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Immer mehr bildgebende Diagnostik kommt zum Einsatz 29

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In 13 Jahren hat sich die Zahl der bildgebenden Diagnostik nahezu verdreifacht. Sie ist zur Untersuchungsmethode erster Wahl geworden. Das geht schnell und bringt viel Geld. Eine Kernspinaufnahme kostet rund 90 Euro, während sich das Honorar für die Anamnese je nach Fachrichtung gerade mal auf etwa 15 Euro beläuft. So tritt das klassische Diagnose-Know-how des Arztes in den Schatten von Hightech-Diagnostik.

Ärzte müssen an der »Konservierung der Kranken arbeiten«, lässt Jules Romains in dem Theaterstück Knock oder Der Triumph der Medizin seine gleichnamige Hauptfigur sagen.30 Der Dramatiker erzählt darin die Geschichte des Arztes Knock, der eine schlecht laufende Praxis auf dem Land übernimmt, wo es allen Bewohnern gut geht. Mit kostenlosen Sprechstunden lockt er die Menschen an und schafft es, aus den ehemals Gesunden Patienten zu machen. Jules Romains nimmt mit dieser medizinischen Parodie fast 100 Jahre vor unserer Zeit die Realität der heutigen Medizin vorweg.

Unter Ärzten grassiert der Satz: Es gibt nicht zu wenig Kranke, nur zu wenig ausreichend Untersuchte. Die Apparatediagnostik ist der Anfang einer fatalen Überversorgungskette, denn sie liefert eine erhöhte Diagnoserate auch nicht therapiebedürftiger Krankheiten, weil keine Beschwerden da waren und vielleicht auch nie relevant geworden wären oder die Beschwerden überhaupt nicht mit der Ursache korrelieren.

Die Sonderleistung – jenseits der klassischen ärztlichen Aufgaben – hat sich in unserem Gesundheitswesen zur Normalleistung entwickelt. Das Knock-Phänomen bestätigt die SHIP-Studie (Study of Health in Pomerania), bei der seit 1997 Wissenschaftler der Universität Greifswald 8.700 Menschen aus Vorpommern im Nordosten Deutschlands regelmäßig untersuchen, um Daten über die Entstehung von Volkskrankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Schilddrüsen- und Lungenerkrankungen zu erheben.31

Für die SHIP-Studie durchleuchteten die Wissenschaftler die Menschen auch per MRT. Die Ergebnisse bestätigen die Schattenseite der modernen Diagnostik, dazu berichtete das Magazin Der Spiegel im Januar 2017: »In 2.500 Probanden zeigte der Tomograf 13.455 Befunde, vorgewölbte Bandscheiben, Blutungen. Schlaganfälle, Knoten, Schatten, Zysten.«32

Wo viel untersucht wird, wird auch viel gefunden: bei 2.500 von 8.700 Menschen – das sind 35 Prozent, die mit einer Aufnahme zu potenziellen Patienten werden, wenn der behandelnde Arzt sich eher auf das Bild verlässt, als die Diagnose mit seinem ärztlichen Wissen und seiner Erfahrung abzugleichen. Bei rund 30 Prozent der Probanden ordneten die Wissenschaftler aus Greifswald die Befunde »als medizinisch bedeutsam«33 ein. Auch wenn der diagnostische Fortschritt für sie ein Segen ist, kann er für die restlichen Probanden vielleicht ein Fluch sein. Denn wenn sich ein Behandler vorwiegend auf die Ergebnisse der bildgebenden Verfahren stützt, ist der Weg für eine Übertherapierung geebnet.

»Die Ergebnisse tragen heute und zukünftig wesentlich dazu bei«, heißt es auf der Homepage des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zur SHIP-Studie, »den Zusammenhang zwischen Risiken und Krankheiten zu verstehen und Krankheitsverläufe besser einschätzen zu können.«34 Das mag ja sein, aber sie zeigen auch einen Missstand auf, der auf politischer Ebene so gut wie keine Beachtung findet, obwohl er die Gelder der Versicherten und oft auch deren Lebensqualität kostet.

Die Gesundheitslüge

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