Читать книгу Mitten ins Leben – Frieden finden mit Vipassana-Meditation - Dunja Batarilo - Страница 8
Kurzer historischer Überblick
ОглавлениеDer Begründer der buddhistischen Lehren, der historische Buddha, lebte etwa im 5. Jahrhundert v. Chr. Geboren als erster Sohn eines Fürsten, wuchs er unter dem bürgerlichen Namen Siddharta an einem adligen Hof in der nordindischen Stadt Kapilavastu auf, im heutigen Nepal. Die einzelnen Stationen seines Suchens und Findens werden wir im Hauptteil dieses Buches näher beleuchten. Der spätere Buddha (wörtlich: »der Erwachte«) entwickelte im Laufe seiner intensiven und kurvenreichen Suche nach einem Ausweg aus dem Leiden schließlich eine Meditationspraxis, mit der er zur Erleuchtung fand. Der Sage nach war dies Vipassana. Die Technik wurde zur zentralen Praxis des Theravāda-Buddhismus (auf Pali, der Sprache des Buddha: »Die Lehre der Ältesten«). Theravāda gilt als die älteste und ursprünglichste Linie des Buddhismus, heute vorwiegend praktiziert in Sri Lanka, Myanmar, Thailand und Kambodscha.
An dieser Stelle ein kleiner Vorgriff, für Kenner der Materie: Theravāda wird von manchen anderen buddhistischen Traditionen auch »Hinayāna«, »das kleine Fahrzeug«, genannt, um zu betonen, dass hier die Erleuchtung des Einzelnen und nicht das Glück aller Wesen im Vordergrund steht. Diese Fremdeinschätzung beruht allerdings auf einem Missverständnis der Lehre. Im Theravāda geht es zwar in erster Linie darum, den Geist zu beruhigen und zu reinigen, mit dem Ziel, einen Ausweg aus dem Leiden zu finden. Das geschieht jedoch, wie wir im letzten Kapitel sehen werden, mit dem Ziel, sich auf dieser Basis wieder der Welt öffnen zu können. Zunächst kann man sich merken, dass im Theravāda die Entwicklung von Konzentration und Selbsterkenntnis im Vordergrund steht. Der auf diese Weise geläuterte Geist verändert sich; er wird mit der Zeit immer stärker von einer mitfühlenden, liebevollen und gleichmütigen Haltung gleichsam durchflutet. Wer stetig und ausdauernd meditiert, der verändert auf Dauer nicht nur sein Verhalten, sondern schlussendlich auch seinen Charakter – dieser Prozess stellt sich von allein ein, die Sekundärtugenden folgen auf dem Fuße. Vor die großartigen Früchte der Meditation hat der »liebe Gott« jedoch den Schweiß gesetzt: Ohne gewissenhafte Arbeit an sich selbst passiert hier gar nichts.
Die Traditionslinien Mahāyāna und Vajrayāna spalteten sich erst etwa 500 Jahre später ab,* als der Buddhismus sich über ganz Asien verbreitete. Mahāyāna, auch das »Große Fahrzeug« genannt, erreichte über die Seidenstraße Zentral- und Ostasien. Hier ist die Didaktik anders gelagert, Ausgangspunkt der meditativen Schulung ist explizit und von vornherein die Entwicklung von tatkräftiger Liebe und Mitgefühl. Die Richtungen des Mahāyāna sind heute vorwiegend in Vietnam, Japan, Tibet, Bhutan, Taiwan, der Volksrepublik China und Korea vertreten. Auch der im Westen sehr beliebte Zen-Buddhismus entspringt dieser Linie – allerdings rückt hier eher wieder die Selbsterkenntnis in den Mittelpunkt.
Vajrayāna, auch »Diamantfahrzeug« genannt, hat sich besonders in Tibet und im südostasiatischen Raum verbreitet, in Bhutan ist diese Linie des Buddhismus Staatsreligion. Im Westen ist sie vor allem durch den Dalai Lama und den 16. Karmapa, den Linienhalter der Karma-Kagyü-Schule, bekannt geworden.
Keine dieser Traditionen erhebt den Anspruch, der wahre Buddhismus zu sein; sie bestehen nebeneinander. Es gibt innerhalb der vielfältigen, sich auf den historischen Buddha berufenden Bewegungen keine zentrale Autorität oder Lehrinstanz, die entscheidet, was die wahre Lehre ist. Alle Linien beziehen sich auf Schriften, die die Lehre des Buddha überliefern, und das in den verschiedensten Formen. Es handelt sich eher um unterschiedliche Ausprägungen verschiedener Aspekte dieser Lehre, die sich im Laufe der Zeit mit jeweils regional unterschiedlichen lokalen Traditionen und Glaubenssystemen vermischten. Was wir heute im Westen als »Buddhismus« antreffen, hat ebenso bereits einen Veränderungsprozess durchlaufen und sich unserem christlich-säkularen Selbstverständnis, der Ideengeschichte, die unser Denken und Fühlen prägt, unauffällig angepasst.
Vipassana ist eine von vielen Formen, in denen das Phänomen Meditation in den Westen gefunden hat. Die Technik legt Wert darauf, keinen »-ismus« vor sich herzutragen, sie will explizit keine Religion sein und richtet sich an Angehörige aller Kulturen und Religionen, an Männer wie Frauen. Viele Textstellen legen nahe, dass auch der Buddha selbst zu seinen Lebzeiten diese Haltung lebte und lehrte. So wird von vielen Anhängern berichtet, die ein weltliches Leben führten, also ihrem Beruf nachgingen und für ihre Familie sorgten und dennoch tief in die Meditationspraxis eintauchten. Siddharta Gotama war überdies Feminist: Er unterrichtete auch Frauen, womit er die damalige patriarchale Kultur ordentlich vor den Kopf gestoßen haben dürfte. Doch die neue buddhistische Idee traf auf ein traditionelles Asien. Im Laufe der Jahrhunderte vermischte sich die Lehre mit den vorherrschenden gesellschaftlichen Strukturen. Sie passte sich einer hinduistisch geprägten, streng patriarchalen und nach Kasten getrennten Ordnung an, in der das Priestertum eine herausragende Rolle spielte und Frauen wieder zurückgedrängt wurden.5
Das große Ziel der Erleuchtung, zentral für die Lehre des Buddhas, wurde zu etwas, das im Leben der kleinen Leute nicht vorkam. Wer meditieren lernen wollte, musste ins Kloster gehen. Die große Befreiung – wenn überhaupt6 – blieb den Mönchen vorbehalten, die sich in Orden organisierten, von allen weltlichen Aufgaben befreit waren und ihr Leben der Introspektion und Meditation widmeten. Der »Buddhismus« der Mönche sah und sieht noch heute völlig anders aus als der der großen Masse der Gläubigen. Mönche widmen sich der Meditation, für ihren Lebensunterhalt sind sie auf Spenden aus der Bevölkerung angewiesen. Im Gegenzug übernehmen sie ihrerseits eine spirituell ordnende Funktion in der Gesellschaft. Sie führen Rituale aus und übernehmen seelsorgerische Tätigkeiten für die Allgemeinheit. Das einfache Volk hingegen befolgt Riten und Gebräuche. Ähnlich wie in der christlichen Tradition war es lange ausschließlich der Klerus, der Zugang zu Texten der Lehre hatte und darauf seine Autorität begründete. Die Mönche hielten ihr Wissen lange Zeit vor Laien, Frauen und in späteren Jahrhunderten auch vor Menschen aus dem Westen verborgen. Vipassana sollte nur an diejenigen weitergegeben werden, die jahrelang durch Meditation ihren Geist geschult hatten. So blieb die Praxis lange Zeit einer kleinen Elite von Männern vorbehalten, die in Klöstern, Höhlen und Wäldern lebte.
Indien, die Heimat des Buddha, ist heute kein buddhistisches Land. Die größte Ausdehnung hatte der Buddhismus unter König Ashoka, der im 3. Jahrhundert v. Chr. diese Philosophie bis weit über die Grenzen Indiens hinaus verbreitete. Erst im 12. Jahrhundert wurde die Lehre des Buddha durch den Hinduismus und später auch den Islam verdrängt. Während letztere heute die prägenden Religionen des Subkontinents sind, geriet Vipassana im Laufe der Jahrhunderte in Vergessenheit. In einigen südostasiatischen Ländern, insbesondere in Myanmar, wurde die Technik jedoch unauffällig gehütet. In dem Bestreben, sie möglichst rein und unverändert zu erhalten, wurde die Praxis nur von Mönch zu Mönch, von Lehrer zu Schüler, weitergegeben. Unterweisung in Vipassana zu bekommen, war eine Auszeichnung. Bis heute ist der dankbare Rückbezug auf die Lehrer, auf deren Schultern alle heutigen Meditierenden gewissermaßen stehen, ein Charakteristikum der Vipassana-Bewegung. Auch deshalb soll die Geschichte der modernen Vipassana-Tradition an dieser Stelle den Raum bekommen, den sie verdient. Ohne all die vielen mutigen und inspirierenden Schritte derer, die vorangegangen sind, wäre es heute im Westen nicht möglich, diese Technik zu erlernen.
Es ist eine alte Prophezeiung überliefert: 2500 Jahre nach der Erleuchtung des Buddha sollte Vipassana von Myanmar aus zurück nach Indien finden und von dort aus in die ganze Welt. Prinzessin Vipassana fiel also in einen jahrhundertelangen Dornröschenschlaf. Als sie wieder erwachte, fand sie eine Welt vor, die sich grundlegend verändert hatte.