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Körperverletzung im medizinischen Alltag

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In vielen Arztpraxen, von Allgemeinmedizinern bis Zahnärzten, steht ein Röntgengerät, das natürlich zum Einsatz kommen muss, um sich zu amortisieren. »Für das Jahr 2015 wurde in Deutschland eine Gesamtzahl von etwa 135 Millionen Röntgenanwendungen abgeschätzt«, so das Bundesamt für Strahlenschutz. »42 Prozent davon allein im zahnmedizinischen Bereich.«36

Auch hier will ich keine Generalisierung vornehmen. Moderne Gerätediagnostik kann für Patienten lebensrettend sein. Aber erinnern Sie sich noch einmal an die Dampfmaschine. Wenn etwas zu häufig gemacht wird, stellt sich ein Umkehreffekt ein – denn mit jedem Eingriff mehr erhöhen sich zugleich die Risiken. Und es bleibt die Frage, wie viele Operationen tatsächlich lebensnotwendig gewesen wären. Die geräteorientierte Diagnose bewirkt, dass die in der ärztlichen Praxis so wichtige Anamnese – von der Patientenbefragung bis zur ausführlichen körperlichen Untersuchung – in den Hintergrund rückt.

2019 ist von der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) für Hausärzte die Leitlinie Schutz vor Über- und Unterversorgung veröffentlicht worden. Sie enthält die wichtigsten Empfehlungen zur Behandlung gängiger Beschwerden, um eine Über- beziehungsweise Unterversorgung im hausärztlichen Bereich zu vermeiden. Darunter findet sich auch das Stichwort »Brustschmerz«. Dort heißt es: »Empfehlen Sie dem Patienten eine Koronarangiographie [Fachbegriff für Herzkatheteruntersuchung, Anm. d. Autors] nur, wenn damit ein definierter diagnostischer und/oder therapeutischer Nutzen zu erwarten ist.«37

Ja, was soll denn das heißen? Im Zweifelsfall will ein Hausarzt vielleicht einen Kardiologen zurate ziehen, für den die Leitlinien aber nicht gemacht wurden. Und falls der Kardiologe dann noch einen teuren Herzkatheterarbeitsplatz in seiner Praxis unterhält, ist der Schritt zur Überdiagnostik schnell getan.

Eine solche Leitlinie ist an und für sich eine gute Sache. Aber was nützt diese aufklärende Maßnahme, wenn sie sich an Hausärzte, nicht aber an kardiologische Spezialisten und Kliniken richtet? Was bringt eine solche Leitlinie, wenn die bereits angesprochene hohe Gerätedichte eine hohe Auslastung benötigt, um die Anschaffungskosten einzuspielen? Da beißt sich die Katze doch in den Schwanz! Das ändert ja nicht wirklich etwas daran, dass diese Diagnoseverfahren viel schneller zum Einsatz kommen, als es vielleicht im Einzelfall notwendig wäre.

Ärzte verlassen sich heute lieber auf ein Bild als auf ihr Wissen und ihre Erfahrung. Sie nutzen das klassische Anamnese-Know-how immer weniger. Sie lernen es auch nicht mehr, weder in der Ausbildung noch in den Kliniken, die ja hauptsächlich operativ tätig sind. Zu viel Gerätediagnostik hat also indirekt auch Auswirkungen auf die ärztliche Kunst, was man am Beispiel der Orthopädie sehen kann, die eigentlich ein konservatives Fach ist, weil der Arzt mit Wissen und Erfahrung durch die Befragung und Untersuchung des Patienten sehr viel über seinen Beschwerdezustand herausfinden kann. Bis vor 15 Jahren gab es noch einen Facharzt für Orthopädie, im Fokus der Ausbildung stand auch die konservative Behandlung von Krankheiten am Bewegungsapparat. Zusätzlich konnte man sich unfallchirurgisch ausbilden lassen. 2003 legte die Bundesärztekammer in der Weiterbildungsordnung, dem Lehrplan für Ärzte, die beiden Bereiche zusammen, seither kann ein Arzt nur noch Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie werden. Das heißt, die klassische Orthopädie ist aus dem begrifflichen Regelwerk verschwunden, und der Schwerpunkt liegt mehr und mehr auf dem operativen Teil des Faches. »Wir bilden also Ärzte aus«, resümierte mein Kollege Prof. Carsten Perka, Ärztlicher Direktor am Centrum für Muskuloskeletale Chirurgie der Charité in Berlin, in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, »die vor allem in der ambulanten Versorgung ihre Patienten nicht mehr adäquat betreuen können und deshalb zum Beispiel zu häufig zu Operationen raten, weil sie andere Behandlungsoptionen gar nicht mehr ausreichend kennen.«38

Diese Reduzierung des Ausbildungsrepertoires entgegen dem modernen Forschungsstand ist ein massiver Einschnitt bei der Therapiequalität und dem Versorgungsstandard für Patienten, die die Konsequenzen bereits zu spüren bekommen, wenn Sie an den Anstieg von operativen Eingriffen am Rücken oder den Gelenken und die damit verbundenen Risiken und hohen Kosten denken. Die Ausbildung in vielen ärztlichen Fachrichtungen ist mittlerweile vor allem naturwissenschaftlich-technologisch orientiert, der Nachwuchs wird kaum auf die Herausforderungen einer konservativen Medizin vorbereitet. Fortbildung findet überwiegend in Krankenhäusern statt und ist somit, wie Sie im nächsten Kapitel sehen werden, aufgrund ökonomischer Zwänge eher chirurgisch ausgerichtet. Denn Zeit kostet Geld.

Meine jüngere Tochter studiert Medizin und hatte, vermutlich auch beeinflusst durch meine Arbeit, in Erwägung gezogen, Orthopädin zu werden. Ich habe ihr abgeraten: Die konservative schonende Medizin, der ich mich als Arzt verpflichtet habe, ist mir bei meiner Ausbildung noch als Basis vermittelt worden, selbst wenn ich mir das Know-how für Spitzenmedizin in meinem Bereich überwiegend durch Fortbildungen und bei Auslandsaufenthalten erworben habe. Im Falle meiner Tochter hätte es bedeutet, sich sechs Jahre lang bis zum Facharzt in einem operationslastigen System »durchzuquälen«, um anschließend noch über Weiterbildungen die neuesten schmerztherapeutischen Kenntnisse zu erlernen, nach denen ich seit vielen Jahren sehr erfolgreich praktiziere.

Nach meiner ärztlichen Erfahrung und der vieler meiner nicht operativ arbeitenden Kollegen liegt in der Einigung zwischen Behandler und Patient auf ein Therapiekonzept ein wichtiger Schlüssel für eine Diagnose und erfolgreiche Therapie. Erst im Abgleich von Befindlichkeit des Patienten und Untersuchungsergebnissen, erst in der Interpretation der Mosaiksteine aus Befragung, körperlicher Untersuchung und, wenn überhaupt notwendig, bildgebenden Verfahren oder Laborwerten, entsteht ein Gesamtbild. Als Orthopäde kann ich zudem sagen, dass ich rein auf Basis eines Bildes gar keine Diagnose stellen kann, weil die Aussagekraft von Röntgenbildern bei der Befundung vieler Krankheitsbilder gegen null geht. Was ich als Arzt aber brauche, ist Zeit mit dem Patienten, um eine umfassende Anamnese vorzunehmen und ihn in seinem Genesungsprozess zu unterstützen. Zeit ist in unserem Gesundheitssystem aber leider sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich ein zu knappes Gut.

Die Gesundheitslüge

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