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2. Der Antrag und die 2. Hälfte des Jahres 1984

Es war das erste Wochenende des Monats Juni. Rosemarie hatte Sonnabend von 9 bis 13 Uhr in der zentral in Magdeburg gelegenen Rats-Apotheke Dienst. Vorwiegend im Handverkauf, wo die Schlangen in der Offizin nicht abrissen! Anschließend begann, in der gleichen Apotheke, bis Sonntag 13 Uhr, ihr Bereitschaftsdienst.

Nachmittags war ich noch einmal kurz bei ihr in der Apotheke, ehe der gewöhnlich am frühen Abend einsetzende Patientenstrom, mit Rezepten von den ärztlichen Bereitschaftsdiensten, ihre volle Zeit und Konzentration in Anspruch nehmen würde. Bis zum Mittag des Sonntags hatte sie dann ca. einhundertachtzig Rezepte abgegeben bzw. Rezepturen angefertigt, sodass an Schlaf nicht zu denken war.

In diesen etwa 30 Minuten haben wir uns endgültig entschlossen, für uns und unsere Kinder einen Antrag auf ständige Ausreise aus der DDR zu stellen. Unsere 15-jährige Tochter war in dieses Vorhaben bereits einbezogen und wir hatten ihre volle Zustimmung. „Wenn Ihr es jetzt nicht macht, dann mache ich es, wenn ich 18 bin!“ war ihr Kommentar. Dabei haben wir uns noch gedacht, na so lange werden wir ja wohl nicht mehr hier sein! Wir sollten uns noch wundern.

Uns war klar, der Weg, der nun vor uns lag, war nicht einfach, aber, wir wollten ihn gehen! Der Entschluss war nun gefasst, sodass wir am Mittwoch, dem 6. Juni 1984, nun endlich unser Gesuch an den Rat der Stadt Magdeburg, Abt. Inneres, aufsetzten:

»Gesuch auf Übersiedlung in die BRD

Hiermit stelle ich für meine Familie und mich den Antrag auf Ausreise aus der DDR zwecks Übersiedlung in die BRD. Wir beziehen uns hierbei auf die Schlußdokumente des Madrider Treffens über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.

In der BRD leben der Bruder meiner Frau und ihre Tante, die meine Frau in der Kriegs- und Nachkriegszeit, an Kindes Statt, großgezogen hat und zu der meine Frau eine tiefe innere Bindung hat.

Wir sehen mit der Uebersiedlung in die BRD, auf Grundlage o.a. Schlußdokumente, eine Möglichkeit der familiären Zusammenführung, zumal die Tante im Alter auf unsere Unterstützung rechnet.«

Am darauffolgenden Tag brachte ich das Schreiben, ich muss schon sagen, mit recht gemischten Gefühlen, zur Post. Damit war aus dem Entschluss Realität geworden!

Am Freitagabend dieser Woche fand unser Sektionsball im Herrenkrug statt, an dem wir, wie jedes Jahr zuvor, teilnahmen. Es kam bei uns beiden, wie sonst zu diesem Anlass üblich, keine rechte Stimmung auf. Der Ausreiseantrag und die daraus resultierenden Folgen bedrückten uns, ob wir es uns nun eingestehen wollten oder nicht, sehr!

Am Dienstag, dem 19. Juni, wurde Rosemarie als Erste von uns, nach fast 14 Tagen bangen Wartens, zu einer Aussprache im Betrieb aufgefordert. Eigentlich war es keine Aussprache, wie es unter vernünftigen Menschen üblich ist, sondern ein Kreuzverhör, welches etwa wie folgt ablief.

Rosemarie gegenüber saßen die Genossin Stellvertreter in Vertretung für den Direktor des Versorgungszentrums Pharmazie und Medizintechnik Magdeburg, die Genossin Kader sowie der Leiter der Abteilung Arzneimittelherstellung (AMH) und eine Mitarbeiterin des von Rosemarie geleiteten Fachbereiches Galenik II in der AMH.

Die Genossin Kader eröffnete das Kreuzverhör: „Wie stellen Sie sich das mit Ihrer Ausbildung zum Fachapotheker vor?“ „Ich muss abwarten, ob meinem Antrag stattgegeben wird. Da ich die Hoffnung habe, dass ihm stattgegeben wird, wäre es zwecklos weiter zu machen!“ erwiderte Rosemarie. Nun ließ sich die Genossin Stellvertreter verlauten: „Das sind absurde Gründe!“

„Für mich nicht!“ erwiderte Rosemarie und äußerte weiter: „Ich trage mich schon länger mit dem Gedanken, dass es einen Weg geben wird, wo ich offiziell übersiedeln kann. Ich wollte es nicht klammheimlich machen. Die Möglichkeit dazu hatte ich, z.B. in Lissabon während des Zwischenstopps der Maschine der Airline von Moçambique auf dem Flug von Berlin nach Maputo zu einem Einsatz meines Mannes an der dortigen Universität, im September 1979. Zu meiner Tante besteht eine starke Bindung und ich möchte noch ein paar Jahre mit ihr zusammenleben. Ich habe deshalb den Antrag gestellt, zu ihrem 70. Geburtstag zu fahren. Ich dachte, dass ich so die Möglichkeit hätte sie zu besuchen, da sie krank und hinfällig wird und ihr die Reise schwerfällt. Mein Antrag wurde aber abgelehnt!“

„Schon vom Betrieb, da ihre Tante nicht Verwandtschaft ersten Grades ist!“ war die Erwiderung der Genossin Kader. Nun schaltete sich die Genossin Stellvertreter wieder ein: „Haben Sie dem Kollektiv etwas gesagt?“ „Nein“, antwortete Rosemarie, „es weiß keiner.“ „Ihr Chef ist ebenso überrascht!“ empörte sich die Genossin Stellvertreter und fragte: „Ist es von der ganzen Familie überlegt und keine Kurzschlusshandlung?“ „Ja!“ war die kurze Antwort von Rosemarie.

Dann überschlugen sich die Stimmen der beiden Genossinnen: „Sie sind nicht mehr in der Lage, das Kollektiv nach Prinzipien des Sozialismus zu leiten, fachlich ja. Die Befähigung ein Kollektiv leiten zu können hört auf, wenn Sie den Antrag stellen und nicht erst, wenn Sie die DDR verlassen!“

Darauf erwiderte Rosemarie: „Ich habe keine politischen Gründe, nur familiäre. Ich wäre hier bereit bis zum Schluss meine Pflicht als Leiter zu erfüllen!“

Nun versuchte es die Genossin Stellvertreter auf die versöhnliche Tour: „Überdenken Sie sich das, Sie können den Antrag zurückziehen, er wird wahrscheinlich abgelehnt!“ „Ich“, sagte Rosemarie, „will erstmal abwarten und habe die Hoffnung, dass meinem Antrag stattgegeben wird. Ich würde ihn wahrscheinlich immer wieder stellen. Das muss ich abwarten.“

Die Genossin Stellvertreter ließ sich nun wieder vernehmen: „Wir haben ihre Personalien überprüft, Sie haben keine familiären und finanziellen Schwierigkeiten, eine gute Ausbildung, auch gute Arbeit, Sicherheit, auch für die Kinder! Alles aufgeben, nur wegen einer alten Tante die Existenz aufgeben?“

Worauf Rosemarie erwiderte: „Ich habe auch einen Bruder in der Bundesrepublik!“ „Davon ist uns nichts bekannt!“ war die Reaktion der Genossin Kader.

Die Genossin Stellvertreter ergriff wieder das Wort: „Die Verantwortung für Ihre Kinder! Haben Sie sich das überlegt?“

„Ich hatte die Verantwortung schon einmal“, war Rosemaries Antwort, „und zwar in Afrika, da sind wir in Krieg und Hunger geschickt worden. Es war zwar unsere freie Entscheidung, aber man hatte uns doch nicht alles gesagt. Wir haben versucht, dort unsere Pflicht zu tun, d.h. zu helfen. Diesmal will ich ja nicht nach Afrika! Ich hoffe, dass ich drüben auch wieder Fuß fasse. Die Tante ist nicht unbemittelt.“

Nun musste sich doch noch einmal die Genossin Kader einschalten: „Ob ihre Tochter mit den Problemen drüben fertig werden wird?“ „Ja“, meinte Rosemarie, „für unsere Tochter wird es schwierig, da wir wissen, wie es mit den Lehrstellen ist, aber hier ist es auch schwierig! Unser Sohn ist besser dran. Wir haben das erwogen!“

Nach ca. 30 Minuten hatte Rosemarie ihr erstes „Gespräch“ in dieser Angelegenheit überstanden.

Einen Tag später trat ich mit gemischten Gefühlen meine lange geplante Dienstreise nach Eisleben zu einer Tagung an. Womit sich die Tagung beschäftigte, weiß ich heute nicht mehr, nur, dass eine junge, schwangere Ingenieurin daran teilnahm und ich mir so dachte: »Der Staat, in dem sie ihr Kind zur Welt bringt, wird es als sein Eigentum ansehen und am liebsten, wie Rosemarie zu sagen pflegte: „Mit einem Stempel, Eigentum der Deutschen Demokratischen Republik, versehen.“«

Aber, diesem Schicksal entging das Kind, denn, als es in die Schule kam, gab es diesen Staat nicht mehr, den hatten die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger der Deutschen Demokratischen Republik mit ihrem Ruf: „Wir sind das Volk!“ hinwegdemonstriert! Im Demonstrieren hatten sie ja genügend Erfahrung und Routine, aber diese Art zu demonstrieren war von einer neuen, nicht ungefährlichen Qualität für die herrschende SED-Clique.

Es war übrigens meine letzte Dienstreise als wissenschaftlicher Oberassistent.

Ende Juni war die Information über unseren Ausreiseantrag auch in meiner Arbeitsstelle, der Technischen Hochschule „Otto von Guericke“, eingetroffen, denn ich wurde am Montag, dem 25. Juni, in einem kurzen Gespräch von dem Leiter meines Wissenschaftsbereiches und dem Vertrauensmann der Gewerkschaftsgruppe befragt: „Stimmt es, dass Sie einen Ausreiseantrag für sich und Ihre Familie gestellt haben?“ Worauf ich nur kurz mit „Ja“ antwortete! Ich wurde darüber informiert, dass ich am nächsten Tag im Direktorat für Kader der TH zu erscheinen hätte.

Ich sah mich, bei dieser sogenannten Aussprache, einer Gruppe von fünf Personen gegenüber. Es handelte sich um die Genossin Sekretär, in ihrer Funktion als Vertreterin des Kaderdirektors, den Genossen Direktor der Sektion Technische Kybernetik und Elektrotechnik (TK/ET), den Genossen Leiter des Wissenschaftsbereichs (WB 3) dem ich angehörte, den Genossen Vertreter des Vorsitzenden der Sektionsgewerkschaftsleitung sowie um eine weitere Person, deren Name und Funktion ich in meinen Aufzeichnungen nicht vermerkt habe!

Von Beginn an trat besonders aggressiv die Genossin Sekretär mit solchen Aussagen wie: „Sie verraten mit diesem Schritt, den Sie sich wohl nicht richtig überlegt haben, unser sozialistisches Vaterland!“ auf. Aus ihrer Haltung und Gestik war Empörung und Unverständnis, vielleicht auch Wut, zu erkennen, dass es Menschen gibt, die ihre schöne DDR verlassen wollen.

„Sie liefern dem menschenverachtenden und kriegslüsternden kapitalistischen System in der BRD Ihre Kinder aus!“ setzte sie ihre Ausführungen fort.

Da musste ich wohl doch erst einmal etwas richtigstellen, denn ich erwiderte: „Sie hatten aber keine Skrupel, mich 1979 mit meiner Familie nach Moçambique zu schicken, wo Krieg, Hunger, Not sowie Mord und Terror herrschten!“ Was die Genossin noch mehr erregte, sodass sie nichts dazu erwiderte, sondern mir wütend entgegnete: „Sie haben überhaupt kein Recht, ein derartiges Gesuch zu stellen!“

Die Genossin Sekretär führte nun ihr stärkstes Argument auf, wie sie wohl glaubte, denn sie ließ verlauten: „Für den Fall, dass Sie nicht sofort dieses ungesetzliche Gesuch zurücknehmen, werden wir Ihnen zum 31. August 1985 kündigen!1

Da war es, dass „kein Recht haben“, was wir in Zukunft immer wieder hören mussten und uns bestärkte, nicht nachzugeben. Wir waren also rechtlose Bürger dieses Arbeiter- und Bauern-Staates Deutsche Demokratische Republik mit dem Genossen Honecker und seinem Politbüro an der Spitze!

„Dieser Entscheid wird in der sich anschließenden Versammlung der Gewerkschaftsgruppe, der Sie ja noch angehören, verkündet werden!“ waren ihre abschließenden Worte. Was dann auch geschah.

In der sich anschließenden Gewerkschaftsversammlung wurde ich vom Direktor der Sektion TK/ET, sowie von meinem unmittelbaren Vorgesetzten, in zutiefst demütigender Weise diffamiert! Es wurde der Versuch unternommen, mich zu einem schädlichen Subjekt abzustempeln, z.B. durch folgende Äußerungen: „Er hat in seiner bisherigen Tätigkeit das Kollektiv und die Sektionsleitung bewusst getäuscht!“ bzw. „Er hat das Vertrauen der Sektionsleitung und des Kollektivs missbraucht!“

Neben dem Genossen Sektionsdirektor und den drei Hochschullehrern des Wissenschaftsbereiches fühlten sich vier Kollegen, wohlgemerkt Kollegen und nicht Genossen, veranlasst, ihre besondere Treue zur Partei- und Staatsführung dadurch zum Ausdruck zu bringen, in dem sie sich, ohne dass sie aufgefordert waren, über mich und mein Vorhaben ausließen, als hätte ich sie persönlich beleidigt und angegriffen.

„Auf so einen Gedanken, würde ich nie kommen!“ ließen sie sich in der einen oder anderen Form vernehmen. Hieran werden sich diese Herren, falls sie noch dazu in der Lage sind, ganz sicher nicht mehr erinnern! Ihre Namen hat der gewissenhafte Genosse Sektionsdirektor in einer Aktennotiz, siehe Kapitel 3, festgehalten. Diese Aktennotiz ist dann, wie könnte es anders sein, bei der Stasi, Hauptabteilung XX2, gelandet und somit heute ein historisches Dokument.

Die Äußerungen dieser Herren, müssen für einen Teil der restlichen Mitglieder der Gewerkschaftsgruppe so schlimm gewesen sein, dass sich anschließend eine Kollegin aus dem Zeichenbüro mit den Worten entschuldigte: „Ich habe mich zutiefst geschämt und gewünscht, dass Sie nicht dabei gewesen wären!“

Mir wurde ab sofort, d.h. ab dem 26. Juni, jegliche Tätigkeit in der Lehre und Forschung sowie der Kontakt mit Studenten untersagt, was auch für die Betreuung der von mir geleiteten drei Diplomverfahren galt. Ich durfte also die Diplomarbeiten, die am 30. Juni abzugeben waren, nicht mehr beurteilen, für die Diplomanden sehr problematisch.

Von diesen letzten Diplomanden setzte einer sein Studium bis zur Promotion fort! Er lud mich dann im September 1988 zum Abschluss seines Promotionsverfahrens, mit der Begründung ein, dass ich derjenige war, der bei ihm die Grundlagen dafür gelegt hätte. So sagte er es auch in seiner Dankesrede im Anschluss der Verteidigung. Mich hat das sehr beeindruckt!

Zwei Tage später wurde ich zum Sektionsdirektor vorgeladen. Er teilte mir die neuen Arbeitsaufgaben wie folgt mit: von 7 bis 12 Uhr Unterstützung der Werkstatt der Sektion bei der Durchführung der Grundmittelinventur, nachmittags Übernahme der Hausmeisterfunktionen im Gebäude „E“. In diesem Gebäude war der Wissenschaftsbereich „Regelungstechnik und Prozesssteuerungen“, dem ich ja offiziell noch angehörte, untergebracht. Ursprünglich war in diesem Gebäude seit etwa 1905 die erste private höhere Mädchenschule von Magdeburg, das Elisabeth-Rosenthal-Lyzeum, untergebracht.

In der nächsten Zeit hatte ich das Gefühl, als hätten sich die Genossen abgesprochen, mich täglich mit ihren Aussprachen zu konfrontieren. Als erstes wurde ich telefonische aufgefordert beim Vorsitzenden der HGL3 zu erscheinen. In dem sich daraus ergebenden Gespräch äußerte er u.a.: „Entweder du ziehst den Antrag zurück oder deine Tochter darf in den Ferien nicht mit in die Sowjetunion fahren!“

Es handelt sich um eine Ferienreise ausgesuchter Kinder der Technischen Hochschule in die Sowjetunion. Unserer Tochter war diese Reise fest zugesagt worden. Die Antwort auf diese Erpressung ist mir aber nicht schwergefallen, denn entsprechend dem Friedrich II. zugeschriebenen Ausspruch: „Entreißt alles was ihr könnt dem Zufall, durch eure Voraussicht!“, hatten wir dieses Problem längst mit ihr besprochen. Folglich lehnte ich dies in ihrem Sinne sofort ab. Daraufhin wurde die bereits erteilte Zusage von der HGL für die Teilnahme unserer Tochter an der SU-Reise zurückgezogen! Strafe muss sein, auch wenn es ein Kind bzw. eine Jugendliche betrifft.

Am ersten Montag im Juli wurde ich wieder einmal zum Sektionsdirektor vorgeladen. Er forderte mich erneut auf, den Antrag zurückzunehmen. Was von mir wiederum abgelehnt wurde. Darauf teilte er mir mit, dass ich nun nicht mehr Mitglied der HGL sei und ich sämtliche gewerkschaftlichen Unterlagen, die ich als Vorsitzender der HGL - „Kommission für Gesundheits- und Arbeitsschutz“ hatte, abgeben müsse.

Eine derartige Äußerung bzw. Entscheidung durfte er mir gar nicht machen, denn ich war von den Kolleginnen und Kollegen in die HGL gewählt worden! Der Genosse Sektionsdirektor war gewerkschaftlich ein einfaches Mitglied, sodass er mir, dem Mitglied der Hochschulgerwerkschaftsleitung, in dieser gewerkschaftlichen Angelegenheit, keinerlei Weisungsrecht hatte! Aber so war das eben mit den demokratischen Rechten in der Deutschen Demokratischen Republik! Was, wie mir scheint, heute schon sehr Viele vergessen haben, wenn sie in ihren nostalgischen Schwärmereien über die gute Zeit in der ehemaligen DDR schwelgen.

Der Aufforderung, mein Arbeitsmaterial als Vorsitzender der Kommission für Gesundheits- und Arbeitsschutz in der HGL abzugeben, bin ich dann natürlich nachgekommen. Was sollte ich denn noch mit diesen Materialien anfangen?

Es musste kommen, wie ich es schon erwartet hatte, denn zum 17. Juli war ich aufgefordert, im Wehrkreiskommando Magdeburg zu erscheinen.

Hier wurde mir als erstes der „Einberufungsbefehl für den Mobilmachungsfall“ abgenommen. Der Oberstleutnant, dem ich bei den Mobilmachungsübungen unterstellt war, äußerte in etwa: „Da ich wiederholt erlebt habe, dass Sie sehr wohl in der Lage sind, richtige Entscheidungen zu treffen, akzeptiere ich Ihren Entschluss, weiter will ich mich dazu nicht äußern. Der Genosse Politoffizier, er ist Ihnen ja bekannt, will Sie noch sprechen!“

Dieser, es war wohl ein Major, langweilte mich mit seinen Ausführungen über die Notwendigkeit des Klassenkampfes gegen die revanchistische „BRD“ und die letzte Rede des Genossen Honeckers. Wie ich ihn dann gebeten habe, zum Schluss zu kommen, da mein Sohn in der prallen Sonne im Auto auf mich wartet, kam er nicht zum Ende, sondern beschimpfte mich mit allen möglichen Ausdrücken, die sich auf meinen angeblichen Verrat an der Sache des Sozialismus bezogen usw.

Zum Abschluss seiner Beschimpfungen degradierte er mich vom Unteroffizier zum Soldaten! Auf meine Frage: „Können Sie mich nicht gleich aus der NVA4 ausschließen!“ antwortete er: „Das kann Ihnen so passen!“ Damit war ich entlassen.

Die ganze Zeit, während ich im Wehrkreiskommando war, wartet unser sechsjähriger Sohn mit einem bangen Gefühl im Auto. Es war nicht zu übersehen, dass er sehr froh war, wie ich wieder unversehrt vor ihm stand.

Am vorletzten Wochenende des Julis besuchten wir unsere Bekannten aus Hamburger, in Plau am See, wo sie Station auf ihrer Urlaubsreise machten. Rosemarie, unsere Tochter und ich fuhren über Güsen, hier hatten mein großer Bruder uns seine Frau ein Wochenendgrundstück. Wir informierten sie über unseren Ausreiseantrag! Weiter ging es über Havelberg und Pritzwalk, bis wir kurz nach 11 Uhr in Plau am See waren. Die Haltung der Bekannten zu unserem Ausreiseantrag war nicht gerade ermutigend. Wir waren sehr enttäuscht darüber.

Die Rückfahrt von Plau am See führte uns über Schönhausen, wo am 1. April 1815 Otto von Bismarck, der erste Reichskanzler des Deutschen Reiches, geboren wurde. Wir besichtigten das ehemalige Gut und den Park sowie die Kirche, welche uns eine Frau freundlicherweise zeigte.

Nach sieben langen Wochen waren wir am 26. Juli endlich zur Abteilung für „Innere Angelegenheiten“ beim Rat der Stadt Magdeburg, Zimmer 18, vorgeladen.

Zwei Genossen versuchten uns im Verlaufe einer Stunde davon zu überzeugen, dass unser Gesuch vom 6. Juni abgelehnt werden müsse, da es für unser Begehren keine rechtliche Grundlage geben würde.

„Sie haben dazu kein Recht! Im Falle einer Wiederholung müssen Sie mit strafrechtlichen Folgen rechnen!“ waren ihre Worte. Rosemaries Einwand: „Die DDR hat ja die Schlussakte von Helsinki und die Vereinbarungen der Nachfolgekonferenz in Madrid unterschrieben!“ wurde mit der Bemerkung versucht abzutun: „Diese Vereinbarungen ist in der DDR kein gültiges Recht! Geben Sie sich keinen Illusionen hin, dass Sie jemals die Genehmigung zur Ausreise erhalten werden!“

Trotz dieser massiven Drohung erklärten wir beide unmissverständlich: „Wir werden unseren Antrag vom 6. Juni nicht zurückziehen und ihn solange wiederholen, bis er genehmigt wird!“

Auch wollten und konnten wir die ungeheuerliche Behauptung, dass diese Vereinbarung kein gültiges DDR-Recht sei, nicht so im Raum stehenlassen, sodass ich dazu ausführte: „Die DDR hat die Schlussdokumente des Madrider Treffens der Vertreter der Teilnehmerstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa unterzeichnet, somit ist sie auch an diese völkerrechtlich verbindlichen Vereinbarungen gebunden!“ und Rosemarie ergänzte: „Der Korb III5 dieser Vereinbarung beinhaltet, dass eine Verweigerung unserer Ausreise durch die Behörden der DDR auf Dauer ein Verstoß gegen diese völkerrechtlich verbindliche Vereinbarung ist!“

Dazu schwiegen die Genossen und wir waren entlassen.

Wir hatten unsere erste Aussprache bei der Abt. Inneres des Rates der Stadt Magdeburg überstanden. Wie viele Aussprachen würden noch folgen?

Am selben Tag bekam ich vom Wissenschaftlichen Rat der Technischen Hochschule „Otto von Guericke“ Magdeburg folgenden Brief:

»Werter Herr Dr. Bode!

Der Wissenschaftliche Rat der Technischen Hochschule "Otto von Guericke" Magdeburg hat Ihnen durch die Fakultät für Technische Wissenschaften auf Grund Ihres Antrages mit Wirkung vom 19. 12. 1979 die Facultas docendi für das Fachgebiet "Regelungstechnik und Prozeßsteuerungen" verliehen.

Da Sie gemäß der Anordnung über die Erteilung und den Entzug der Facultas docendi (Lehrbefähigung) des GBL6 Teil 11 Nr. 127 vom 13. 12. 1968, § 6, Abs. 1 nicht mehr die Voraussetzungen für die Facultas docendi in der Lehre erfüllen, ist Ihnen dieselbe zu entziehen.

Sie werden hiermit aufgefordert, Ihre Urkunde im Dekanat der Fakultät III bis 3. 8. 1984 zurückzugeben.

Prof. Dr. sc. techn. -----Prof. Dr.-Ing. -----
R e k t o rDekan der Fakultät für
Technische Wissenschaften«

Mit dem Entzug der „Facultas docendi“, d.h. der Lehrbefähigung für das Fachgebiet „Regelungstechnik und Prozesssteuerungen“, hatte man mir ein Berufsverbot ausgesprochen! Wir entschlossen uns, dieser Aufforderung zunächst nicht nachzukommen.

Unser 2. Gesuch auf Genehmigung der Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland, richteten wir am 30. Juli erneut an den Rat der Stadt Magdeburg, Abt. Inneres:

»Betr.: 2. Gesuch auf Uebersiedlung in die BRD

Hiermit wiederholen wir für uns und unsere Kinder …, unseren Antrag vom 6.6.1984 auf Ausreise aus der DDR zwecks Uebersiedlung in die BRD.

In der am 26.7.1984 in der Abt. Inneres geführten Aussprache hatten wir bereits mündlich zum Ausdruck gebracht, daß wir o.a. Antrag vom 6.6.1984 nicht zurückziehen werden.

Wir beziehen uns bei unserem Antrag auf die Schlußdokumente des Madrider Treffens der Vertreter der Teilnehmerstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.«

Dieses Gesuch wurde auch von Rosemarie unterschrieben, um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, dass wir beide fest hinter diesem Antrag stehen. Auch die zukünftigen Gesuche unterschrieben wir immer gemeinsam.

An einem Sonnabend, es war der 11. August, fuhren Rosemarie und ich nach Moritzburg bei Dresden. Wir hatten uns zu diesem Zeitpunkt und an diesem Ort mit unseren Bekannten aus Hamburg verabredet. Leider kamen sie erst am späten Nachmittag von einem Ausflug zurück. Sie hatten, trotz Verabredung, nicht mit uns gerechnet!

Wir wollten mit ihnen nochmals über unser Ausreiseproblem sprechen. Nur deshalb hatten wir diese weite Fahrt gemacht, aber dazu kam es nicht! Sie berichteten vielmehr über die einzelnen Stationen ihres Urlaubs. An unserem Problem zeigten sie kein Interesse!

Wir hatten uns im August 1968 auf einem Campingplatz in Prag kennengelernt. Seit dieser Zeit trafen wir uns mindesten einmal im Jahr. Ein Thema, aber keinesfalls eines der dominierenden, war auch die Erörterung einer Möglichkeit, wie wir die DDR verlassen könnten. „Wenn ihr unsere Hilfe benötigt, ihr könnt auf uns rechnen!“ so oder ähnlich äußerten sie sich wiederholt. Nun aber, wie dieses Thema aktuell war, stießen wir auf Ablehnung, d.h. ihre Einstellung zu unserem Ausreisebegehren war ausgesprochen entmutigend. Enttäuscht traten wir am Sonntag die Heimreise an.

Da wir Urlaub hatten, verbrachten wir die meiste Zeit des Augusts auf unserem Wochenendgrundstück in Wahlitz. Von hier aus sind wir auch nach dem nahegelegenen Gommern zum Baden und Eis essen gefahren, haben das Pretziener Wehr besichtigt usw.

An einem Wochenende während unseres Urlaubs hatten wir unsere Freundin Anna mit Tochter, unsere Bekannten mit Sohn aus Berlin und unsere Bekannten aus Hamburg, die auf der Heimreise waren, eingeladen. Es war eine große und schöne Feier.

Anfang September gingen wir wieder unseren Berufen nach, unsere Tochter besuchte die neunte Klasse der Polytechnischen Oberschule „Olga Benario Prestes“ Magdeburg-Nord und unser Sohn den Kindergarten in der Victor-Jara-Straße 19, ebenfalls in Magdeburg-Nord.

Auf Grund des Antrages von Rosemarie, ihr einen Dienstreiseauftrag für den zweiten Lehrgang zur Fachapothekerausbildung in der ersten Oktoberwoche in Rohrbach auszustellen, erhielt sie Ende September folgende mündliche Information durch ihren Abteilungsleiter: „Die Vertreterin des Direktors hat mich beauftragt, Ihnen mitzuteilen, dass für den Lehrgang keine Einladung vorliegt. Sie brauchen von sich aus nichts zurückzugeben und sich auch nicht in Leipzig für ihr Fehlen zu entschuldigen.“

Damit wurde Rosemarie die weitere Qualifizierung zum Fachapotheker versagt!

Zum 12. Oktober wurde Rosemarie zum Direktor des Versorgungszentrums Pharmazie und Medizintechnik vorgeladen. Im Beisein der Genossin Kader forderte der Direktor Rosemarie ultimativ auf:

„Ziehen Sie den Antrag auf Übersiedlung zurück! Mit diesem Schritt begeben Sie sich mit ihrer Familie auf die Seite des Feindes, und zwar eines aggressiven und kriegslüsternden Staates. Haben Sie sich überlegt, dass Sie eines Tages mit der Waffe in der Hand ihren ehemaligen Kolleginnen und Kollegen gegenüberstehen!“

„Ich war schon immer für den Frieden, werde das auch weiterhin sein und mir ist nicht bekannt, dass die BRD eine friedensfeindliche Politik betreibt. Ich nehme den Antrag nicht zurück!“ war Rosemaries Antwort auf den völlig deplacierten Ausfall des Herrn Direktors. „Was wäre denn, wenn ich ihn zurücknehmen würde?“ stellte Rosemarie die Gegenfrage und bekam zur Antwort: „Sie müssten sich erst wieder bewähren!“ „Was verstehen Sie darunter?“ wollte Rosemarie wissen. „Sie würden einen Bewährungsauftrag erhalten, in dem Sie als Apotheker alle Aufgaben erfüllen, sich also bestätigen und zur Einsicht kommen müssten, dass das Stellen dieses Antrages falsch war. Auch müssten Sie aktiver politisch tätig sein“, so der Herr Direktor.

Eine klarere Antwort, was „bewähren“ bedeutet, konnte er Rosemarie nicht geben, denn bisher hatte sie ihre Aufgaben als Apothekerin und als Leiterin eines Kollektivs, seit ihrem Eintritt in das Apothekenwesen vor nunmehr zwanzig Jahren, immer zur vollsten Zufriedenheit ihrer Vorgesetzten und Mitarbeiter erfüllt. Sie bzw. ihr Kollektiv wurden dafür wiederholt ausgezeichnet! Also Phrasen, die der Direktor von sich gegeben hatte.

Erneut lehnte Rosemarie das Ansinnen, den Antrag zurückzuziehen, ab. Damit konnten wir auch diesen Termin abhaken.

Am 9. November wurde ich zum Kaderdirektor der TH „Otto von Guericke" vorgeladen. Der Genosse Kaderdirektor ließ sich verlauten: „Die Technische Hochschule gibt Ihnen noch bis zum Jahresende die Möglichkeit, den Antrag zurückzunehmen!“ Meine Antwort war: „Wir nehmen den Antrag nicht zurück!“ womit das Gespräch schon wieder beendet war.

Um mich auf dem Gebiet der Programmierung von Rechnern weiter zu bilden, wozu ich in der letzten Zeit als Oberassistent kaum gekommen war, begann ich mich ab Mitte November mit der Programmiersprache COBOL7 zu beschäftigen.

In einer „Aussprache“ mit dem Direktor, am 19. Dezember, wurde Rosemarie mitgeteilt, dass sie nicht mehr in der Lage sei, als sozialistischer Leiter eines Kollektivs tätig zu sein und dass sie mit einer Umbesetzung rechnen müsste, wenn sie von ihrem Gesuch nicht zurücktreten würde. Siehe dazu [1.]8

»Pharmazeutisches Zentrum Magdeburg/Wolmirstedt 90/Mü/Kl

Protokoll der Aussprache mit Kolln. Bode am 19. 12.1984:

Ausgehend von der Aussprache am 12.10.1984 wurde Kolln. Bode nochmals auf ihre falsche Position und ihr unberechtigtes Ersuchen hingewiesen.

Dabei war es auch Schwerpunkt, daß sie aus den Darlegungen Verursacher des Antrages ist (es handelt sich um ihre Angehörigen) und damit hohe Verantwortung für die ganze Familie trägt.

Im Ergebnis blieb Kolln. B. dabei, ihr Ersuchen aufrecht zu erhalten, bestimmt vom persönlichen Anliegen. Sie sieht ihre fleißige fachliche Arbeit als ein ausreichend korrektes Verhalten an.

In einem 2. Punkt der Aussprache (unter Hinweis auf die völlige Unabhängigkeit von Punkt 1) wurde sie davon in Kenntnis gesetzt, daß mit Wirkung vom 1.01.1985 ein neuer Stellenplan in Kraft tritt und sie die bisherige leitende Funktion nicht mehr ausüben kann, da diese Stelle gestrichen wurde. Sie erhält in Kürze eine andere Tätigkeit als Apotheker nachgewiesen.

OPhR

Direktor«

Plötzlich gab es einen neuen Stellenplan, in dem genau diese Stelle gestrichen wurde, die eine „Ausreisewillige“ innehatte! Dem Protokollverfasser war dies wohl selbst aufgefallen, sodass er die Bemerkung:

»unter Hinweis auf die völlige Unabhängigkeit von Punkt 1«

einfügte.

Kurz vor Weihnachten traf ich meinen ehemaligen Vorgesetzten, d.h. den stellvertretenden Sektionsdirektor für Ausbildung und Erziehung, zufälligen im HO Warenhaus. Als guter Genosse sah er sich veranlasst, mich mit folgenden Worten zu belehren: „Nehmen Sie den Antrag zurück, sonst wird es Ihnen noch leidtun!“ Dann trennten sich unsere Wege. Ich wechselte nie wieder ein Wort mit ihm, denn ich fand diese Äußerung sehr bedauerlich, besonders, da ich sehr gerne mit ihm zusammengearbeitet hatte. Solche eine Aussage bzw. Drohung hätte ich ihm nie zugetraut, noch dazu außerhalb der Hochschule! So kann man sich irren!

Am vorletzten Tag des Jahres, es war der 208. Tag seitdem wir unser 1. Gesuch auf ständige Ausreise aus der DDR gestellt hatten, schickten wir unser 3. Gesuch auf Übersiedlung an die Abt. Innere Angelegenheiten des Rates der Stadt Magdeburg. Eine Antwort erhielten wir nicht!

1 Der Kündigungstermin zum 31.8.1985 ergab sich aus arbeitsrechtlichen Gründen, d.h. nach dem 31. Mai konnte eine Kündigung nur zum 31. August des folgenden Jahres erfolgen. Zumindest hierbei richtete man sich nach den gültigen Gesetzen, vielleicht in der Hoffnung, dass wir innerhalb des nächsten Jahres den Ausreiseantrag zurücknehmen würden.

2 Staatsapparat, Kultur, Kirche, Untergrund

3 Hochschulgewerkschaftsleitung

4 Nationale Volksarmee

5 Korb III: Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen

6 Gesetzblatt

7 Common Business Oriented Language, mit eine der ältesten Programmiersprachen

8 Seite BStU 072, siehe Literaturverzeichnis

Der lange Weg in die Freiheit! Deckname

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