossen so richtig etwas einfallen lassen.

Nach [7.]43 war die Postkontrolle in Magdeburg, dies galt aber wohl auch für die gesamte DDR, wie folgt organisiert: Angefangen damit, dass die Entleerer der Briefkästen von 1975 bis 1987 Mitarbeiter des MfS in Postuniform waren, wurden die Briefe einer äußeren und einer inneren Begutachtung unterzogen.

»Die äußere Betrachtung wurde vor Ort in den Gebäuden der Deutschen Post in der sog. „Stelle 12“ durchgeführt. Diese befand sich zunächst einheitlich im Hauptpostamt Magdeburg. Ab 1984 wurde sie bezüglich der eingehenden internationalen Postsendungen in das Bahnpostamt Schönebeck verlegt, während sie hinsichtlich der nationalen und der ausgehenden internationalen Sendungen im Hauptpostamt verblieb. Die innere Betrachtung der Briefsendungen fand insgesamt in der Walther-Rathenau-Straße 88 in Magdeburg statt.«

Unter dieser Adresse war die Kreisdienststelle des MfS zu finden, wenn sie denn jemand gesucht haben sollte!

Die innere Begutachtung setzte das Öffnen der Briefe voraus. Der Inhalt wurde gelesen und gegebenenfalls als Information erfasst. Befanden sich Schmuck, Wertgegenstände oder Geld in den Briefen, so wurde dieser Inhalt einbehalten und der Rest des betreffenden Briefes vernichtet! Waren beim Öffnen Spuren an den Briefen entstanden, die sich nicht beseitigen ließen, wurden auch diese Briefe vernichtet!

Mit der Postkontrolle waren in der „Abt. M“ in Magdeburg ca. 150 MfS-Mitarbeiter und -Mitarbeiterinnen beschäftigt! Oder hätte ich besser sagen sollen, MfS-Genossen und MfS-Genossinnen.

»An die „Stelle 12“ gelangten täglich zwischen 20.000 und 30.000 Briefe, die dort einer näheren Betrachtung unterzogen wurden. Zur Bearbeitung standen den Mitarbeitern zwölf Stunden zur Verfügung, bis zu deren Ablauf Briefe, die keiner weiteren Untersuchung unterzogen werden sollten, dem Postbetrieb wieder zuzuführen waren.« [7.]44

Es waren mit der „Abt. M“ völlig neue Berufszweige geschaffen worden, wie z.B. Briefbeschauer, Brieföffner, Briefentleerer, Briefinhaltleser, Briefseitenkopierer, Briefinhaltunterschlager, Briefvernichter, Briefverschließer, Brieföffnungsspurenbeseitiger. Auf die Angabe der weiblichen Berufsbezeichnungen habe ich hier verzichtet, die ehemaligen MfS-Mitarbeiterinnen mögen mir verzeihen!

Was werden sich diese Briefgeheimnisverletzerexperten dabei gedacht haben? Vorausgesetzt, dass sie dies überhaupt taten! Waren sie etwa davon überzeugt, dass sie mit dieser, auch gegen die Gesetzte der DDR verstoßenden Tätigkeit, die DDR vor dem Klassenfeind schützen?

Nun weiter in unserer persönlichen Angelegenheit.

Einen Tag zuvor, d.h. am 27. Juni, hatte derselbe Mitarbeiter aus der „Kreismeldekartei der Abt. Pass- und Meldewesen des Volkspolizeikreisamtes“ (KMK) Angaben über uns zusammengestellt und in die „Zentralen Meldekartei“ (ZMK) übertragen. [2.]45

Es scheint als hätten die Sicherheitsgenossen nun erst einmal unseren Fall auf Wiedervorlage gelegt, denn erst am 20. Dezember verfasste der Mitarbeiter Schlichtiger der Diensteinheit XX/8 der BV Magdeburg des MfS unter der Reg.-Nr. VII 22/85 den

Ȇbersichtsbogen zur operativen Personenkontrolle Decknamen "WAL-PURGIS": [1.]46

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Gründe für das Einleiten

Am 06.06.84 stellte der B. für sich und seine Familie beim Rat der Stadt Magdeburg, Abt. Inneres einen Antrag zur Übersiedlung in die BRD zur familiären Zusammenführung mit der Tante ---- Gemäß Verordnung zur Regelung von Fragen der Familienzusammenführung vom 15.09.83 handelt es sich um eine unberechtigte Antragstellung.

Zielstellung der OPK

Klärung der politischen Einstellung des Ehepaares B. zur sozialist.47 Gesellschaftsordnung in der DDR

Erarbeitung von Hinweisen auf Vorbereitungshandlungen zum ungesetzlichen Verlassen der DDR und deren Verhinderung

op. Kontrolle über Verhalten, Auftreten, Kontaktbeziehungen und Aktivitäten zur Verwirklichung der Vorstellungen zur Übersiedlung in die BRD …

Eingesetzte IM/GMS

GMS „Richard“ VII/1572/??

GMS „Waldemar“ VII/43??/??«

Die hinter dem Decknamen „Waldemar“ verborgene Person ist mir aus meiner jahrelangen Tätigkeit an der Technischen Hochschule bzw. Technischen Universität bekannt, und dass es sich bei ihm um einen sogenannten „150-prozentigen“ Genossen handelt, war auch kein Geheimnis, alles andere natürlich nicht. Es wurde immer nur geraunt: „Bei dem musst du vorsichtig sein!“ Wie Recht doch der Volksmund hatte.

Wir werden immer wieder auf diese Akte über die „Operative Personen-Kontrolle“ (OPK) „Walpurgis“ zurückkommen. Was hatte den Genossen der Stasi veranlasst, der Akte den Decknamen „Walpurgis“ zu geben?

Ich glaube kaum, dass die heilige Walpurgis48, sondern viel mehr die nach ihr benannte Walpurgisnacht49, d.h. die Nacht zum 1. Mai und die damit verbundene Sage „In der Walpurgisnacht“50 Pate für diesen Decknamen gestanden hat. Nach dem Volksglauben kommen in dieser Nacht die Hexen auf Reisigbesen, Mistgabeln oder Krücken geflogen, um sich zum lustvollen Gelage des Teufels, ihres Meisters und Gebieters, auf dem Hexentanzplatz oberhalb der von der Bode gebildeten tiefen und steilen Schlucht zu versammeln. Wo sie dann mit

»viel Lärm und Gekreische Tänze um die züngelnden Flammen des Höllenfeuers vollführen.«

Aus dem Zusammenhang Bode, Hexentanzplatz und Walpurgisnacht wurde dann sicher der Deckname „Walpurgis“ gewählt.

Am 20. Juni, also vierzehn Tage nach unserer Antragstellung, verfasste eine Vertretung für den Referats Leiter der Abt. XX/3 der BV Magdeburg des MfS einen handschriftlichen Rapport: [2.]51

»Am 15.06.84 17.00 Uhr wurde unsere DE52 durch den ODH der KD Magdeburg die Antragstellung zur Übersiedlung in die BRD mit Familie durch den

Dr. Bode, Helmut …

Oberassistent, TH Mbg.; Sektion Technische Kybernetik / Elektrotechnik

bekannt. Der Antrag wurde am 6.6.84 bei der Abt. Inneres R. d. St. Mbg53. schriftlich gestellt.

Ehefrau BODE geb WEIHE, Rosemarie …

Apothekerin im Versorgungszentrum Pharmazie und Medizintechnik Magdeburg

TochterBode, …
alle 3 Personen Abt. XII nicht erfaßt.
SohnBode, …
Alle Personen wh. Mbg. Salvador-Allende-Str.

Seitens Abt. Inneres wurde der Antrag entgegengenommen eine Auskunft wurde Bode nicht gegeben, auch wurde dazu noch keine Aussprache geführt.

Am 18.06.84 wurde die THM von Abt. Inneres über die Antragstellung informiert. Der Antragsinhalt ist unsere DE bisher nur Auszugsweise bekannt. …

Unterschrieben hat nur Bode selbst.

An der TH war im Arbeitsbereich bis zum 18.06.84 nichts über die Antragstellung bekannt.

B. war mit Familie vom 24.9.79 bis 8.2.80 als AK54 in der VR Mocambique tätig. Seine Zurück Ziehung erfolgte offiziell aus gesundheitlichen Gründen. Inoffiziell ist bekannt, das [sic!] Bode u. Ehefrau in der VRM55 kleinbürgerlich, überheblich u. egoistisch aufgetreten sind. Dadurch wurde ein weiterer Einsatz unmöglich.

Z. Zeit ist Bode als Lektor für Vorlesungen in der Lehre eingesetzt. Bereits seit 1983 arbeite er an dem bedeutsamsten Forschungsthema der THM (Pyrolyse) mit. Sein Kenntnisstand bezieht sich jedoch bisher nur auf VD56-Unterlagen. Bezüglich der Pyrolyseforschung war Bode im Juni 84 zur VVS57-Bestätigung vorgesehen. Diese Bestätigung sollte nun erfolgen wenn er seine umfangreichen NSW58-Kontakte einschränkt. Dazu war eine Aussprache mit ihm geplant, die noch nicht stattfand. Von der bevorstehenden VVS-Bestätigung hatte er jedoch Kenntnis. Dr. B. wurde Mitte 1983 die Promotion B wegen ungenügenden fachlichen Leistungen abgelehnt.

Bei ihm ist seit einigen Monaten eine deutliche Zurückziehung vom Kollektiv festgestellt worden. Dr. Bode ist Mitglied des FDGB u der HGL Er ist im Rahmen der MOB 59 Planung der NVA für eine spezifische Funktion vorgesehen. (welche konkret muß noch geklärt werden). ---

Eingeleitete Maßnahmen

Erfassung Bode, Ehefrau u Tochter im SV 82/61 (v. Ltr. DE OPK60 angewiesen)61

Einleitung KO62 Abt M63 u. PZF64

F1065: Überprüfung der NSW-Verwandten u. Bekannten.

Ifo an XX/1 zur Ehefrau, um in ihrem Betrieb Aussprachen zu organisieren

THM erarbeitet Beurteilung bis 21.6.84 und übergibt diese an Abt. Inneres.

Erstes Gespräch mit B. am 25. od. 26.6.84 an THM durch Kdr. Leiter, HGL und SD66 mit dem Ziel der Rücknahme des Antrages.

Sofortige Verhinderung der Übergabe weiterer Informationen zur Pyrolyse.

Vorbereitung arbeitsrechtlicher Maßnahmen an der THM bei Nichtrücknahme.

Einsatz eines IM67 der Abt. XV68 u. eines GMS69 von XX/3 zur Kontrolle der Reaktion des Bode auf die Gespräche u. der Stimmung im Arbeitskollektiv.

Verhinderung der VVS-Bestätigung.«70

Hier einige Bemerkungen zu dem Satz:

»Dr. B. wurde Mitte 1983 die Promotion B wegen ungenügenden fachlichen Leistungen abgelehnt.«

Die Promotion B beinhaltete die Erstellung einer Dissertationsschrift zur Erlangung es akademischen Grades „doctor scientiae technicarum“ (Dr. sc. techn.). Die Arbeiten dazu begann ich nach unserer, aus gesundheitlichen Gründen, verfrühten Rückkehr aus Moçambique und den sich anschließenden gesundheitlichen Rehabilitationsmaßnahmen.

Ich war fasziniert von der Idee, dass eine großtechnische Anlage, welche durch sein „Technologisches Schema“ beschrieben wird, mit den Mitteln und Methoden der Graphentheorie, unter Einsatz von Rechnern, so zerlegt werden kann, dass an diesen Teilsystemen der Entwurf dezentraler Regelungen möglich wird.

Leider habe ich diesen Zusammenhang in meiner Arbeit nicht eindeutig herausgearbeitet und seine Gültigkeit nicht wissenschaftlich bewiesen, was meine Aufgabe gewesen wäre. Die im Mai 1982 eingereichte Arbeit wäre eine Grundlage für die Diskussion mit meinem Betreuer und anderen Kollegen zu diesem Thema gewesen, d.h. sie war noch nicht als fertige Dissertationsschrift geeignet!

Die in der nachfolgenden Zeit von mir zu der in der Arbeit behandelten Thematik geführten Untersuchungen sowie Gespräche mit Kollegen und hierbei ganz besonders auf dem Ende Oktober 1982 an der TH Ilmenau stattgefundenen 27. Internationalen Kolloquium, brachten mich zu der Überzeugung, dass die Arbeit von mir zu früh eingereicht worden war.

Folglich bat ich in einem Brief vom November 1982 den Rektor der Technischen Hochschule Magdeburg, dass ich die Arbeit zu o.a. Thema zurückziehen kann. Aufgrund vorliegender Gutachten und meiner Bitte, empfahl im Januar 1983 die Promotionskommission das Promotionsverfahren B nicht weiterzuführen.

9 Dokumente – Teil 1, Seite 14, Absatz 7.

10 Seite BStU 026 bis 028

11 WB: Wissenschaftsbereich, Teil einer Sektion

12 Promotion B: Wissenschaftliche Arbeit zur Erlangung des akademischen Grades „doctor scientiae technicarum“ (Dr. sc. techn.)

13 Direktstudium

14 Vermutlich „Verhältnis“

15 war nicht Angehöriger der S. 2, sondern der S. 1 (Sektion Marxismus-Leninismus)

16 Reisekader

17 MOP, richtig MOB: Mobilmachung

18 [sic!]: so steht es wirklich da

19 Referat

20 Seiten BStU 029 und 030

21 Rat der Stadt

22 Technische Hochschule Magdeburg

23 Kaderabteilung

24 GVS: Geheime Verschluss-Sache; VVS: Vertrauliche Verschluss-Sache

25 Seite 18 bis 19

26 hier Sicherungsbereich

26 Seite BStU 012 bis 015

27 Vorverdichtungs-, Such- und Hinweiskartei (MfS) - wichtige Kartei der konspirativ tätigen Diensteinheiten

28 Oberstleutnant

29 Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei

30 Abteilung XII: Personenregistratur und Archiv (ab 1951), NATO und Europäische Gemeinschaft (ab 1971)

31 Kerblochkarte - Erfassung von Personen nach Merkmalskategorien (z. B. Beruf)

32 Zentrale Personendatenbank (MfS) - rechnergestützt; 1980 aufgebaut

33 Auswertung und Information

34 Vielleicht sollte es ja „KMK: Kreismeldekartei in den Abteilungen Paß- und Meldewesen der Volkspolizeikreisämter“ heißen!

35 Sichtlochkarte - des Informationsspeichers operativer Diensteinheiten; zur Recherche nach Sachverhalten

36 Vorverdichtungs-, Such- und Hinweiskartei (MfS) - wichtige Kartei der konspirativ tätigen Diensteinheiten

37 Teil IV, Seite 52

38 Symbolisch für Totengräber, neben dem Sarg, dessen Werkzeuge!

39 Seite BStU 007

40 operative

41 Seite BStU 035

42 Siehe auch [12.]

43 Lfd. Nr. 1-1, Seite 35

44 Lfd. Nr. 1-1, Seite 36

45 Seite BStU 008

46 Seite BStU 006

47 sozialistischen

48 Schwester des heiligen Willibald, gestorben um 778 / 780 als Äbtissin des Klosters Heidenheim bei Eichstätt und als Beschützerin vor Zauberkünsten verehrt.

49 Am 1. Mai, vermutlich im Jahre 870, wurde Walpurgis durch Papst Hadrian II. heiliggesprochen, daher der Name „Walpurgisnacht“

50 In „Sagen aus dem Harz“ Herausgeber: Kurverwaltung Thale, 1977

51 Seite BStU 003 bis 006

52 Diensteinheit

53 Rat der Stadt Magdeburg

54 Auslandskader - Person, die sich dienstlich längere Zeit im Ausland aufhielt

55 Volksrepublik Moçambique

56 Vertrauliche Dienstsache

57 Vertrauliche Verschlusssache

58 nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet

59 Mobilmachung

60 Operative Personenkontrolle

61 Bemerkung am Seitenrand

62 Kontrollobjektakte

63 Überwachung von Brief- und Paketverkehr

64 Post- bzw. Paketzollfahndung (MfS) - ab 1984 Bereich der Abteilung M

65 Formular zur Feststellung von Personenerfassungen

66 Sektionsdirektor – Abkürzung aus dem Bereich der Universitäten und Hochschulen

67 Inoffizieller Mitarbeiter des MfS

68 Abteilung XV (Aufklärung)

69 Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit

70 Die im wiedergegebenen Text fehlenden Satzzeichen, fehlen auch im Original!

Der lange Weg in die Freiheit! Deckname

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