Читать книгу Das Corona-Trauma - Dr. Jens-Michael Wüstel - Страница 7
ОглавлениеAngriff auf unser Zentrum
Gesundheit ist wichtig. Oft merken wir das erst, wenn sie bedroht oder sogar schon geschädigt ist. Schaden, Bedrohung, Angriff. Ich bin kein Freund dieser martialischen Ausdrücke, aber sie machen uns auch klar, wie wir fühlen. Wie wir die Pandemie erleben. Manche Politiker sprechen tatsächlich von einem Krieg, den wir führen müssen, einem Kampf gegen das Virus. Wir werden noch darauf zurückkommen und sehen, dass diese Sichtweise durchaus ihre Gründe hat.
Das Virus greift zunächst unsere körperliche Gesundheit an. In der akuten Phase wird über Infektionszahlen, Symptome, Vorbeugung, Quarantäne, Impfungen und Hygiene gesprochen. Niemand denkt an die seelischen Folgen. Diese machen sich erst schleichend bemerkbar. Die Betroffenen sind zunächst auf sich allein gestellt. Traurige Verstimmtheit, Rückzug, Weinen, Grübelneigung, unklare Gefühlsausbrüche, Ängste. Viele denken, sie hätten „nur schwache Nerven“ oder wären einfach „nah an Wasser gebaut“. Diese Menschen sehen Pflegekräfte, Rettungssanitäter, Ärzte oder Politiker in den Medien, die die „Helden“ dieser Krise sind. Und sie empfinden dann auch noch Scham. Weil sie sich selbst schwach fühlen. Weil sie denken, sie hätten versagt. Sie fühlen sich zunehmend wertlos: Corona ist eben auch ein Frontalangriff auf unserer Selbstwertgefühl!
Wie kommt es dazu? Ganz einfach, Corona hat direkte, seelische Folgen. Unsere Gefühlszentrale im Gehirn wird stark überfordert, da innerhalb kurzer Zeit enorme Belastungen verarbeitet werden müssen. Und dieser Zustand ähnelt tatsächlich Kriegserfahrungen. Je mehr Zeit nach der Pandemie vergeht, umso mehr werden die rein körperlichen Störungen an Bedeutung verlieren. Und umso deutlicher werden die psychischen Auswirkungen sein. Wenn Sie also Anzeichen einer seelischen Überlastung an sich bemerken, dann müssen Sie sich deshalb nicht schwach, unfähig oder bedeutungslos fühlen! Ihre Reaktion ist völlig normal, denn die psychische Last muss erst verarbeitet werden.
Die Pandemie erschüttert einige unserer Grundfesten. Trotz allen Ärgers und Misstrauens leben wir auf diesem Planeten in einer Gemeinschaft. Und diese wird nun von einem nicht sichtbaren, lautlosen Gegner bedroht. Und wir müssen ehrlich sein und zugeben, dass viele unserer Reaktionen nicht anders sind als die unserer Vorfahren zu anderen Zeiten. Schon Griechen und Römer wiesen Lepra-Kranken abgetrennte Wohnorte zu. Zu Pestzeiten trugen viele Leute Masken, die durch wohlriechende Kräuter vor dem „Pesthauch“ schützen sollten. Und bis in die Neuzeit wurden Kranke in Siechenhäusern am Rande der Städte untergebracht.
Trennung, Isolation, Ausgangssperre. Es sind fürchterliche Begriffe, die uns im Zusammenhang mit Corona begegnen. Dabei möchten wir doch als Menschen keinesfalls allein sein. Laut dem amerikanischen Psychologen Abraham Maslow gehört nämlich der Wunsch nach (Gruppen-) Zugehörigkeit zu den wichtigsten Bedürfnissen des Menschen:
Gruppe (Freunde, Arbeit …)
Sicherheit (Unversehrtheit, Heim …)
Grundbedürfnisse (Essen, Trinken, Schlaf …)
Nach Ansicht des Forschers streben wir zuerst nach Erfüllung dieser Bedürfnisse. Wir müssen uns das etwa so vorstellen: Wer gegessen hat, besitzt die Kraft, ein Haus zu bauen. Wer Haus und Hof hat, kann andere Menschen einladen und ein Fest feiern usw.
Zunächst muss also die Basis, das Fundament der Pyramide gelegt werden, dann folgt der Aufbau zur Spitze hin. Erst nach den Grundbedürfnissen sind höhere Motive wirksam, die unser Leben bestimmen:
Glaube
Selbstverwirklichung
Ich-Entfaltung (Status, Anerkennung)
So wird nachvollziehbar, dass auch Gesellschaften, die „satt“ und zufrieden sind, nicht von den seelischen Folgen der Corona-Krise verschont bleiben. Im Gegenteil, ihnen bricht das sicher geglaubte Fundament weg (zumindest wird es in Frage gestellt). Menschen, die sich in ihrem Leben nie mit Einschränkungen, Not, Hamsterkäufen und akuter Bedrohung auseinandersetzen mussten, sind wahrscheinlich sogar anfälliger für die Folgen solcher Krisen. Wenn die Basis (s.o. die ersten drei Bedürfnisse) instabil wird, dann spielen klassische, moderne und postmoderne Bedürfnisse (Status, Anerkennung, Selbstfindung, Ich-Entfaltung) eine immer kleinere Rolle. Eben diese sind es jedoch, die unser Leben in den Wohlstandsländern bestimmen. Wer aber macht weiterhin Yoga, wenn das eigene Haus plötzlich brennt? Wer liest gemütlich einen Roman bei Kerzenlicht und Tee, wenn die Kinder vor Hunger schreien?
Selbstverständlich sind dies etwas übertriebene Beispiele. Sie sollen nur verdeutlichen, was in unserer Psyche geschieht. Da laufen nämlich uralte Programme ab, die uns schützen sollen. Damit wir überleben. Diese Gefühlsmuster sind in uns angelegt, obwohl wir sie als (moderne) Menschen oftmals gar nicht mehr brauchen. Warum aber rast unser Herz, wenn wir in der Achterbahn sitzen (die doch geprüft und sicher ist)? Warum erschrecken wir uns im eigenen Keller, wenn ein Besen umfällt? Warum zittern vor der Prüfung die Hände und sind feucht?
Corona reißt uns von den Füßen. Und jeder Mensch erlebt diese Zeit ein wenig anders. Manche werden schweigsam, ihnen verschlägt es (vor Schreck) die Sprache. Manche reden eher mehr, nur um sicher zu gehen, dass da jemand ist, der zuhört. Dann gibt es diejenigen, die sich zurückziehen und innehalten. Oder jene, die beinahe überaktiv in Schuppen, Garage, Haushalt werkeln. Viele Menschen sind traurig. Aber es gibt auch wütende Menschen, die sich dann oft bockig und uneinsichtig zeigen. Hinter all diesen Reaktionen stecken Ängste. Wir wollen essen und trinken, ein Zuhause haben. Und Corona bedroht dieses Bedürfnis. Wir wollen uns sicher fühlen. Ich will meiner Familie, dem Nachbarn, meinen Freunden vertrauen können. Und Corona bedroht dieses Bedürfnis. Ich will nach draußen gehen, mich zeigen, Umgang mit Menschen haben, zur Arbeit fahren, tanzen, feiern, lachen. Und Corona bedroht dieses Bedürfnis.
Wir werden sehen, dass das Corona-Trauma viele Facetten hat. Jeder Mensch hat seinen eigenen „wunden Punkt“. Oft sind es sogar alte Wunden, die durch die Krise förmlich aufgerissen werden. Hinter der Sprachlosigkeit des gereiften Mannes kann das zerrüttete Verhältnis zu den Eltern stecken, denen man als Jugendlicher nie sagen konnte, wie man sich fühlt. Die Vielrednerin will vielleicht die innere Verunsicherung überdecken, die schon lange vor Corona da war. Im Wütenden bricht sich der Wunsch Bahn, endlich wahrgenommen zu werden. Und hinter allen Reaktionen verbirgt sich letztlich Angst. Die Nuancen dieser Angst sind veränderlich, aber es geht immer um eine Existenzbedrohung. Genau hier setzt das Virus an. Ein unsichtbarer, lautloser Gegner hat sich in unser Leben (nicht nur in unseren Körper) geschlichen. Und er bedroht alle Bedürfnisse der beschriebenen Maslow-Pyramide.
Zusammenfassung:
Die Corona-Pandemie bedroht die wichtigsten Bedürfnisse des Menschen. Von den basalen (individuellen) über die zwischenmenschlichen bis zu den ethischen und transzendentalen Motiven steht alles auf dem Prüfstand.
Corona
stellt unser Urvertrauen in Frage
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gibt das Gefühl, ausgeliefert und hilflos zu sein
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weckt unsere Urangst vor dem Tod
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stört die körperliche Gesundheit (nicht nur als Infektion)
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