Читать книгу Scheinheilung und Patientenerschaffung - Die heillose Kultur - Band 3 - Dr. Phil. Monika Eichenauer - Страница 13

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Gesellschaftlich notwendige Medizin

„Medizin“ als Heilmittel muss zwangsläufig auch andere Methoden und Behandlungen umfassen als die klassische Medizin heutzutage anbietet. Der Blick auf den Menschen aus medizinischer Sicht ist veraltet; denn der Mensch war schon immer und wird immer mehr sein als nur „Körper“. Obwohl das Medizin- und Behandlungsverständnis seit 10 Jahren um die (geisteswissenschaftliche) Psychologische Psychotherapie erweitert wurde, wird dieses Facharztgebiet nicht genügend durch das Berufsrecht gefördert und finanziell unterfüttert.

Eine umfassende und nicht mit der gegenwärtigen Medizin zu vergleichende Medizin muss die gesellschaftlichen Entwicklungen wahrnehmen und ihnen Rechnung tragen. Sie muss hören, fühlen, denken und Mitgefühl entwickeln und nicht nur Methoden und Produkte für einen Markt ersinnen und verkaufen. Insofern muss diese Medizin parteilos- und ideologiefrei nur für einen Partei ergreifen dürfen: Für den Menschen.

Medizin muss menschlich sein und kann als System nur von Menschen beseelt und zum Leben erweckt werden, die im Kern mit dem Heilungsprinzip verbunden sind. Medizin kann gegenwärtig nur über eine Methode realisiert werden, die den ihr Anvertrauten Einfühlung und Mitgefühl bietet und entsprechende Modelle zur Lösung von Konflikten und Symptomen, seien es körperliche oder psychische, entwickelt. Dafür braucht man ein Paradigma, das festlegt, wie man den Menschen sieht, den man heilen will. Das cartesianische Paradigma ist für den Menschen zu eng, zu klein und reduziert.

Die gegenwärtige klassisch-naturwissenschaftliche Medizin ist eine Pflasterverkäufer-, Notfall-, Apparate-, Organ- und Operationsmedizin, die es nicht geschafft hat, über funktionelle Abläufe hinaus Erklärungsgrundlagen zu liefern. Ihr fehlt der Zusammenhang – sie ist auf dem Niveau des Zählens und Benennens, Zusammenfassens und Kategorisierens stehen geblieben. Wenn die klassische Medizin sich als „ganzheitlich“ präsentiert, geschieht dies durch das bloße Aufzählen „modern verdünnter“ Methoden. Entsprechend sehen die Ergebnisse in der klassischen Medizin aus. Es fehlt das Kochbuch, das Zutaten durch Denken und Tun zu etwas Neuem und Sinnvollen werden lässt. Und es fehlt das Paradigma eines neuen und „menschlichen“ Menschenbildes, das dem Fachbereich zugrunde läge. Der geisteswissenschaftliche Zweig in der Gesundheitswirtschaft, das heißt, die Zahl der Psychologischen Psychotherapeuten, die den Menschen zuhören und ein völlig anderes Methodenspektrum zu bieten haben als naturwissenschaftlich ausgebildete Mediziner, muss der Anzahl der Mediziner entsprechend aufgestockt und etabliert werden.

Psychologische Psychotherapeuten geben Hilfestellung bei Konfliktlösungen, indem sie über den Tellerrand eines allzu eng umgrenzten Berufs- und Handlungsfeldes hinaus sehen und hören – zumal sie dank ihrer Patienten tagtäglich hörend und sehend gemacht werden. Umgekehrt werden die Patienten hörend, sehend und fühlend in psychotherapeutischen Behandlungen … Auf diese Weise ließe sich mit vielfältigen Missständen kulturell umgehen: Die Psychologischen Psychotherapeuten sind Zeugen der Leiden und Schmerzen in Folge dessen, was Menschen dem Menschen antun. Gefühle und Zusammenhänge, die in Psychotherapien offenbart werden, sind ein Spiegel des gesellschaftlichen Lebens und der Geschichte von Menschen und Kultur. Sie legen Zeugnis von Beziehungsfähigkeit und Beziehungsgestaltung ab.

Eine Medizin, die heilen will, muss daher den „wissenschaftlichen“ Untersuchungsgegenstand um die gesellschaftlichen Einflüsse erweitern. Während die klassische Medizin den Körper, die Auflistung seiner Einzelteile und deren funktionelles Zusammenspiel auflistet und als „Untersuchungs- und Behandlungsgegenstand“ betrachtet, hat die Psychologische Psychotherapie die Seele und die Psyche von Menschen und in der Folge deren emotionales Erleben als „Untersuchungs- und Behandlungsgegenstand“. Sie spürt Beziehungen nach und zeigt auf, wie Psyche und Seele im Körper und umgekehrt, der Körper auf Psyche und Seele einwirken und wie soziale Gefüge, kulturelle und wirtschaftliche Veränderungen Menschen reflexiv in ihrem Gefühls- und Seelenleben beeinflussen und ggf. Verunmöglichen, so dass Menschen krank werden, sind und – ohne Behandlung – bleiben. So lassen sich die Verhaltensweisen von Menschen aus der Lebens- und Kulturgeschichte individuell emotional rekonstruieren und erklären – und organische Leiden heilen. Aber auch psychotherapeutische Behandlungen können Sozial- und Gesellschaftsstrukturen nur bedingt und wenn, nur langsam politisch in positive Richtung verändern. In den letzten 10 Jahren hat sich kontinuierlich und massiv ein Ungleichgewicht zwischen sozialen Veränderungen, die nachhaltig Leben und emotionales Erleben von Menschen aufgrund sozialer und wirtschaftlicher Veränderungen in negative Richtung manifestieren, und einerseits knapper psychotherapeutischen Behandlungsplätzen und andererseits fehlendem Zusammenhangsdenken in den psychotherapeutischen Behandlungsmethoden, aufgrund eines fehlendem politischen Berufseinfluss, entwickelt: Es gibt viel mehr Menschen, die in diesen Krisenzeiten psychotherapeutischer Unterstützung bedürfen, als angeboten werden kann. Dies gilt sowohl für seelische, psychische und körperliche Symptome und Erkrankungen aufgrund der Auswirkungen wirtschaftlicher und kultureller Veränderungen.

Psychologische Psychotherapie bietet Erklärungen, die Lösungen hervorbringen und damit Änderungen im Erleben und damit im Verhalten von Menschen bewirken. Da Verhalten und Erleben immer in einem gesellschaftlichen Kontext stattfindet, muss die Medizin den Untersuchungsgegenstand „Körper“ in den Rahmen setzen, der ihn erst zum Menschen werden lässt: Soziale und gesellschaftliche Umstände sowie die Form der Beziehungsgestaltung, die Menschen erleb(t)en, stehen dabei im Mittelpunkt. Darin sind gesunde und kranke Einflüsse und Verarbeitungsweisen zu reflektieren. Die Gegenwart zeigt eine völlige Verarmung des Untersuchungsgegenstandes „Körper“ und des Menschen, dem dieser Körper gehört. Der Mensch ist mittels seines Körpers zum ökonomischen Feld für Gewinne mutiert. Diejenigen, die den Körper behandeln, werden gesetzlich dazu gezwungen, gegen ihre Berufung, Menschen helfen und heilen zu wollen, zu verstoßen. Ärzte werden selbst zur käuflichen Ware. Medizin ist ökonomisiert, Heilung ad acta gelegt. So wie Politiker alles ihren ideologischen Interessen und wirtschaftlichen Zielen unterordnet, so soll die Elite im deutschen Gesundheitswesen ihre Patienten behandeln – ungeachtet der Situationen des Einzelnen. Im psychotherapeutischen Fachbereich ist das schlicht unmöglich, zumindest im tiefenpsychologisch-analytischen Bereich.

Die klassische Medizin und die psychologische Psychotherapie haben gemeinsam eine neue Medizin zu entwickeln, die dem Heilungsprinzip folgt und nicht der kapitalistischen Ökonomie – dabei kann und darf die gesellschaftliche Entwicklung und deren Auswirkung auf Menschen nicht länger außer Acht gelassen werden. Der Kapitalismus hat nach immer neuen und abzugrasenden Tätigkeitsfeldern Ausschau gehalten. Er hat alles käuflich und zu Geld gemacht.

Insofern ist das Gesundheitswesen als die letzte Bastion zu betrachten, die der allgemeinen Wettbewerbswirtschaft als Investitionsknochen angeboten wurde und wird. Universitäten und damit die Prinzipien der Wissenschaft wie „Objektivität“ und „Unabhängigkeit“ werden verkauft. Unternehmensberater sollen das deutsche Gesundheitswesen „heilen“ … Na, Prost Mahlzeit!

Ärzte- und Psychotherapeutenschaft befinden sich seit Jahren in existenziellen Krisen, die durch politische Reformen eingeleitet wurden, um in völlig neuer Form zur „Gesundheit“ in der Bevölkerung beizutragen. Von mehr Gesundheit ist jedoch keine Spur. Im Gegenteil. Außerdem wird den Ärzten und Psychologischen Psychotherapeuten systematisch die Schuld für Missstände zugeschoben. Sie werden mittels chronischer Unterfinanzierung in Reformen hineingedrängt, die sie aus ihrem Berufsethos heraus nicht verantworten können. Herauskommt ein völlig neues Bild von „Professionalität“, das mit dem ursprünglichen Berufsbild nicht mehr viel gemein hat.

Ärzte- und Psychotherapeutenschaft sind, ebenso wie Patienten zu Behandlungsempfängern, vollends zu untergeordneten Befehlsausführern von Politik und Ökonomie degradiert. Hier kollidieren die tägliche Berufspraxis und das an Heilung orientierte Berufsethos. Der ökonomische Himmel auf Erden soll mittels der Behandler aufgespannt werden. All die Veränderungen des deutschen Gesundheitswesens finden unter den Vorzeichen des globalen Kapitalismus statt. Der Kapitalismus produziert seinen glorreichen Glanz auf Kosten tiefster Dunkelheit für die Mehrheit der Menschen auf der Welt. Dem erschreckenden Zuwachs an Elend, Not, Armut und Verarmung steht eine rasant steigende Zahl von Billiardären gegenüber. Ein solches Szenario ist nicht mehr allein durch „ökonomische Gesetzmäßigkeiten“ und „wirtschaftliche Notwendigkeiten“ zu erklären, zumal selbst „Oben“ immer wieder Lichter aufblitzen, die ernsthaft an Schadensbegrenzungen interessiert sind.

Was aber ist an Menschen „natürlich“ und „menschlich“, die wirtschaftlich-kapitalistisch, wettbewerbs- wie produktorientiert erfolgreich handeln? Ob sie freiwillig um neue Lösungen ringen, um zu ersinnen, wie Menschen erst gar nicht in Notsituationen geraten müss(t)en und ihnen demgemäß auch die psychischen und seelischen Qualen erspart bleiben könn(t)en, ist zu bezweifeln. Sie reagieren weniger auf Arme, Kranke und Tote, denn auf Kursschwankungen und Finanzkrisen der Banken. Weder kapitalistische Kern- noch Polschmelze bringen sie zur Einsicht, freiwillig ihre Motive des Handelns zu überprüfen. Diese Zusammenhänge gelten in Deutschland wie überall auf der Welt und unterscheiden sich lediglich in Graden. Für die „Befehlsempfängernatur“, mit der Menschen es vor sich selbst begründen, anderen Menschen Schmerz zuzufügen, bietet Alice Miller eine Erklärung an, die bis heute zum Nachdenken anregt:

„Wenn die Züchtigung des Kindes als ein Liebesbeweis ausgegeben wird, führt das zu einer Verwirrung, die später ihre Früchte trägt. Wenn sich diese Kinder auf der politischen Ebene betätigen, setzen sie das einst an ihnen begonnene Zerstörungswerk fort und tarnen dies ebenfalls mit ihrer Rolle als Heilbringer, wie es einst ihre Eltern taten. Sowohl Stalin als auch Hitler wollten angeblich nur Gutes. Das Morden war ja nur ein notwendiges Mittel zum guten Zweck. Diese Ideologie haben sie von beiden Eltern vermittelt bekommen. Wäre dies nicht so, wäre ein Elternteil als helfender Zeuge aufgetreten und hätte das Kind vor Brutalität und Lieblosigkeit des anderen geschützt, diese Kinder wären später nicht zu Verbrechern geworden.“ (Der geheime Schlüssel, 1996).

Morden muss man nicht selbst. Menschen fallen auch von allein bei zu hohen Schadstoffbelastungen tot um oder bekommen einige Jahre später Krebs. Die Risiken an Mensch und Leben stoßen in der Wirtschaft auf wenig Interesse, entsprechend dürftig ist der Schutz. Man weiß es zwar, man spricht auch mal darüber … Doch hat man darüber gesprochen, bleibt alles, wie es war.

Natürlich gibt es kritische Pressemitteilungen und auch Demonstrationen, wobei die Demonstranten im Handumdrehen als die „Bösen“ ins Licht der Öffentlichkeit rücken. Die könnten ja etwas Furchtbares tun. 92 Millionen Euro wurden 2007 allein für den Schutz der Politiker auf dem G8-Gipfel in Heiligendamm ausgegeben … Verändert sich deshalb etwas? Das Ergebnis: In 50 Jahren sind die Schadstoffe vielleicht auf die Hälfte reduziert.

Die Frage, wie viel Geld, wie viel Millionen, für den Schutz des menschlichen Wesens und für die Seele ausgegeben werden ist leicht beantwortet: Kein Cent wird investiert.

Investitionen richten sich darauf, wie man den Umstand, dass Menschen krank werden und körperlich und psychisch Unterstützung brauchen Gewinn bringend nutzen kann: Aus sozialer Misere, Leid und Krankheit wird im Rahmen der Globalisierung pünktlich ein Geschäft gemacht. Dafür war es notwendig, die Ärzteschaft im Berufsrecht zu beschneiden, zu kontrollieren und zu budgetieren, weil davon auszugehen war, dass sie sonst ihrem alten Berufsethos folgend, zum einen Menschen „gleich“ (lukrativ) behandelt hätten und zum anderen in die eigene Tasche gearbeitet hätten, statt Kooperation zwischen den Fachbereichen und Überweisungspraxis zum Zwecke von Differentialdiagnosen anzustreben, die zumindest oberflächlich ein Bemühen, Menschen heilen zu wollen, hätten ablesen lassen können. Psychologische Psychotherapeuten wurden zahlenmäßig von vornherein auf ein Minimum beschränkt, weil absehbar war, dass sie im Sinne des Menschen, des Patienten beruflich handeln würden. Die Gewinne aus der beruflichen und finanziellen Beschneidung der Ärzte- und Psychotherapeutenschaft werden wie mit einem Staubsauger von oben abgesaugt. Die Krankenkassen fahren die Gewinne aufgrund von „wissenschaftlichen“ Behandlungsmethoden, die oberflächlich oder nur halb heilen, ein: denn dann kann man sicher sein, dass weitere Behandlungen notwendig werden, die den Kreislauf von Kapitalisierung und Gewinn in Gang halten.

An dieser Stelle scheint mir ein kleiner Exkurs erforderlich, der die gesellschaftspolitischen Auswirkungen thematisiert, die von der Politik als auch für die Wirtschaft überlebensnotwendig deklariert werden. Inwiefern das Verhalten, Zerstörerisches zu tun und es gleichzeitig als gut und Heil bringend auszugeben, ein Ausläufer der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ist, bliebe fachlich interdisziplinär zu untersuchen. Die konkreten Auswirkungen auf Lebensbedingungen und Lebensinhalte von Menschen liegen allerdings faktisch vor. Es muss nach einer Lösung gesucht werden, aus dem kapitalistischen Grundkonflikt heraustreten zu können. Kernfrage muss sein: Wie kann man schadensfrei zum Wohle aller Menschen und der Natur produzieren ohne weitere Zerstörung an beiden, Mensch und Natur, anzurichten? Diese Frage und eventuelle Lösungen sind jedoch nur über die Beziehungsfähigkeit von Menschen ohne jegliche Verratsstrukturen zu konzipieren, die – entlang menschlicher Bedürfnisse – eine für alle verbindliche, eindimensionale Ethik und Moral zugrunde legt. Ziel muss die Gleichheit auf einer echten, zweifelsfreien Vertrauensbasis sein, frei von einer ökonomisierten Einteilung in Menschenklassen. Denn das ängstlich, durch kapitalistische Nutznießer beäugte kapitalistische Wirtschaftssystem hinsichtlich seines Potenzials, revolutionäre oder modern gesprochen, terroristische Gegenwehr hervorzubringen, vereitelt eine grundsätzliche Reflexion des kapitalistischen Systems selbst: Die zerstörerischen Komponenten, die Menschen und Natur betreffen, wurden/werden ausgeblendet, verdrängt, abgespalten, unendlich verkleinert und bagatellisiert. „Oben“ betont man, es gehe lediglich um das Beste für alle. Zutage trat aber eine Zweiklassengesellschaft mit einer Zweiklassenmedizin. Warum? Es gibt keinen Geldmangel. Es gibt einen Verteilungsmangel – der gesellschaftliche Schlüssel passt nicht mehr. Die Folgen der Wirtschaftsordnung und das Verteilungssystem auf Basis einer zersplitterten Ethik und Moral durch Profit- und Gewinnsucht schuf eine Zweiklassenmoral, die das gesamte gesellschaftliche Leben prägt und sprengt.

Um diesen Schlüssel zur Verteilung des Reichtums rankt sich offenbar ein Geheimnis, da er nicht einzig mit Profitsucht zu erklären ist. Aber eines ist sicher: Es sind alles ängstliche Menschen, die Macht in Händen halten und die daher kontrollieren müssen, was im Volke vor sich geht. Es fehlt ihnen an Vertrauen zu den Menschen. Definitiv meiden sie dieses „Unten“, wo der Großteil der Menschheit lebt und leben muss, weil man an ihnen in jeder Hinsicht verdienen will. Nun könnte man an dieser Stelle verwundert erwidern: „Das verstehe ich gar nicht, dieses Leben haben sie doch immer als so erstrebenswert dargestellt, gesegnet mit sozialen Absicherungen und Errungenschaften … Und erst der Qualitätsstandard in der Zweiklassenmedizin und die 60 qm Wohnraum, die Hartz-IV-Beziehern zusteht!“ Doch genug der Ironie. Psychodiagnostisch wären die Persönlichkeitsstrukturen der „Macher des Managements“ weltweit in Augenschein zu nehmen und zu prüfen, ob man nicht generell von einer wie selbstverständlich etablierten Gewinn- und Profitsucht mit Krankheitswert sprechen müsste. Ihr Job bedeutet grundsätzlich, bewusst Risiken einzugehen und auch über Leben und Sterben entscheiden zu müssen. Für diese (unmenschliche) Risikobereitschaft wurden und werden sie bestens bezahlt. Und geht mal etwas schief, fängt eine Versicherung sie auf. Bei Rechtsüberschreitungen winken eine einfühlsam Rechtssprechungen und eine großzügige Abfindung. Die „mutigen“ Manager sorgen mit ihren Entscheidungen für Leid, Schmerz und Not – und grandiose Gewinne. Dies bewusst vor dem Hintergrund, dass Zeit dabei eine wesentliche Rolle spielt. Denn bis offenbar wird, was an Schädlichem, Lebens- wie Menschenfeindlichem vor sich gegangen ist, wird viel Geld erwirtschaftet. Ein Bürger, ein Patient, ein Behandler hat diesen Schutz nicht. Die Ärzteschaft wird sogar erbärmlich honoriert, indem sie laut Hippokratischem Eid ihr Letztes und Bestes zu geben hat, um Menschen gesunden zu lassen. Was ist das für eine Logik? An keiner Stelle tritt die Ideologie des Wettbewerbs deutlicher ins Licht der Gesellschaft. Am besten wird der Mensch bezahlt, der bereit ist, zu vergiften, ganze Landstriche und Menschengruppen zu vernichten, verhungern, verdursten, obdachlos werden zu lassen und notfalls auch Krieg zu führen, um an Rohstoffquellen fremder Völker zu gelangen. Diesen Menschen steht die Welt offen und liegt jeder Luxus zu Füßen.

Der Dopingskandal im deutschen wie europäischen Radsport gibt Auskunft über unsere gesellschaftliche Wirklichkeit: Man hat es gemacht, weil es ging. In der Wirtschaft wird es ähnlich sein – und den Medizinern unterstellt man, sie würden falsch abrechnen, weil es ginge! Zählt man die Summen zusammen und teilt sie durch sämtliche Ärzte innerhalb des KV-Systems, kommt man auf lächerliche 461,54 EUR pro Jahr und Behandler – wobei der Nachweis des Vorsatzes erst noch zu erbringen wäre. Bei dieser Berechnung legte ich die von Vollborn und Georgescu (2005) unvollständig beigebrachten Datensätze zugrunde – vielleicht interessiert sich ein Journalist dafür, vollständiges Datenmaterial zu recherchieren. Es waren nur einige, wenige Ärzte und andere Personen im Gesundheitswesen, die Falschabrechnungen vornahmen und nicht die gesamte deutsche Ärzteschaft. Insofern täte hier personelle Differenzierung Not.

Die Berufsgruppen - Ärzte, Manager und Radsportfahrer – unterscheiden sich hinsichtlich ihrer moralischen Einstellung maßgeblich. Moralisch zu handeln ist eben nicht davon abhängig, ob man die Gelegenheit dazu hätte oder nicht. „Hätte es scharfe Kontrollen gegeben, ja, dann …“ Welch erniedrigendes und beschämend wahrhaftiges Selbstzeugnis ist ein solches Statement? Demnach existieren Ethik und Moral nur qua Idee, sind keine verbindlichen Konstanten der Persönlichkeitsbildung und müssen per Gesetz eingefordert werden.

Grund genug, dass sich ein Professor ein Herz fasste, sich mit der Persönlichkeitsbestimmung von Psychopathen aufgrund von Managerentscheidungen auseinandersetzte: Der nun 73-jährige Robert Hare ist der Urheber der Psychopathen-Checkliste und eines 20-Punkte-Tests zur Persönlichkeitsbestimmung. In der Webseite .netzwerkit.de wird mitgeteilt:

„Eine der provokantesten Thesen über das Geschäftsleben in diesem Jahrzehnt stammt von einem 71-jährigen Professor Emeritus der University of British Columbia. Robert Hare ist der Urheber der Psychopathen-Checkliste, eines 20-Punkte Tests zur Persönlichkeitsbestimmung. Hare ist als Experte auf dem Gebiet der Kriminalpsychologie bekannt und seine Technik, psychopathisches Verhalten zu identifizieren, ist legendär. Im August hielt er einen Vortrag vor amerikanischen Gesetzeshütern. Dabei projizierte er Bilder von Mafiakillern und Sexualstraftätern auf eine große Leinwand. Doch bald machten diese Bilder platz für Fotos von leitenden WorldCom- und Enron-Managern. ‚Dies sind abgebrühte, brutale Subjekte,’ sagte Hare. ‚Es kümmert sie nicht, dass andere Menschen Gedanken und Gefühle haben. Sie kennen weder Schuldbewußtsein noch Gewissensbisse.’ Er brachte all das Leid zur Sprache, das diese Wirtschaftsschurken tausenden zugefügt hatten, die durch sie ihre Jobs oder ihre gesamten Ersparnisse verloren hatten. ‚Einige der Opfer erlagen Herzinfarkten oder begingen Selbstmord,’ stellte Hare fest.“ (denverbrown.com in: http://.netzwerkit.de/faq Netzwerk IT;)

Woran erkannt man einen Menschen, den Hare Firmensoziopathen nennt?

„Hare teilt die 20 Charakterzüge in zwei Untergruppen, oder ‚Faktoren’ Wirtschaftspsychopathen erreichen eine hohe Punktzahl beim Faktor 1, nämlich der Kategorie ‚selbstsüchtiges, dreistes und erbarmungsloses Verhalten gegen andere’. Diese Kategorie umfaßt acht Charakterzüge: glatter und oberflächlicher Charme, stark übersteigertes Selbstwertgefühl, krankhaftes Lügen, Neigung zum manipulativen Tricksen, fehlendes Gewissen, seichte Gefühlsregungen (d.h. emotionale Kälte, verdeckt durch dramatisch Zurschaustellung von Gefühl); Härte und Mangel an Empathie; und schließlich die Unfähigkeit, für die eigenen Handlungen die Verantwortung zu übernehmen. Oft verstecken sich derartige Individuen hinter Phrasen wie ‚den Auftrag erledigen’ oder ‚tun, was getan werden muss’. Wirtschaftspsychopathen erreichen beim Faktor 2 eine niedrige bis moderate Punktzahl. Bei diesem Faktor geht es um ‚chronisch instabile, antisoziale und sozial abweichende Lebensführung’, Kennzeichen von Leuten, die im Gefängnis landen für gröbere Verbrechen als kreative Buchhaltung.

Diese Sichtweise wird unterstützt durch die Forschung zweier Psychologinnen an der University of Surrey. Belinda Board und Katarina Fritzon befragten und testeten 39 hochrangige britische Manager und verglichen anschließend ihre Persönlichkeitsprofile mit denen von Verbrechern und Psychiatriepatienten. Die Manager neigten demnach mehr als die Vergleichsgruppe zu oberflächlichem Charme, Selbstbezogenheit, Unaufrichtigkeit und Manipulation. Bei der Neigung zu grandioser Selbstdarstellung, zum Ausnutzen anderer und dem Mangel an Mitgefühl zogen beide Gruppen gleich. Board und Fritzon folgerten: Während Kriminelle ‚erfolglose Psychopathen’ sind, könnten die Geschäftsleute, die sie untersuchten, ‚erfolgreiche Psychopathen’ genannt werden.“ (s.o.: http://.netzwerkit.de/faq)

Oder, wie Howard Scott es ausdrückt:

„Ein Krimineller ist jemand mit räuberischen Instinkten,

der nicht genügend Kapital hat um eine Firma aufzumachen."

Doch die gesellschaftliche Basis, die es ermöglicht, dass diese Wirtschaftsmenschen, Bosse und Manager so wirken können, wie sie wirken, bleibt damit nach wie vor im Dunklen. Zudem muss es einen starken Grund geben, der Menschen so werden und handeln lässt. Allgemein gesprochen ist es das wirtschaftliche System, in dem es sich ausschließlich um Geld dreht. Es ist die Möglichkeit, sich diese Welt zu Untertan zu machen. Der Schatten dieser wirtschaftlich erfolgreichen Männer soll nicht nur das Elend und die Zerstörung verbergen, sondern gleichzeitig werden jene, die nicht über so viel Einfluss, Macht und Kapital verfügen, als „gut“ und „richtig“ beurteilt und damit vom Psycho-pathieurteil generell freigesprochen. Dass dies nicht die ganze Realität ist und sein kann, muss wohl nicht besonders betont werden. Es gibt unzählige „Grausamkeitsarbeiter“ (Mitscherlich) und „Befehlsempfänger“ (Pilgrim/Miller), die ihre Verantwortung an die Vorgesetzten und diese an den Gesetzgeber und diese an Politiker und diese dann letztendlich der Wirtschaft und diese dann an das System und deren Notwendigkeiten abgeben. Ein System der Verantwortungslosigkeit: Niemand hat Verantwortung. Verantwortung ist anonymisiert und ins gesellschaftliche Nirwana verbannt.

Wie aber sind wir, dass wir uns unterordnen und fügen, und nicht bereit sind, Verantwortung zu übernehmen – oder zumindest nicht in dem Maße, wie es gesellschaftlich dringend notwendig wäre. Was ist das Mittel, um Millionen Menschen zu lähmen und zu entmündigen? Was muss so geschützt werden, dass alle vor Schreck erstarren, wenn es darum geht, schlicht und einfach eine aufrichtige Meinung zu sagen, oder mitzuteilen, was gefühlt wird, oder wie sie leben und was sie erleben? Müssten in solchen kritischen gesellschaftspolitischen Lagen wie der rigorosen Einteilung in Oben und Unten nicht die besten Köpfe Einfluss nehmen und Begrenzungen für unverantwortliche wirtschaftliche Entscheidungen, die als Nebenwirkung Natur und Menschen in vielfachen Formen schaden und zerstören, schaffen können? Insbesondere fehlen Begrenzungen bezüglich DAX 30 Unternehmen und Aufkäufen von Firmen, Städten, Ländereien und Wäldern im großen Stil. Begrenzungen, die nicht mittels des Flügelschlag eines Schmetterlings eines einzelnen Managers die gesamte Weltwirtschaft von einem auf den anderen Augenblick ins Wanken bringen können, wie der folgenden Mitteilung zu entnehmen ist: Finanzinvestoren, die ganze Firmen kaufen – Private Equity (Arne Storn: Kaufrausch auf Kredit. In: DIE ZEIT, S. 27, 21.06.2007). Wenn wir alle so abhängig von dieser Dimension des „Oben“ sind, drängt sich die Frage nach Demokratie in ihrem ursprünglichen Sinne auf. Denn natürlich übernehmen Menschen Verantwortung – für ihre Kinder, Ehepartner, Eltern. Sie übernehmen Verantwortung für ihr eigenes Leben, setzen ihren Arbeitsplatz nicht aufs Spiel, weil sie ihre Mieten und Steuern bezahlen müssen. Sie übernehmen Verantwortung für ihre Existenz, deren Basis allerdings immer schmaler wird. Sie legen sich krumm und arbeiten sich krank.

Menschen und Bürger müssen sich selbst schützen. Das ist ein schwieriges Unterfangen: Denn die Gier der Wirtschaft und des Staates ist unermesslich, menschenverachtend und schamlos. Was ist die Demokratie wert in einer so gefräßigen Welt? Was ist Demokratie wert, wenn die Menschen sich selbst schützen müssen und sich niemand für ihre Grundrechte und Werte eintritt? Wer es dennoch tut, sieht sich flugs geänderten Gesetzen gegenüber – und wieder stehen die Bürger mit leeren Händen dar. Doch der Mut, sich zu wehren, seine Rechte einzuklagen sinkt in dem Maße, wie die Angst wächst: die Angst, alles zu verlieren, zu hungern, kein Dach über den Kopf zu haben, zu sterben. Wo ist die viel gepriesene Demokratie, wenn es ernst wird im Leben von Menschen? Solange die klugen und guten Köpfe in Deutschland sich ausschließlich fachlich und kompliziert äußern, sind sie nicht viel wert für „Unten“ – denn dann versteht sie niemand. Aber für wen sprechen, schreiben und denken sie, wenn nicht für Menschen von „Unten“? Für ihre Fachkollegen müssen sie nicht schreiben oder denken. Für „Oben“ müssen sie auch nicht schreiben. Da können sie sich nur höchstbietend verkaufen. „Wissen“ muss man dort „Oben“ nur, was „Unten“ vor sich geht. Welche Funktion hat die Demokratie in Deutschland also noch? Eine Aufpasserfunktion, um Konflikte nicht eskalieren zu lassen und politisch zu einzudämmen? Der drohende gesellschaftliche Ausschluss, die Stigmatisierung, Hunger und Verarmung, die endgültige Abwertung des Lebens und des Menschen, der mittels Vorschriften in enge sozialpolitische Käfige und existenzielle Lebensbedingungen hineingezwungen wird, zur Ein- und Unterordnung, verurteilt zum Schweigen … Das sind die sozialpolitischen und psychoökonomischen Auswirkungen eines Wirtschaftssystems, das vor allen Dingen, folgt man der Untersuchung Robert Hare’s, psychopathologisch durch noch genauer zu analysierende Züge beschreibbar werden sollte. Der Macht der Wirtschaft und den Kontrollfunktionen der Demokratie steht die Ohnmacht der – abhängigen – Bürger gegenüber. Es müssen menschliche Lösungen gefunden werden, damit alle Menschen leben können. Dafür ist Nähe und Berührung notwendig, die in einem Menschen den anderen Menschen erkennen lassen und auch das „Sich selbst im anderen Menschen erkennen“ gestatten. Verurteilung, Vorurteil und Urteil hingegen vereiteln Erkenntnis, Lösung, Nähe und zerstören menschliches Gattungswesen. Existenzielle Abhängigkeitsstrukturen, wie sie durch die kapitalistische Ökonomie bestehen, blockieren freie Meinungsäußerung, psychische und seelische Entwicklungsmöglichkeiten, erzwingen Unterordnung und bringen massenhaft Krankheiten hervor, die dann von „Unten“ ebenso zu bezahlen sind wie alles andere. Sie entstellen Menschen psychisch, seelisch und körperlich und funktionalisieren sie mittels Fragmentierungen – hervorgerufen durch ständigen Stress, durch Angst und Sorge. Die dunkle Seite einer Ökonomie und Politik, die in völlig anderen Sphären lebt und handelt und das Leben der Bürger und Menschen von „Unten“ gefährdet. Die generelle Botschaft lautet: „Du bist nichts wert.“ Was aber will man „Oben“ eigentlich erreichen, wo will man denn hin? Lohnt sich die Erfüllung des Ziels der Kapitalvermehrung und der Macht, um dafür in Kauf zu nehmen, was Millionen Menschen an Lebensmöglichkeit beschert wird?

Angemessen erscheint eine Frage, wie Philip Reemtsma sie hinsichtlich des „Grausamkeits-Konzepts“ von Mitscherlich als Lösungsrichtung anbietet:

„Wann entwickeln Kulturen einen Abscheu gegen Grausamkeiten? Wann werden ihnen einige Grausamkeiten zum Rätsel? Welches Triebschicksal (oder was auch immer) bringt Individuen dazu, auch in grausamkeitslegitimierenden Zeiten sich solcher Taten zu verweigern? Wie wäre es, das ‚Rätsel der Grausamkeit’ analog zur Vorstellung der Deckerinnerung zu einem Deckrätsel zu erklären? Was wäre eigentlich das Beunruhigende an solchen Fragen? Das Letztere kann ich noch nicht bündig beantworten, wenn mir auch scheint, dass weniger die Präsenz des Mörders und Folterers an unserem Abendbrottisch uns irritiert, als der Umstand, dass wir mit ihm dort sitzen – und sitzen bleiben.“ (in: Drews, S. 90)

Die Frage bleibt also, warum sind wir alle da, wo wir sind, sitzen und verharren so? Grausam ist es, Patienten nicht mit den besten Methoden und der besten Medizin zu behandeln, weil das ökonomische System es nicht will. Es ist es grausam, dass der Erfahrungshorizont von Behandlern hinsichtlich bestimmter Behandlungssettings weiter reicht als jede Statistik es jemals offenbar werden lassen könnte und Ärzten ökonomisch die Hände bindet. Der Behandler wird also statistisch gegen eventuelle Folgen aus Qualitätsstandardbehandlungen mittels ökonomischer Leitlinien aus Reformen ob des „eigenen besseren“ Wissens und Gewissen juristisch abgesichert? Der Arzt ordnet sich also aus eigenem Selbsterhaltungstrieb dem ökonomischen System unter, statt der eigenen inneren Verpflichtung, die an dieser Stelle einmal mit dem Hippokratischen Eid gleich setze, nachzukommen? Wie leben Ärzte mit dieser Diskrepanz?

Auch das „alte“ Gesundheitswesen war gekennzeichnet durch Macht und Geldgier der ärztlichen Standesorganisationen – aber nun ist generell die kapitalistische Wirtschaft in den Gesundheitsmarkt eingeladen oder anders herum formuliert: Es ist der kapitalistischen Wirtschaft ein neuer Markt geschenkt worden, für den bereits enorme Gewinne prognostiziert wurden. Das Konflikt- und Zerstörungspotenzial dieses „Gesundheitssystems“ ist - der kapitalistischen Systematik zufolge - erneut im und durch den Menschen auszutragen. Es ist ein Misstrauenssystem installiert worden, und zwar in einem Bereich, in dem Menschen vollends abhängig und hilflos sind.

Während der kapitalistische Markt und deren Manager auf der gesellschaftlichen Bühne immer wieder mit blütenweißer Weste erscheinen, sind die Bürger aufgerufen, ihr Vertrauen den Politikern zu schenken und sich der Wirtschaft unter zu ordnen. Dass skandalöse Untersuchungsergebnisse ebenso gesellschaftlich assimiliert werden wie offensichtliche Menschenrechtsverletzungen, unterlassene Hilfeleistungen und gewollte erniedrigende Existenzbedingungen gesetzlich legitimiert werden, kann in Verlängerung der Erfahrungen mit kriminellen Wirtschaftsverbrechen angenommen werden. Politiker werden wohl kaum erklären, dass sie die gesellschaftlichen Folgen einer Gesundheitswirtschaft nicht kennten. Immerhin spiegeln sich die Konsequenzen der gegenwärtigen wirtschaftlichen Ethik und Moral in jedem Menschen in Form von Krisen, Zerstörung von Lebensplänen und körperlichen und psychischen Krankheiten wider.

Aber warum wird trotz besseren Wissens gegen Menschen, Leben und Gesundheit gehandelt? Wieso bekommt Zerstörung weltweit die Überhand gegenüber Heilung?Warum nehmen wir so viel Zerstörung in Kauf? Grundsätzlich ist das Geldverteilungssystem prägend – für „Oben“ wie für „Unten“. Wie können Vertreter von Oben und Unten an einem Tisch ihren Platz finden und über die Auswirkungen dessen sprechen, wie ihr und generell jegliches Leben von diesem System der primären Kapitalisierung ergriffen ist. Spätestens jetzt sollte es allen (Nach-)Denkenden klar sein, dass es so, wie es ist, nicht weiter gehen kann; denn zurzeit wird das Heilungsprinzip im Gesundheitswesen abgeschafft – unter unseren Augen und unserer tatenlosen Mitwirkung. Sind Ärzte und Patienten nur noch Statisten, die zu allem, was ökonomisch begründet wird, Beifall klatschen und sich fügen, die ihr eigenes Gefühl, wie ihr Wissen und ihre Erfahrungen auf Eis legen - womöglich für bessere Zeiten, die sich möglichst von allein einstellen? Die Erfahrungen, die Menschen unter diesen gewaltsamen Lebens- und Arbeitsbedingungen machen, werden in das Reich des Persönlichen verwiesen:

Damit hat jeder selbst und allein klar zu kommen..........

Folglich ruft auch niemand der Betroffenen nach der „roten Karte“, um sich als neues „Opfer“ zur Einordnung ideologischer Kategorien zur Verfügung zu stellen. Das Bewusstsein, dass Menschen nicht viel wert sind, liegt historisch und täglich aktuell und frisch in der Presse als Ergebnis von Bildung dieser Art von Menschlichkeit vor – es müsste eine lange Aufzählung von Normalitäten an dieser Stelle erfolgen, die keine Normalitäten sind. Ein willkürlicher Blick in die Tageszeitung zählt auf: 24 fast verhungerte Kinder vegetierten in Bagdad in einem Waisenhaus. Gewaltserie in Berlin innerhalb einer Woche: Fünf Kinder im Alter von 10 und 11 Jahren schlugen einen Mitschüler in Moabit zusammen; sie filmten das Geschehen auf Handy. In Neukölln wurde ein Lehrer von einem Jugendlichen zusammengeschlagen. An einer anderen Schule in Neukölln wurde ein 15-Jähriger von einem Mitschüler geschlagen – und am Dienstag von zwei schulfremden Jugendlichen bedroht. Ebenfalls am Freitag wurde an einer Realschule in Tempelhof eine Lehrerin von zwei maskierten Jugendlichen mit einer Stahlrute bedroht. Die Täter raubten die Handtasche, in der sie Zeugnisse vermuteten. In Lichtenberg bedrohte ein Schüler eine Lehrerin mit dem Tod, nachdem sie ihm das Handy weggenommen hatte. In Neu Delhi führte ein 15-Jähriger Junge einen Kaiserschnitt im Beisein seiner beiden Arzteltern durch, um ins „Guinnes-Buch der Rekorde“ zu kommen. Der Vater entgegnete empörten Kollegen: „Wieso soll ein 15-Jähriger nicht operieren, wenn 10-Jährige Autofahren können.“ Bombay will den Slum verkaufen – und lockt Anleger mit „Jahrtausend-Geschäft“; die Armen kämpfen um ihre Müllhütten … (Artikel in der Westfälischen Rundschau, 21.6.2007). Angesichts der täglichen Flut solcher Nachrichten fragt man sich doch, welche Wirkungen solche Mitteilungen noch haben. Ist der Mensch überhaupt noch gefragt? Das einzelne kleine Leben interessiert doch gar nicht. Die Zeit, das Leben und alles, was damit zu tun hat, hat der Ökonomie zu folgen: Wir „ticken“ alle wie der kapitalistische Wettbewerb es braucht, damit er es schön bequem hat. Dort „Oben“ verlässt man sich darauf, dass es Menschen gibt, die dafür bezahlt werden, das bisschen wieder einzurenken, was unter diesen Umständen an und in Menschen zerbricht. Was sind schon ein paar Millionen von Krankheitssymptomen und Kriegsfolgen betroffener Menschen verglichen mit den großen Ideen und Plänen der Wirtschaft und ihrer Profite. Was bedeuten die Tatsachen des Anwachsens von über 50 % der Kredit- und Scheckkartenkriminalität, das Ansteigen der Drogentoten erstmals wieder seit 2000 und dass Deutschland zum Anbauland von Haschisch werde sowie, dass täglich mehr als eine fremdenfeindlich motivierte Gewalttat in Deutschland begangen werde? (vgl. Ruhr-Nachrichten, 29.3.2008) Diese Entwicklungen sind eher als Abbau von Kultur und Werten im Menschen zu verstehen, denn als Ausweis eines Landes, in dem es Grund zur Zuversicht gäbe.

Prognostisch wäre zu sagen, solange aber die persönliche Vergangenheit im Einzelnen nicht aufgearbeitet wird, werden sich gesellschaftliche Verhältnisse weiter zuspitzen, statt sich zum Positiven zu verbessern. Diese Art von Abstumpfung und Akzeptanz von Normalität durch ständige Hiobsbotschaften von menschlichem Leid in vielfältiger Form, muss sensibilisiert werden. Dabei hilft zum einen weniger, noch mehr Leid von anderen zu assimilieren, sondern eigenes emotionales Erleben anzunehmen. Was fehlt, ist eine kulturelle Struktur, in der der Strom dieser persönlichen und emotionalen Erkenntnisse und Reflexionen ein Ufer fände, das Menschen zusammenführt, sie in Kommunikation brächte. Die Etablierung von Anonymität, Entpersönlichung, Distanzierung und bürokratische Verwaltung in unserer Kultur forciert seit langer Zeit Vereinsamung, die als Reaktion Krankheit, Kriminalität und Drogensucht hervorbringt. Obendrein zeigt Deutschland im Straßenbild Menschen, die gleichgültig und desinteressiert wirken. Ob VerkäuferInnen, BeamtInnen, Straßenbahn-, Bus- und BahnschaffnerInnen, alle verbreiten ein Flair von Distanz, Pflichterfüllung, streng und cool an Vorschriften gebunden, nicht bereit auch nur zu einem netten Wort oder Verständnis und Einfühlung, wenn der Ablauf nicht so ist, wie er sein sollte. Beim Einkauf sind Menschen solange umworben und nett angesprochen, solange sich ihr Einkaufswagen noch vor der Kasse befindet. Das ändert sich drastisch, wenn die Waren bezahlt sind. Schnellstens muss eingepackt sein, sonst gibt es böse Blicke von nachfolgenden Kunden oder der Kassiererin. In Deutschland ist man nicht nett und freundlich. Unvergessen ist mir ein älteres Ehepaar, das hilflos und verloren vor einem REWE stand und schon mehrere Menschen angesprochen hatte, ob sie eine Münze tauschen könnten, um aus der miteinander verbundenen Einkaufswagenreihe einen für sich auszulösen. Ich fing einen Blick von ihnen auf und ging zu ihnen. Sie waren völlig überrascht und freuten sich riesig, als ich sie fragte, wie ich ihnen helfen könnte. Ich gab ihnen einen Euro. Berührt erzählten sie, wie sie bereits seit einiger Zeit völlig aufgeschmissen dort gestanden haben: „Das ist ja ungewöhnlich, dass es noch einen Menschen gibt, der mitbekommt, was wir hier gerade erleben......“ Diese Rede berührte mich dann wiederum, weil ich nicht nachvollziehen konnte, dass niemand den beiden geholfen hat.....

Zum anderen, um wieder den Faden aufzunehmen, ist die Rede von dem Rad der ständigen Wiederholung dessen, was man selbst erlebt hat und dann unreflektiert an Familienmitglieder oder gesellschaftliche Interessengruppen weitergegeben wird. Dieser Mechanismus betrifft jeden Menschen, egal ob „Oben“ oder „Unten“. Insofern betrifft es auch die Ethik und Moral in der Wirtschaft und wer dort aufgrund welcher eigener Erlebnisse welche Entscheidungen fällt. Insofern wird die Erklärung „Weil es ging“ zur gesellschaftlichen Schlüsselerklärung: Warum leben wir in einer solchen Welt? Weil es ging, sie herzustellen! Weil man das alles mit den Menschen machen kann, weil sie nicht zu sich selbst gelangen, sondern von Anpassung, Leistungsdruck, Existenzangst und Vereinzelung kräftemäßig aufgesogen werden. Wie wäre es also dafür zu sorgen, dass es nicht mehr so geht? So friedlich, wie Gandhi es einst vormachte? Die politischen Spitzen haben weltweit für Kontrollen der Menschen im „Unten“ gesorgt.

Aber was ist mit „Oben“? Hört die ethische und moralische Verpflichtung gesellschaftlich beim Kontostand auf? Wo, bitte schön, ist die Mitte, wo ist der Tisch, an dem, symbolisch gesprochen, alle Platz nehmen können? Demokratie scheint dafür jedenfalls kein Garant zu sein. Da die gewaltsamen, zerstörerischen Auswirkungen gesellschaftlicher Umbrüche wie z.B. durch Kriege bedingt, weiter in erzieherische Maßnahmen getragen werden, die Kindheitserlebnisse für jeden einzelnen Menschen bedingen und ausnahmslos alle Menschen betreffen, und genereller auch das Leben in der Gemeinschaft einer Kultur unbewusst prägen, unabhängig davon, ob der einzelne Mensch reich oder arm ist, ist die Intention, sich mit den Grundlagen des eigenen Handelns und der Psyche zu beschäftigen, gesellschaftlich weitestgehend abgespalten worden. Kein Mensch kann dem eigenen Schatten entrinnen, sei er insgesamt einem Land oder einem einzelnen Menschen zu Eigen. Der Schatten ist unbeliebt und wird blind ausgelebt. Dennoch ist eine Zeit angebrochen, in der Schattenarbeit, generelle Aufarbeitung von Vergangenheit, bewusster geworden ist und erstmalig für viele Menschen möglich wird. Vordringlich scheint mir, ist von Menschen, die als Verantwortungsträger in entscheidenden gesellschaftlichen Positionen sitzen, dieses Thema der Selbstreflexion anzugehen.

Angezeigt wäre, dass Politiker bei Philosophen, Psychotherapeuten oder Sozialwissenschaftlern eine Supervision absolvierten, um ihr eigenes politisches Handeln zu reflektieren, wenn es in enormem Maße von den Bedürfnissen der Wähler abweicht. Oder sie sich öffentliche Stellungnahmen von zeitgenössischen Geisteswissenschaftlern oder Ökonomen einholten und sie ebenso öffentlich reflektierten. Lieber engagiert man Stilberater, Ghostwriter und Kommunikationstrainer à la „Wie sage ich global alles und nichts“ und sehe dabei gut aus. Medienagenturen, die Texte erarbeiten, die so glatt und glitschig sind wie frisch gefangene Fische, die von Politikern dann vorgetragen werden. Die öffentliche Bühne muss schließlich gut sichtbar für jeden Bürger und vor allen Dingen als irritationslose nachvollziehbar sein. Politik für jedermann, hinter einer Maske verborgen, als wüssten Bürger nicht um Zusammenhänge und die Tatsachen, die unser Leben bestimmen. Der gesellschaftliche Diskurs findet im Geheimen statt – aber nicht zur Läuterung, sondern um nochmals Ideen zum Vorschein zu bringen, die vorangegangene profitabel in den Schatten stellen. Die gesellschaftliche Reflexion kulminiert wieder in der profanen Einteilung von „Guten und Bösen“, die man Interessensgruppen zuspricht und die sich gegenseitig bezichtigen, als hätten sie in sich selbst kein eigenes Reservoire an Gutem und Bösen. Psychotherapeutische Methoden böten eine elegante und amüsantere Darstellung, wie ein Manager oder ein Politiker „so ist“ und könnten Erklärungen mitliefern, woher die Motive des Handelns bei ihnen rühren. Ein Beispiel:

In meiner Ausbildung der „Core-Energetik“, einer psychoanalytischen Körpertherapie, wurde mittels des psychoanalytischen Persönlichkeitskonzeptes des „Selbst“ gearbeitet. Dabei wird emotional differenziert zwischen dem „höheren“ und dem „niedrigen“ Selbst. Das höhere Selbst spiegelt unser innigstes Lebensziel und –anliegen; das niedrige Selbst, die vielen Gefühle, die jeder Mensch im Laufe seiner Erziehung lernen muss, zu verbergen. Sie verschwinden hinter Abwehrmechanismen. Zum Beispiel verschwindet die Wut, den Eltern gehorchen zu müssen, Dinge tun zu müssen, die man nicht wollte, oder auch die Trauer, eigene Bedürfnisse nicht erfüllt bekommen zu haben, im niederen Selbst. Abwehrmechanismen stellen Reaktionen des Menschen auf bestimmte emotionale Ereignisse dar, ließe sich in Kürze definieren. Hinter den Abwehrmechanismen, und dergestalt mit ihnen verwoben hinsichtlich der Art und Weise, welche Formen sie annehmen im persönlichen Ausdruck, wird das niedere Selbst individuell gehütet. Die Enttäuschung, dass man nicht verstanden wurde, seine Gefühle nicht ausleben durfte, der Schmerz, allein gelassen worden zu sein in Situationen, in denen die Eltern möglicherweise gar nicht ahnten, dass es so eine emotionale Auswirkung haben könnte. Das Alleinsein mit der Tatsache, ein „anderer zu sein“, als man mittels Maske vorgibt zu sein, weil man lernte, zu glauben, so, wie man ist, wäre man weder geliebt noch akzeptiert, bringt Isolation hervor. Soll heißen: Jeder Mensch lernt aus Angst, die Liebe von Menschen zu verlieren, eigene Gefühle, von denen jeder Mensch instinktiv spürt und damit weiß, dass die anderen (seien es Eltern, Partner oder Autoritäten) sie nicht schätzen, Teile von sich hinter einer Maske zu verbergen: Jeder Mensch möchte lieber geliebt sein, statt sich in Konflikte oder Unwegsamkeiten des Verlassenwerdens zu begeben.

Also haben Menschen den Konflikt in sich selbst, sich entscheiden zu müssen: Bleiben sie bei ihren Gefühlen und teilen sie sich mit oder drücken sie sie aus, oder verbergen sie diese hinter einer sozial angepassten Maske. Verstecken sie sich hinter der Maske, unterdrücken sie ihre Gefühle, und behalten sie in sich und für sich. Diese zurückgehaltenen Gefühle bilden in einem Menschen das „niedere Selbst“ – es sind all’ jene Gefühle, die nicht in den Beziehungen mitgeteilt, nicht ausgedrückt werden konnten oder durften. Menschen speichern sie in sich als „nicht akzeptiert“, sprich als „böse“ ab. Der Grad der Gefühlsunterdrückung hängt direkt mit dem in der Erziehung vermittelten Wertesystem zusammen. Wertesysteme richten sich nach den herrschenden Werten in einer Gesellschaft und differenzieren sich je nach dem, in welche Schicht ein Mensch geboren wird, individuell weiter.

Die „Maske“ hat die Aufgabe, unser eigentliches, emotional von anderen Menschen abgelehntes, Selbst zu verbergen. Menschen verbergen es aber auch, wenn sie von deren Ablehnung zutiefst überzeugt sind und bilden die Befürchtung aus, wenn sie ihr Selbst zeigten oder lebten, sie abgelehnt würden. Die Maske ist ein sozial als wertvoll angesehenes und zum Überleben notwendiges, kulturelles Produkt, um sich in der Gemeinschaft von Menschen angenommen zu fühlen. Die Maske schützt vor unliebsamen Sanktionen der Beziehungspartner.

Das Erstaunliche in der Core- Energetik-Ausbildung war, wie viel Energie, Freude und Lust freigesetzt wurde, wenn einer der Teilnehmer den Anteil ausdrücken und ausleben konnte, den er bislang aus Angst, abgelehnt zu werden, meinte, verheimlichen und verstecken zu müssen. Befreiung und Erlösung, gefolgt von Lachen und Frohsinn erfüllten den Raum.

Bei der Arbeit mit dem höheren Selbst war hingegen große Scham auffällig, die darin lag, öffentlich persönliche Herzenswünsche mitzuteilen. Mit dieser bipolaren „Selbst-Arbeit“ ändert sich der Umgang mit uns selbst und anderen nachhaltig: Die Maske bröckelt. Es wird zeig- und mitteilbar, was und wie man selbst auch noch ist. Weiter wird deutlich, was dazu führte, dass emotionales Erleben verborgen wurde. Das Resultat einer solchen Ausbildung ist ein enormer Zuwachs an Freiheit im Ausdruck der eigenen Persönlichkeit – aber auch hinsichtlich der eigenen Erlebensfähigkeit, Kreativität und generellen Lebenslust. Lösungen und Aufarbeitungsmethoden sind strukturierbar. Das Konzept vom Selbst, wie es die Core-Energetik anbietet, könnte vielen Menschen eine Hilfestellung geben, ihren eigenen Erlebens- und Handlungsradius zu erweitern, statt an dem Nichtzeig- und -sagbaren zu ersticken oder zu erkranken. Diese einfache psychoanalytische Struktur zeigt aber auch einen Weg, die eigene menschliche Würde und Achtung sich selbst und anderen Menschen gegenüber zu erweitern wie zu bezeugen. Was für ein Erlebnis es für einen wohlerzogenen Menschen ist, endlich mal der Bösewicht und Rabauke sein zu dürfen und zu spüren, ohne es wirklich oder ausschließlich zu sein, wie viel und welche Gefühle auf dieser Dimension seines Lebens in Energie eingebunden waren, die ja auch konstruktiv lebendig zu nutzen ist, ist nur erlebbar, als hier beschreibbar. Es erwächst eine menschliche Nähe in der Gruppe voller (Selbst-)Vertrauen.

Politiker und Business-Menschen könnten dank der Core-Energetik oder auch mittels Gestaltarbeit lernen, ihre eigene wie auch fremde Sicht- und Handlungsweisen zu verstehen, und damit Gefühl und Wissen um sich selbst wie um andere Menschen erweitern. Sie könnten erfahren, warum sie so handeln, wie sie handeln. Ob sie dann, nach einer solchen Erfahrung, in der sie ihre eigene Verletzlichkeit oder Einsamkeit und ihre Wut oder Ohnmacht spürten, also sensibilisiert für Themen und Gefühle sind, noch so leben und handeln wollen, das steht auf einem anderen Blatt …

Aber genau diese Erfahrung, diese Sensibilisierung, ist erforderlich, um einen Ekel gegen Grausamkeit (siehe oben Philip Reemtsma) zu entwickeln und gemeinsam neue Werte aus unserem Selbst zu bergen, die dem Leben zuträglich sind.

Heutzutage mangelt es an Aufrichtigkeit, an persönlicher Größe, an Verantwortungsgefühl und an der Selbstverständlichkeit anzuerkennen, dass wir alle Menschen sind – egal, ob erfolgreich, arbeitslos, arm oder wohlhabend. Insofern trifft zu, was Alice Miller hinsichtlich der Verbindung der Bedeutung des psychischen Hintergrundes berühmter Menschen wie Nietzsche, Picasso, Käthe Kollwitz in der Auswirkung auf ihre Werke bezogen, an jeweiligen analytischen Hintergrund der Kindheitsgeschichte konstruiert.

So beschreibt Miller:

„Das werden aber nur diejenigen Studenten tun können, die in ihrer Kindheit nicht misshandelt worden sind oder die ihre Misshandlungen aufgearbeitet haben und daher für das Leiden geprügelter Kinder offene Ohren und Augen haben. Mit solchen Untersuchungen werden sie wohl kaum Begeisterung bei ihren Professoren wecken. Doch wenn sie darauf verzichten können, werden sie Beweise dafür liefern, dass die an Kindern ausgeübten Verbrechen auf die ganze Menschheit zurückschlagen. Sie werden auch illustrieren können, auf welchen unerwarteten Wegen dies geschieht.“ (Alice Miller: Der gemiedene Schlüssel, 1996, S. 15)

Es bedarf starker Nerven, um zu erfahren, aus welchen Urgründen Menschen kriminelles Verhalten an den Tag legen, um dann zu warten, bis sie es durchführen, um zu dokumentieren, dass ihre Hypothesen richtig waren. Das halte ich gleichfalls für grausam.

So stellt es sich auch in unserer Kultur dar: Wir haben viel Wissen, kennen Zusammenhänge, aber die Anwendung lässt auf sich warten!

Aber das scheint Konsens in Gesellschaften zu sein. Es läuft auf ein Rechthaben hinaus, auf das man im Sinne der Allgemeinheit und zum Schutz von Menschen verzichten lernen sollte. Will man schützen, bleibt nichts anderes, als Reflexion des eigenen Verhaltens und der Verantwortungsübernahme zu wählen, um zu gesellschaftlichen Änderungen im Zusammenleben von Menschen beitragen zu können. Man muss nicht warten, bis es nachgewiesen wird. Soweit Menschen aus Fehlern lernen und man die Fehler kennt, sollte man sie vermeiden. Aber das Feld zwischen Fehler kennen und Fehler vermeiden, ist gespickt mit den Vorteilen der einen und den Nachteilen der anderen Hälfte der Menschheit oder in einem Konflikt, Geschäft, Verhalten in der Beziehung zweier Menschen. Deshalb, so könnte man schlussfolgern, lernt man nicht aus Fehlern. Auch hier gilt, wer das meiste Geld hat, um Grenzüberschritte zu finanzieren, wird Grenzen überschreiten und Fehler machen, die bereits andere machten.

Psychologische und ärztliche Psychotherapeuten haben lange genug abgewartet, ob sich aus irgendeiner, und sei es aus einer noch so kleinen Ecke des allgemeinen Bewusstseins, aus der heraus der Horizont hätte geläutert oder aus der zumindest eine Geste hätte sichtbar werden können, dass man gesellschaftlich darüber Bescheid wüsste, was im großen Maßstab passiert, jemand äußert und insistiert.

So starke oder gleichgültige Nerven scheint es generell „Oben“ und in gewählten Politikerreihen zu geben. Man kann sich dann retten mit einer Aussage wie „Das konnten wir ja nicht wissen“ oder „Das konnte keiner wissen“. Derartige Aussagen beziehen sich nicht nur auf Falschberechnungen von Renten, sondern auch auf Entscheidungen, die maßgeblich das Zusammenleben und die Beziehungsfähigkeit von Menschen in unserer Kultur regeln. Die psychosozialen Berufe haben bis heute keinen entscheidenden kulturellen Bedeutungszuwachs im gesamtgesellschaftlichen Kontext errungen – entsprechende Menschen schlecht bezahlt, beruflich abqualifiziert, kritisiert, der Unprofessionalität bezichtigt. Sie werden als letzter Notnagel gesehen, der dann, wenn Gefahr, Not und Leid in Verzug ist, dann aber halten muss – egal wie wenig Personal oder Geld zur Verfügung gestellt wird. Prognostisch wäre hier zu konstatieren, dass die psychosozialen Probleme im Zuge der weiteren Verarmung in der Bevölkerung zunehmen und nicht dadurch abnehmen werden, dass man Statistiken erstellt und lediglich Hiobsbotschaften über Vorgänge der Vernachlässigung verlautbaren lässt – und obendrein denjenigen die Schuld für Missstände zuschiebt, die von Berufswegen damit beschäftigt sind, Missstände abzuschaffen.

Ich denke, Belege für die Richtigkeit der oben gestifteten psychoanalytischen Zusammenhänge von Alice Miller gibt es in der Geschichte genügend. Die Frage von Philip Reemtsma ist ernst zu nehmen: Wie ist Ekel gegen Grausamkeit und ich möchte ergänzen, Gleichgültigkeit und Ignoranz, zu erzeugen? Ich denke auch, dass die Natur hinreichend zerstört ist, so dass bei jedem Menschen gegenwärtig angekommen sein sollte, dass Wirtschaft und die Industrie so nicht weitermachen können. Kapitalistische Kernschmelze in der Wirtschaft und Polschmelze in der Natur bedürfen keines Beweises mehr – aber einer neuartigen Reflexion. Die bisherigen Werkzeuge zur Begradigung und Korrektur haben versagt. Das allerdings wussten die Wirtschaft und die Naturwissenschaftler schon vor 15 Jahren. Doch man hat offenbar gewartet, bis sich die Schäden in der Gegenwart aufsummieren konnten. Nun will man weitere fünfzig Jahre warten, um vielleicht die Schadstoffe auf die Hälfte zu reduzieren. Nach dem Motto: Vielleicht geht es doch noch gut … Oder besser: So geht es uns doch gut? Das kann allerdings keine ernsthafte gemeinte Frage sein. Denn durch Kriege und weitere Zerstörung von Natur, Mensch und Existenz sind keine guten Ergebnisse erzielbar – höchstens die Sicherung von Rohstoffen, was Hunderttausende das Leben kostet. In Afrika lässt man die Menschen schlicht verhungern. Wie praktisch, könnte man zynisch bemerken, dann muss man nicht so viel vom voraussichtlichen Gewinn teilen, falls es doch mal Gesetze geben sollte, die auch das Volk berücksichtigen. Auch die Zweiklassengesellschaft und die Zweiklassenmedizin werden irreparable Schäden auftürmen, um einen wirtschaftlichen Zweig, der Milliarden Gewinne verspricht, für „Oben“ zu etablieren. Auf der Strecke bleiben Ärzte und Psychologische Psychotherapeuten, Patienten und generell Menschen, die man umwerben wird, ihre Gesundheitsprodukte zu kaufen und diese selbst zu bezahlen. Auf der Strecke bleibt das Leben im Hier und Jetzt – und in der Zukunft.

Wenn also die fehlende Reflexion ( und Möglichkeit) über die psychischen Vorgänge im Menschen der Garant dafür ist, dass man weiterhin Profite erwirtschaften kann, dann ist sehr leicht nachzuvollziehen, warum generell Psychotherapie und insbesondere Psychologische Psychotherapie politisch und finanziell beschnitten und abgewertet worden sind und warum man immer noch versucht, sie weiterhin klein zu halten: Es besteht kein Interesse an persönlicher wie geschichtlicher Aufarbeitung, die zum Kern, zu den Ursachen vorstößt und wirkliche Erklärungen und Lösungen zum Vorschein bringen könnte statt Augenwischerei. Genauso wenig besteht ein Interesse an Erklärungsansätzen, die verschiedene Faktoren und Tatsachen zu Zusammenhängen zusammenführen möchten – gesellschaftlich sind Mikroprozesse und Systeme favorisiert, die scheinbar unabhängig von anderen arbeiten und existieren. Im Kleinen wie im Großen, ist der Zuwachs von Isolation, Distanz und fehlendes Verständnis von Zusammenhängen gefragt – dann kann alles so bleiben wie es ist. Es geht nicht um den einzelnen Menschen, sondern es geht um den Erhalt eines Systems, das für wenige Menschen lukrativ ist. Zur Unterstützung sei ein kleiner Einblick in die klassische Medizingeschichte eingeflochten.

Scheinheilung und Patientenerschaffung - Die heillose Kultur - Band 3

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