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Ein gefährliches Geschäft

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Die Fortschritte der Medizin lassen selbst schwerwiegende Operationen wie Routineeingriffe erscheinen. Einige Risiken, etwa an einer Thrombose oder den Nebenwirkungen einer Narkose zu sterben, sind gesunken. Was aber passiert, wenn die Qualität von bei Operationen verwendeten Implantaten, etwa einem künstlichen Gelenk oder einem Herzschrittmacher, nicht in Ordnung ist?

Immer mehr Menschen erleiden Schaden durch bei Operationen eingesetzte Implantate von minderwertiger Qualität. In den vergangenen Jahren kam es immer wieder zu vermeidbaren Skandalen wegen fehlerhafter Medizinprodukte, die Patienten »verbaut« wurden, wie Operateure das oft nennen. Dass es auch Risikofaktoren gibt, die sich dem Wissen und der Erfahrung von Ärzten entziehen, das belegen die Implant Files,25 eine internationale Recherche von Journalisten unter der Leitung des Internationalen Netzwerks investigativer Journalisten (ICIJ), an der auch der Norddeutsche Rundfunk (NDR), der Westdeutsche Rundfunk (WDR) und die Süddeutsche Zeitung teilnahmen.

Von defekten Herzschrittmachern über mangelhafte Brustimplantate bis zu Bandscheiben- und Hüftprothesen – in Deutschland kam es aufgrund fehlerhafter Medizinprodukte zu rund 14.000 Verletzungen, darunter auch Todesfälle, so das erschreckende Ergebnis der Recherche. Die Dunkelziffer an Betroffenen dürfte noch höher sein, da nicht jeder Problemfall dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gemeldet werden muss. Wenn Sie auf der Seite des Bundesinstituts in der Suchfunktion »Rückruf Implantat« eingeben, kommen übrigens seitenweise Meldungen mit dringenden Sicherheitshinweisen zu diversen Produkten. Das ist unter den Augen des Gesetzgebers doch alles andere als vertrauenerweckend!

Wieso sind nicht schon im Vorfeld die Kontrollen seitens der Behörden strenger, um defekte Medizinprodukte gar nicht erst zuzulassen? Dazu muss man das Problem hinter dem Problem anschauen: Anders als etwa bei der Zulassung von Medikamenten, bei der Behörden entscheiden, benötigen die Hersteller von Implantaten lediglich eine CE-Zertifizierung von einer Prüfstelle wie DEKRA oder TÜV. Da der Zertifizierungsprozess eine bezahlte Leistung ist, stellt sich die Frage, wie viele solcher Prüfanfragen tatsächlich abgelehnt werden. Es gibt in der Regel seitens der Prüfstelle auch keine Informationen darüber, welche klinischen Studien und Tests der Freigabe zugrunde liegen.

»Wir müssen uns darauf verlassen, dass Produkte, die mit CE-Kennzeichen zu uns geliefert werden, zuverlässig sind«, sagte Gerald Gaß, Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft 2018 in der Fernsehsendung Hart aber fair anlässlich einer Diskussion zu diesem Thema.26 Müssen wir das wirklich? Ist es tatsächlich die einzige Möglichkeit, dass Operateure auf Basis von Firmeninformationen und Vertretergesprächen entscheiden, welche Medizinprodukte sie verwenden? Oder stehen die Implant Files eher als ein Beleg für die Hypokrisie unseres Gesundheitssystems? Für ein Versagen der Politik, was die notwendige Aufsichts- und Kontrollpflicht angeht? Denn einerseits können Ärzte im Übermaß drastische Therapiemaßnahmen anordnen, und andererseits gelangen risikoreiche Medizinprodukte schnell, ohne umfangreiche Studienlage und offenbar ohne hinreichende und unabhängige Prüfung auf den Markt. Das macht den Patienten zum Versuchskaninchen!

Im Jahr 2017 ist eine neue EU-Richtlinie für Medizinprodukte in Kraft getreten, die schärfere Kontrollen vorsieht. Dazu heißt es auf der Homepage des Bundesgesundheitsministeriums: »Nach mehr als vier Jahren der Verhandlungen sind am 25. Mai 2017 die Verordnung (EU) 2017/745 des Europäischen Parlaments und des Rates über Medizinprodukte und zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG, der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 und der Verordnung (EG) Nr. 1223/2009 sowie die Verordnung (EU) 2017/746 des Europäischen Parlaments und des Rates über In-vitro-Diagnostika in Kraft getreten.«27

Vier Jahre hat die Politik gebraucht, um die neue Verordnung, die sich schon in diesem einen Satz kompliziert liest, auf den Weg zu bringen. Und erst im Mai 2020 soll sie voll zum Tragen kommen. Da verstreicht sehr viel Zeit, um eine ausreichende Bewertung und Kontrolle von Medizinprodukten zu institutionalisieren, während der die Lebensqualität, ja das Leben von Patienten bedroht ist.

Das muss man sich mal vorstellen: Trotz der hohen Zahl an Operationen haben weder die Entscheider in den verantwortlichen staatlichen Institutionen noch Ärzte und Patienten eine klare Kenntnis davon, welches Krankenhaus in welcher Region mit welchen Ärzten welche Qualität erstellt. Wir wissen auch nicht, mit welchen Materialien die Kliniken und deren Operateure arbeiten, also wie qualitativ hochwertig die Medizinprodukte tatsächlich sind. Mit einer verpflichtenden Implantate-Datenbank ließe sich ableiten, welche Fabrikate am längsten halten und welche eine höhere Fehlerquote aufweisen. In Deutschland existieren verschiedene Register, die allerdings nicht staatlich gesteuert sind. Nach langen Jahren der Diskussion ist eine solche Stelle zum Beispiel im Bereich der Orthopädie mit dem Endoprothesenregister (EPRD) geschaffen worden. Die Teilnahme der Krankenhäuser, wie es die EU-Regelung vorsieht, ist aber nicht verpflichtend. Wie sollen ausreichend zahlenbasierte Informationen darüber, welche Implantate gut sind und welche schlecht, ohne zentrale Steuerung und verpflichtende Registrierung zustande kommen? Es sind bereits Jahre, ja Jahrzehnte vergangen, während derer medizinisch fortschrittliche Länder wie Schweden die lebenswichtige Datenerfassung und Qualitätskontrolle eingeführt haben und die Zahl der vermeidbaren Operationen beispielsweise beim Gelenkersatz um 70 Prozent senken konnten. Und es wird noch Jahre dauern, bis Patienten von den dann erhobenen Daten gesundheitlich profitieren können. Wie viel muss noch passieren, bis das Gesundheitssystem entschlossen handelt?

Die Gesundheitslüge

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