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1.1 CASS – Eine neue Trauma-Form?

Nach meinen eigenen Erfahrungen aus der Praxis, nach Durchsicht von Berichten im Internet sowie dem Austausch mit KollegInnen scheint es bei traumatischen Störungen infolge der Corona-Erkrankung einige Besonderheiten zu geben. Ich denke, dass diese Eigenheiten es rechtfertigen, von einem eigenen (psychopathologischen) Syndrom zu sprechen. Ich nenne es deshalb hier CASS, das Corona-assoziierte Stress-Syndrom.

Offenbar hat es nach der Spanischen Grippe vor hundert Jahren ähnliche, psychische Störungen bei den Überlebenden gegeben, allerdings ist die Befundlage dünn, und Zeitzeugen wurden erst befragt und untersucht, als das Ereignis bereits fünfzig Jahre zurücklag. Es wurden bei ehemaligen Erkrankten sogar seelische Spätfolgen berichtet und Veränderungen an Hirnstrukturen gefunden. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es in der Tat auch für das SARS-CoV-2 einige Hinweise auf direkte, nervenschädigende Auswirkungen. Es wird später Aufgabe der Forscher sein, die Parallelen (und Unterschiede) zwischen einer Grippe- und Corona-Pandemie herauszuarbeiten.

Was ist also anders beim CASS? Warum können wir Corona-assoziierte, seelische Störungen nicht einfach zu Folgen einer „ganz normalen“, traumatischen Erfahrung erklären und entsprechend behandeln? Zunächst einmal ist anzumerken, dass Viruserkrankungen für Laien nur schwer zu verstehen sind. Deshalb wirken sie besonders bedrohlich, ja fast unheimlich. Wie können biologische Partikel, die für sich selbst nicht lebensfähig und nochmals sehr viel kleiner als Bakterien sind, dem Menschen überhaupt so gefährlich werden? Warum kommt es in den letzten dreißig Jahren zu stärkeren genetischen Veränderungen bei Viren und zum Überspringen vom Tier zum Menschen? Wo im Körper greifen diese Partikel an? Warum gibt es keine Gegenmittel wie Antibiotika?

Der Gegner ist für uns zudem unsichtbar. Dieser Umstand des unbemerkten Anschleichens und Überraschens triggert Urängste an. Wasser, Wind, Beben, Raubtiere u.ä. „spüren“ wir unmittelbar, und die Folgen ihrer Wirkung/ihres Angriffs begreifen wir. Hingegen werden wir von Corona eher unbemerkt überfallen. Im ersten Moment merken wir nicht einmal, dass der „Gegner“ uns bereits gepackt hat. Schon diese Überlegungen zeigen deutlich, dass die Corona-Krise unsere bisherigen Abwehr- und Bewältigungsstrategien überfordert bzw. sogar umgeht.

Schon das Bedrohungsgefühl ist eine direkte, seelische Folge des Coronavirus. Es gibt Menschen, die sich bereits krank fühlen, obwohl sie gar nicht infiziert sind. Angst und Sorge verursachen nämlich Leid. Und sehr quälend ist dabei das Empfinden, dass unsere Mitmenschen – von denen wir uns doch Unterstützung, Zuspruch und Trost erwarten – dann sogar zu (potentiellen) Widersachern werden. Meine Bedürfnisse werden scheinbar von anderen missachtet: Ich möchte ja getestet werden. Aber es gibt zu wenig Tests… Ich will doch sicher gehen, dass ich im Notfall versorgt bin. Aber die intensivmedizinischen Pflegeplätze sind begrenzt… Ich brauche Dinge des täglichen Bedarfs. Aber die Regale sind ausgeplündert…

Unser Unterbewusstsein gaukelt uns vor, wir seien von Konkurrenten (oder gar Feinden) umgeben. Von ihnen scheint schließlich die Gefahr auszugehen (Infizierte, Hamsterer etc.). Das Virus entsteht schließlich nicht einfach in uns. Nein, wir werden von anderen angesteckt! Hier wirken mehrere Kräfte in uns, die stark belastend sind.

Von Natur aus möchten wir anderen Menschen vertrauen und verlassen uns darauf, dass jede(r) im sozialen Gefüge eine Aufgabe erfüllt. Schwächeren wollen wir grundsätzlich helfen. Nun sind jedoch gerade diese Schwachen (die Infizierten und vor allem unerkannt Infizierten) eine Bedrohung für uns und unsere Familie. Die Psyche steht damit vor einem großen Dilemma, muss sie hier doch eine enorme Überwindungsarbeit leisten, damit wir – im wahrsten Sinn – gesellschaftsfähig bleiben. Wir beginnen abzuwägen, ob und mit wem wir in Kontakt treten. Und zwar auf die eher misstrauische Weise. Je länger ein solcher Zustand dauert, umso mehr laufen wir Gefahr, dass sich die Kompensations- und Regenerationskräfte der Seele erschöpfen. Wenn der Wunsch nach sozialer Zugehörigkeit lange unerfüllt bleibt, kann es zu allen Arten einer Deprivation kommen. Wir fühlen uns ausgegrenzt und ausgestoßen. Bei manchen Menschen brechen sich unkontrollierte Affekte Bahn, andere ziehen sich zurück. Schließlich kann sogar die Solidargemeinschaft zerbrechen oder fragmentieren. Dann gibt es nur noch Starke und Schwache, Gewinner und Verlierer, Skrupellose und Rücksichtsvolle.

Eine dritte Besonderheit des CASS ist – wie bereits angedeutet - die gleichzeitige Wirkung auf mehreren Ebenen. Es verletzt uns sowohl körperlich als auch seelisch. Es wirkt auf allen Makroebenen der Gesellschaft und auf der Mikroebene des Individuums: Das Virus kann körperlich krank machen. Und vielleicht gibt es sogar schwere, unbekannte Folgeerkrankungen. Es dringt in uns ein und wirkt somit (psychologisch) ähnlich wie sexualisierte Gewalt. Denn es verletzt ein Tabu, es überschreitet eine Grenze, stört die Integrität. Gegen unseren Willen nimmt etwas Besitz von uns. Damit wird unser Dasein bedroht. Infizierung war zu allen Seiten auch gleichbedeutend mit Unreinheit. Wir laufen (gefühlt) Gefahr, verstoßen zu werden. Und schließlich stört CASS unser gesamtes, soziales Gefüge. Einfachste Formeln (die uns unseren „Platz“ zuweisen) gelten plötzlich nicht mehr: Status, Urlaub, Geld, Arbeitsplatz, Altersvorsorge, Wohnen. Alles kommt auf den Prüfstand. Dabei sind wir doch soziale Wesen. Und plötzlich sind wir am sichersten, wenn wir uns allein in der Wohnung verschanzen. Wir wollen Kontakt, aber die Isolation ist die gebotene Option. Solche Paradoxien müssen seelisch erst mühsam verarbeitet werden. Sie werden unser künftiges Zusammensein empfindlich stören.

Zusammenfassung:

Das CASS (Corona-assoziierte Stress-Syndrom) wirkt auf vielen Ebenen und stört psychische Funktionen erheblich. Es ist insofern ein neuartiges Syndrom, da gleichzeitig das individuelle Vertrauen (und Urvertrauen) und die körperliche sowie seelische Unversehrtheit angegriffen werden. Zudem versagen die in uns angelegten Regulationsmechanismen, und grundlegende, soziale Normen werden in Frage gestellt. Das CASS bezieht einen Teil seiner Wirkkraft aus den (für die Psyche) unlösbaren Paradoxien, die es selbst verursacht.

Das Corona-Trauma

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