Читать книгу Dein Leben liegt in deiner Hand - Dzigar Kongtrul - Страница 14
Оглавление1Der Blick in den Spiegel
Wenn wir in den Spiegel blicken, dann ist das, was wir am allerwenigsten sehen wollen, ein ganz normaler Mensch. Wir möchten lieber jemand Besonderen sehen. Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht _ wir sind einfach nicht damit zufrieden, einen ganz normalen Menschen mit Neurosen, Schwierigkeiten und Problemen zu erblicken.
Wir wollen einen glücklichen Menschen sehen, aber stattdessen sehen wir jemanden, der sich abmüht. Wir würden uns gerne für mitfühlend halten, aber stattdessen erblicken wir einen Egoisten. Wir sehnen uns danach, eine elegante Erscheinung abzugeben, aber unsere Arroganz macht uns grob. Und statt eines starken oder unsterblichen Menschen erblicken wir jemanden, der anfällig ist für die vier Strömungen im Lauf der Zeit: Geburt, Alter, Krankheit und Tod. Der Widerspruch zwischen dem, was wir sehen und dem, was wir sehen wollen, tut uns enorm weh.
Die Qual der Selbstsucht
Was uns in dieser Qual gefangen hält, ist unser Gefühl, etwas Besonderes zu sein, oder unser Drang nach „Selbst-Geltung“ 2 Diese Selbst-Geltung ist unser unterschwelliges Klammern an „ich, ich, ich, mich, mich, mich, mein, mein, mein“, und das färbt all unsere Erfahrungen. Wenn wir genau hinsehen, entdecken wir einen großen Anteil an Selbst-Sucht in allem, was wir denken, sagen oder tun. „Wie kann es mir gut gehen? Was werden die anderen denken? Was bringt mir etwas? Was verliere ich dabei?“ All diese Fragen haben ihre Wurzeln in unserer Selbstsucht. Sogar unser Gefühl, der Vorstellung unseres Selbst nicht gerecht zu werden, ist eine Form von Selbstsucht oder Selbst-Geltung.
Wir möchten uns gerne als stark ansehen und alles im Griff haben, aber in Wahrheit sind wir so zerbrechlich wie eine Eierschale. Wir fühlen uns zutiefst verletzlich, und zwar in unguter Weise. Dieses verwundbare Selbst verlangt nach Schutz, nach einem Panzer, nach der Aufstellung von Truppen und dem Hochziehen von Mauern. Und schon sitzen wir in der Falle, mit all unserer Qual. Wir fürchten uns mehr und mehr davor loszulassen, die Dinge so sein zu lassen, wie sie sind. Wir werden immer unsicherer, ob alles so laufen wird, wie wir uns das wünschen.
Es erfordert Mut, Selbst-Gefälligkeit zu überwinden und zu sehen, wer wir wirklich sind – aber genau das ist unser Weg. Ob explizit oder indirekt: Alle buddhistischen Lehren zielen darauf ab, Selbstsucht zu vermindern und Raum zu schaffen für die Wahrheit. Dieser Prozess beginnt mit Selbst-Erkenntnis.
Ein fragender Geist
Der große indische Gelehrte Aryadeva3 hat gesagt, dass bereits das bloße Hinterfragen, ob die Dinge wirklich so sind wie sie scheinen, das ganze Fundament des gewohnheitsmäßigen Festhaltens erschüttern kann. Diese hinterfragende Geisteshaltung ist der Ausgangspunkt der Selbst-Erkenntnis. Könnte es sein, dass dieses engmaschige Ich-Bewusstsein gar nicht so ist, wie es scheint? Müssen wir wirklich alles so angestrengt zusammen halten, und können wir das überhaupt? Gibt es ein Leben jenseits unseres Geltungstriebs? Mit dieser Art von Fragen öffnen wir das Tor zur Erforschung der wahren Ursachen für unseren Schmerz.
Die Praxis der Selbst-Erkenntnis erfordert, dass wir einen Schritt zurücktreten, unsere Erfahrungen untersuchen und nicht der Eigendynamik unserer Gewohnheitsmuster nachgeben. Dies erlaubt uns, all das anzuschauen was auftaucht, ohne es gleich zu bewerten, und damit bürsten wir direkt gegen den Strich unserer Selbst-Gefälligkeit.
Selbst-Erkenntnis ist der gemeinsame Nenner aller Traditionen und Linien buddhistischer Praxis. Sie führt uns auch über die Grenzen formeller Praxis hinaus. Wir können die hinterfragende Geisteshaltung der Selbst-Erkenntnis auf jede Situation anwenden, zu jeder Zeit. Selbst-Erkenntnis ist eine Geisteshaltung, eine Methode und eine Praxis. Auf den Punkt gebracht: Sie ist ein Weg, die Praxis für uns persönlich lebendig werden zu lassen.
Unser wahres Gesicht
Wenn wir unsere üblichen Geisteshaltungen und Gewohnheitsmuster ganz ohne Maske oder Werturteil betrachten, blicken wir durch sie hindurch – und sehen, wer wir wirklich sind. Jenseits des „Ichs“ und seiner Wünsche und Abneigungen, jenseits des Selbst, das ständig kämpft und an der Welt zerrt, liegt unser echtes Wesen und wahres Antlitz.
Dies ist das Angesicht unseres natürlichen Zustandes – frei von dem Streben, etwas zu werden, was wir nicht sind. Es ist das Antlitz eines potentiell erleuchteten Wesens, dessen Weisheit, Qualitäten, und Mut keine Grenzen kennen. Indem wir unser tieferes Potenzial und alles was uns behindert, erkennen, beginnen wir die Ursachen für unser Leid zu verstehen – und wir können beginnen etwas daran zu ändern.
Wenn wir Selbst-Erkenntnis praktizieren, nehmen wir unsere Befreiung in die eigene Hand. Dieser kompromisslose Pfad verlangt echten Mut und Furchtlosigkeit. Wenn wir den gewohnten Rahmen unseres Ichs sprengen, führt uns dies direkt zu der Wahrheit unserer Buddha-Natur, unseres wahren Antlitzes, und damit zur Freiheit von Leid.
Der Spuk unseres Ego-Geistes
Das Festhalten an der üblichen Vorstellung vom Ich oder Ego ist die Quelle all unseres Leides und unserer Verwirrung. Die Ironie liegt darin, dass wir dieses „Ich“ zwar hegen und pflegen, es aber gar nicht finden, wenn wir danach suchen! Das Ich ist schlau, verschlagen und nicht zu fassen. Wenn ich sage „Ich bin alt“, beziehe ich mich auf meinen Körper als „Ich“. Wenn ich von „meinem Körper“ spreche, mache ich das Ich zum Inhaber meines Körpers. Wenn ich sage „Ich bin müde“, setze ich das Ich mit körperlichen oder seelischen Empfindungen gleich. Das Ich wird zu meiner Wahrnehmung, wenn ich sage „Ich sehe“, und zu meinen Gedanken, wenn ich sage „Ich denke“. Wenn wir das Ich weder innerhalb noch außerhalb dieser Aspekte finden können, schließen wir daraus vielleicht, dass das Ich dasjenige ist, was sich all dieser Dinge bewusst ist – also das Bewusstsein oder der Geist.
Wenn wir aber nach diesem Geist suchen, dann sind wir nicht in der Lage, eine Gestalt ausfindig zu machen, eine Farbe oder eine Form. Wir könnten ihn als „Ego-Geist“ bezeichnen. Dieser Geist, den wir mit dem Selbst gleichsetzen, steuert all unsere Handlungen, aber wir können ihn nicht wirklich ausfindig machen: Es ist geradezu gespenstisch, als herrschte in unserem Zuhause ein Gespenst. Das Haus sieht leer aus, aber die ganze Hausarbeit ist getan. Das Bett ist gemacht, der Tee eingeschenkt, und das Frühstück ist angerichtet.
Das Merkwürdige ist, dass wir nie in Frage stellen, ob ein Hausbewohner da ist. Wir gehen einfach davon aus, dass jemand oder etwas da ist. Aber die ganze Zeit über wurde unser Leben von einem Gespenst gelenkt, und jetzt ist es an der Zeit, dem Spuk ein Ende zu setzen. Unser Ego-Geist hat uns zwar gedient – aber nicht wirklich genutzt. Er hat uns in den Leidensbereich von Samsara gelockt und uns versklavt. Wenn der Ego-Geist sagt: „Ärgere dich!“, dann werden wir wütend. Wenn er sagt: „Klammere dich fest!“, dann leben wir unsere Anhaftungen aus. Wenn wir das Kleingedruckte in dem Sklavenvertrag lesen, den wir mit dem Ego-Geist geschlossen haben, dann erkennen wir, wie er uns unter Druck setzt, uns austrickst und zu Unternehmungen mit unerwünschten Folgen verleitet.
Wenn wir aufhören wollen, der Sklave dieses Gespenstes zu sein, müssen wir vom Ego-Geist verlangen, sein Gesicht zu zeigen. Kein echter Geist wird sich zeigen, wenn er das hört! Wir können diese einfache Meditation den ganzen Tag über praktizieren. Immer, wenn wir nicht recht wissen, was wir mit uns anfangen sollen, verlangen wir von unserem Ego-Geist, sein Gesicht zu zeigen. Während wir unser Abendessen kochen oder auf den Bus warten, fordern wir den Ego-Geist heraus, sein Gesicht zu zeigen.
Macht das vor allem, wenn der Ego-Geist euch zu überwältigen droht, wenn ihr euch von ihm bedroht, eingeschüchtert, oder versklavt fühlt. Nehmt eine aufrechte Haltung ein und fordert den Ego-Geist heraus. Zeigt Rückgrat, schwankt nicht und lasst euch nicht reinlegen. Wenn ihr den Ego-Geist herausfordert, seid standhaft, und dabei sanft, eindringlich, aber nie aggressiv. Sagt einfach zum Ego-Geist: „Zeig mir dein Gesicht!“ Wenn sich kein Geist zeigt, der sagt: „Hier bin ich!“, dann wird der Ego-Geist langsam seine Kontrolle über euch verlieren und ihr müsst weniger kämpfen. Seht selbst, ob das stimmt.
Es kann natürlich sein, dass euer Geist ein Gesicht hat und ihr eine andere Erfahrung macht. Aber wenn ihr keinen Geist mit einem Gesicht zu sehen bekommt, dann werdet ihr euer Ringen nicht mehr so ernst nehmen, und all eure Qualen und Probleme werden weniger.
Wenn wir den Ego-Geist direkt hinterfragen, wird er entblößt: Da gibt es dann nichts mehr von dem, für das wir ihn gehalten haben! Wir können tatsächlich durch diesen scheinbar so massiven Ego-Geist oder das Selbst hindurchblicken. Aber was bleibt uns dann? Uns bleibt ein offenes, kluges Bewusstsein, ungetrübt von einem Selbst, das es zu hegen oder beschützen gilt. Dies ist der ursprüngliche Weisheitsgeist aller Wesen. In dieser Entdeckung zu ruhen, ist wahre Meditation – und wahre Meditation führt uns zu endgültiger Erkenntnis und zu Freiheit von Leid.
Die Lebenseinstellung eines Praktizierenden
Es ist ausgesprochen wichtig, tatsächlich nach dem Ego-Geist zu suchen. Nur so finden wir heraus, dass er nicht zu finden ist. Und wenn wir keinen Ego-Geist finden können, können wir auch kein Selbst ausfindig machen – warum also nehmen wir dann all unsere Gedanken, Gefühle und Erfahrungen so persönlich?
Ich erinnere mich an meine erste Erfahrung von Selbstlosigkeit. Ich erlebte ein starkes Freiheitsgefühl und eine tiefe Wertschätzung dafür, wie vollkommen die Dinge im Grunde sind, wenn ich meine Selbstsucht nicht dazwischen funken und alles durcheinander bringen lasse. Ich fühlte mich erleichtert, als ich mir darüber klar wurde, wie sinnlos all meine Anstrengungen sind, ein Selbst aufrechtzuerhalten.
Die meisten Leute mögen die Natur. Wir verbinden die natürliche Welt mit Schönheit, mit dem Reinen und Unberührten. Es irritiert uns, wenn jemand Bäume fällt oder in der Wildnis herumackert. Die Schönheit unserer eigenen inneren Natur können wir erkennen, wenn wir aufhören, all das, was uns auf unserem Weg begegnet, nur um der Selbstbestätigung willen zu manipulieren. So geht ein Praktizierender das Leben an.
Denk einmal darüber nach: Wie können wir Selbst-Erkenntnis praktizieren, solange wir uns an ein Ich klammern? Wir nehmen alles persönlich: meinen Schmerz, meine Wut, meine Unzulänglichkeiten. Wenn wir Gedanken und Gefühle persönlich nehmen, quälen sie uns. Gedanken und Gefühle auf diese Weise zu betrachten, ist, als würden wir unsere Nase in einen stinkenden Haufen stecken – wozu soll das gut sein? Es schafft nur mehr Leid. Das ist nicht die Sichtweise, von der wir hier sprechen. Mit der Sicht der Selbstlosigkeit können wir alles, was in unserem Bewusstsein auftaucht, genießen. Wir können akzeptieren, dass alles, was entsteht, Ergebnis unserer vergangenen Handlungen ist, unseres Karma, aber wir setzen es nicht mit dem gleich, wer wir sind.
Gedanken und Gefühle nutzen
Gedanken und Gefühle werden immer entstehen. Das Ziel der Praxis ist nicht sie loszuwerden. Wir können den Gedanken und Gefühlen genauso wenig ein Ende setzen wie den Situationen in der Welt, die sich scheinbar gegen uns oder zu unseren Gunsten entwickeln. Wir können uns aber dafür entscheiden, sie willkommen zu heißen und lernen, mit ihnen umzugehen. In gewisser Hinsicht sind sie nichts als Empfindungen. Wenn wir sie nicht verfestigen, sie nicht beurteilen als gut oder schlecht, richtig oder falsch, günstig oder ungünstig, dann können wir sie nutzen, um auf dem Pfad voranzukommen.
Wir machen uns Gedanken und Gefühle zunutze, indem wir beobachten, wie sie entstehen und vergehen. Auf diese Weise sehen wir, wie unwirklich sie sind. Wenn wir in der Lage sind, sie zu durchschauen, erkennen wir, dass sie uns nicht wirklich binden, uns nicht wirklich auf die falsche Fährte führen oder unseren Realitätssinn verzerren können. Und wir erwarten nicht länger, dass sie aufhören. Gerade die Erwartung, dass Gedanken und Gefühle versiegen sollten, ist irrig. Von dieser falschen Auffassung von Meditation können wir uns frei machen.
In den Sutras wird gesagt: „Wozu soll Mist gut sein, wenn nicht dazu, Zuckerrohr zu düngen?“ Genauso können wir sagen: „Wozu sind Gedanken und Gefühle – oder tatsächlich all unsere Erfahrungen – gut, wenn nicht dazu, unsere Einsicht zu fördern?“
Was uns davon abhält, sie uns zunutze zu machen, sind die Ängste und Reaktionen, die aus unserer Selbstsucht herrühren. Deshalb hat uns der Buddha gelehrt, die Dinge sein zu lassen. Ohne uns von ihnen bedroht zu fühlen oder sie beherrschen zu wollen, können wir die Dinge sich natürlich entwickeln und sie einfach sein lassen.
Wenn der Ego-Geist in der Meditation transparent wird, dann haben wir keinen Grund, ihn zu fürchten. Das vermindert unser Leid enorm. Wir entwickeln vielleicht sogar Begeisterung dafür, alle Facetten unseres Bewusstseins kennen zu lernen. Diese Haltung ist die Essenz der Praxis der Selbst-Erkenntnis.