Читать книгу Mitten ins Leben – Frieden finden mit Vipassana-Meditation - Dunja Batarilo - Страница 12
Meditation – ist das nicht MBSR? Ein Missverständnis
ОглавлениеDie am besten erforschte Form der Meditation ist »Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion« (Mindfulness-Based Stress Reduction), bekannt unter dem Kürzel »MBSR«. Genau genommen handelt es sich bei dieser Meditationsform um eine Kombination mehrerer Meditations- oder Achtsamkeitstechniken, entwickelt vom US-Amerikaner Jon Kabat-Zinn in den späten 1970er-Jahren. Sein Ziel war es, Patienten mit unheilbaren oder chronischen Krankheiten dabei zu helfen, ihr Leiden an der Krankheit zu mindern. Die Methode kombiniert Elemente achtsamkeitsbasierter Techniken, die sich aus den Traditionen des Vipassana, Zen und Yoga speisen: Meditation auf den Atem, eine spezielle Art des Bodyscans sowie achtsamen Umgang mit Gefühlen und Gedanken.15 Kabat-Zinn entwickelte aus diesen Bestandteilen ein Acht-Wochen-Programm, das heute in Kliniken auf der ganzen Welt gelehrt wird. In Deutschland übernehmen seit einigen Jahren gesetzliche Krankenkassen einen Teil der Kurskosten – indiziert bei chronischen Schmerzzuständen, häufigen Infektionskrankheiten, Ängsten oder Panikattacken, Depressionen, Hauterkrankungen, Schlafstörungen, Kopfschmerzen und Migräne, Magenproblemen und Burn-out. Selbst das US-Militär nutzt MBSR-Programme, um Soldaten mit posttraumatischen Belastungsstörungen zu unterstützen.
Studien zeigten, dass Teilnehmer nach acht Wochen MBSR-Training sich besser konzentrieren und Ablenkungen ausblenden können und dass sie körperliche Empfindungen besser wahrnehmen. Am deutlichsten ist die Wirkung auf das Stressempfinden: Nach dreißig Stunden Training, verteilt über acht Wochen, zeigt die Amygdala, ein Knotenpunkt in der Stressverarbeitung des Gehirns, geringere Aktivität.16 Dieser Fund macht MBSR für unsere Zeit besonders interessant. Denn »Stress« ist nicht nur ein individuell empfundenes Gefühl des Überwältigtseins in einer Welt zwischen Pandemie, Homeoffice, Klimawandel und Twitter-Account – selbst die WHO hat Stress zur »Epidemie des 21. Jahrhunderts« erklärt. Nicht umsonst haben Achtsamkeitstrainings Einzug in die Welt der Großkonzerne gehalten. Google zum Beispiel hat ein an MBSR orientiertes Programm aufgelegt und geht mit missionarischem Eifer vor, um es nicht nur im Unternehmen, sondern auch an Schulen weltweit zu verbreiten.
Ist das der vielbeschworene Siegeszug von Meditation? – Jein. Einerseits ist es wunderbar, dass durch die weite Verbreitung von MBSR Achtsamkeitstechniken in gesellschaftliche Schichten vordringen und dort Menschen erreichen, die noch vor wenigen Jahren sonst niemals dazu gefunden hätten. Gefängniskurse, Rehakliniken, Talkshows, Smartphone-Apps – der Zugang zu Meditation wird immer weniger elitär. Andererseits: Zwischen Heilung und Selbstoptimierung liegt ein schmaler, aber existenzieller Grat. In spirituellen Kreisen gibt es aus gutem Grunde die Befürchtung, dass etwas Wesentliches verloren geht, wenn Meditations- und Achtsamkeitstechniken zum Zwecke der Selbstoptimierung eingesetzt werden. Wenn stressgeplagte Individuen sich Zugang zu diesen alten Lehren erkaufen und sich dann ihrer bedienen, um sich für einen entfesselten Neoliberalismus fit zu machen – läuft dann etwas schief? Das Geschäft mit der Achtsamkeit brachte es, so das Time Magazine, im Jahr 2018 allein in den USA auf einen Umfang von 1,1 Milliarden Dollar.17
Die Vipassana-Tradition nach Goenka distanziert sich von MBSR. Sie legt Wert darauf, für das Vermitteln der Technik einen Raum zu schaffen, der frei von den Gesetzen der Marktwirtschaft und der hiermit einhergehenden Verwertungslogik ist, wie wir in Kapitel 3.2 sehen werden. Vipassana ist damit etwas grundlegend anderes als eine Technik oder therapeutische Dienstleistung. Es ist ein Geschenk, das andere einem gewähren, es wird aus einer Haltung des Mitgefühls gegeben und führt im Idealfall dazu, dass in den Beschenkten der Wunsch entsteht, ihrerseits dieses Geschenk weitergeben zu wollen. Vipassana ist nicht denkbar ohne Dankbarkeit und Freigiebigkeit.
(Vipassana-)Meditation und MBSR gleichzusetzen, ist also gleich aus zwei Gründen problematisch. Einerseits stehen in der Praxis unterschiedliche Werte hinter den beiden Techniken. Andererseits ignoriert die Forschung zu MBSR meist den Umstand, dass diese Methode aus einem Mix an Techniken besteht, deren einzelne Bestandteile in ihren Effekten bei der Auswertung durcheinandergeraten. Wer sich für die Effekte von Vipassana interessiert, kann sich an den Ergebnissen dennoch zumindest mit Blick auf die psychophysiologischen Effekte ein wenig orientieren: MBSR beinhaltet zwei wesentliche Aspekte, die auch in die Vipassana-Meditation einfließen: Atemmeditation und Bodyscan.
Die Studienlage, die sich ausschließlich mit Vipassana und den Effekten speziell dieser Meditationstechnik beschäftigt, ist bedauerlicherweise sehr dünn. Interessant ist eine Längsstudie, die die Wirkung eines Zehntageskurses untersucht, der in einem US-amerikanischen Hochsicherheitsgefängnis durchgeführt wurde.18 Im Hinblick auf emotionale Intelligenz, Impulskontrolle und ein besseres Selbstgefühl der Teilnehmer wurden hier erstaunliche Ergebnisse erzielt. Leider ist die Studie – stellvertretend für viele andere – sehr klein und ohne Kontrollgruppe, es fehlt schlicht an Geldern und Möglichkeiten.