Читать книгу Dein Leben liegt in deiner Hand - Dzigar Kongtrul - Страница 15
Оглавление2Die Magie der Spiegelungen
Wenn wir uns einen Film im Kino anschauen, können wir uns entspannen und den Film genießen, weil wir wissen, dass er nur Illusion ist. Diese magische Vorstellung, die uns geboten wird, entsteht aus dem Zusammenspiel vom Projektor, dem Film, dem Licht, der Leinwand und unserer eigenen Wahrnehmung. Einzelne, augenblickskurze Blitze von Farben, Formen und Geräuschen erschaffen die Illusion einer fortlaufenden Bewegung, die wir als Figuren, Landschaften, Handlung und Sprache wahrnehmen. Was wir „Wirklichkeit“ nennen, funktioniert auf ganz ähnliche Art. Unsere kognitiven Fähigkeiten, unsere Sinneswahrnehmungen, die Samen unseres vergangenen Karma4 und die gegenständliche Welt erschaffen zusammen den „Film“ unseres Lebens. All diese Elemente stehen in dynamischer Beziehung zueinander, dies hält die Dinge am Laufen und macht sie interessant. Man nennt das gegenseitige Abhängigkeit.
Anders ausgedrückt: Es gibt nichts, das nur für sich allein besteht. Wenn wir genauer hinsehen, erkennen wir das selbst. Augenblick für Augenblick entsteht, besteht und vergeht alles aufgrund einer unendlichen Vielfalt von Ursachen und Bedingungen. Weil sie voneinander abhängen, besitzen die Dinge keine echte, eigenständige Existenz. Wie könnten wir zum Beispiel eine Blume trennen von den vielen Ursachen und Bedingungen, die sie geschaffen haben – dem Wasser, der Erde, der Sonne, dem Samen, und so weiter? Können wir eine Blume ausfindig machen, die unabhängig von diesen Ursachen und Bedingungen existiert? Alles ist so eng miteinander verbunden, dass es schwierig ist, aufzuzeigen, wo eine Sache anfängt und eine andere endet. Genau dies ist gemeint, wenn wir von der leeren Natur aller Dinge sprechen.
Die äußere Welt in all ihrer Vielfalt und die innere Welt unserer Gedanken und Gefühle sind nicht so, wie sie zu sein scheinen. Alle Dinge scheinen objektiv zu existieren, aber in Wahrheit sind sie traumgleich: sie erscheinen, aber sie haben keine Substanz. Die Erfahrung von Leerheit machen wir nicht abseits der Welt gewöhnlicher Erscheinungen, wie viele Leute irrtümlich annehmen. In Wahrheit erfahren wir Leerheit, wenn unser Bewusstsein sich nicht auf den gewöhnlichen Schein fixiert.
Die Erkenntnis, dass die gegenständliche Welt leer ist, befreit uns von der problematischen Vorstellung, dass Dinge solide oder eigenständig existieren. Wir können uns zutiefst entspannen und verspüren weniger Drang, unseren Geist und unsere Umgebung kontrollieren zu wollen. Weil Leerheit die Natur von allem ist, können wir unser Leben betrachten wie einen Film. Wir können uns zurücklehnen und die Show genießen.
Die Show genießen
Unseren Geist zu betrachten, kann mehr Spaß machen als einen Hollywoodfilm anzuschauen. Die Leinwand, der Projektor, die Geschichte, die Protagonisten und das Drama sind alle Teil unserer eigenen Wahrnehmung, und das gesamte Samsara und Nirvana sind Teil der Show. Eine solch großartige Kinoproduktion könnten wir nicht für Millionen Dollar kaufen. Unsere Eintrittskarte in dieses Kino ist, es zu „durchschauen“: zu sehen, dass Phänomene nicht so existieren wie sie erscheinen.
Es ist enorm wichtig, Erscheinungen – Gedanken, Gefühle, und äußere Objekte – zu durchschauen. Wenn wir sie nicht durchschauen, dann belegen wir das, was fließend, wandelbar und unfassbar ist, mit einer Existenz, die es gar nicht hat, und dann empfinden wir die Welt entweder als Verführung oder als Bedrohung. Das macht geistigen Frieden geradezu unmöglich.
Zum Beispiel macht uns etwas wütend, und wir müssen die Sache einfach weiterverfolgen, müssen ihr auf den Grund gehen oder sie sonst wie zum Abschluss bringen. Wir sind mitten in einer hitzigen Unterhaltung, und wir wollen unbedingt unser Argument rüberbringen. Oder wir sind durcheinander und wollen irgendwie einen klaren Kopf gewinnen. Jeder Gedanke verlangt geradezu nach dem nächsten. Aber irgendwann können wir erkennen: All dies sind nur Gedanken und Gefühle. Egal ob sie relevant sind oder unwichtig, sie sind flüchtig und ohne Substanz.
Was wäre, wenn wir unsere Ideen und Ängste so durchschauen könnten wie einen Film? Wir könnten anfangen, Spaß an ihnen zu haben, über sie lachen und sie einfach sein lassen. Wenn wir sie zu ernst nehmen, untergräbt dies den ganzen Sinn all unserer Versuche auf dem spirituellen Pfad. Wir würden uns selbst einen großen Gefallen tun, wenn wir diesen zerstreuten Geist einfach sein lassen könnten.
Wenn wir die Dinge sein lassen, erlauben wir ihnen, zu werden wie sie sind – statt wie wir sie haben wollen. Dies ist die buddhistische Sicht. Ein Sprichwort sagt: „Meditation macht viel mehr Freude, wenn sie nicht konstruiert wird; ein See ist viel klarer, wenn man ihn nicht aufwühlt,“ – das bedeutet, Dinge sein zu lassen. Darin liegt der Sinn von Selbst-Erkenntnis.
Nicht den Boden verlieren
Die Praxis der Selbst-Erkenntnis dient dazu, die Dinge klar zu sehen, ohne den Fluss zu trüben, indem wir ihn ändern oder kontrollieren wollen. Leute, die glauben, sie könnten alles verändern oder beherrschen, leiden meist große Qualen, denn das ist schlicht unmöglich.
Praktizierende haben manchmal eine ablehnende Haltung gegenüber aufwühlenden Gedanken und Gefühlen, oder sie glauben, sie sollten darüber erhaben sein. Wer schon seit vielen Jahren praktiziert, mag sich fragen: „Warum erlebe ich nach all dieser Zeit immer noch so viel Chaos im Kopf? Warum findet mein Geist keine Ruhe?“ Hinter dieser Frage steckt eine irrige Auffassung vom Ziel der Praxis. Egal, wie fortgeschritten wir in der Praxis oder unserer Erkenntnis auch sein mögen, die natürliche Aktivität des Geistes versiegt nicht. Sie ist ein Ausdruck der Natur des Geistes, die voller Möglichkeiten steckt. Anstatt die Lebendigkeit des Geistes abzulehnen, können wir sie nutzen, um unsere Praxis zu vertiefen und zu bereichern.
Wir praktizieren ja gerade deshalb, um sowohl mit friedvollen als auch unfriedlichen Bewusstseinszuständen zu arbeiten. Normalerweise wühlen uns unfriedliche Gedanken und Gefühle auf. Vor allem wenn sie sich um unser Wohlergehen drehen, rufen sie Ängste wach. Aber wichtig ist das Wissen, dass dies alles ganz natürlich ist. Gedanken sind die Frucht unseres Karma; Gefühle und Ängste sind wie der Saft dieser Frucht. Wenn wir sie haben, heißt das nicht unbedingt, als Praktizierende den Boden unter den Füßen verloren zu haben.
Wenn störende Gedanken und Gefühle auftauchen, ist unsere einzige Chance, sie sich natürlich entfalten zu lassen. Wir sollten weder versuchen, sie zu kontrollieren – noch sollten wir in ihnen schwelgen. Sie wichtig zu nehmen, macht sie nur noch „realer“. Lasst uns statt dessen unseren Blickwinkel ein wenig verändern, und wir werden erkennen, wie dieser verstörte und ängstliche Geist bloß ein Ausdruck der grundlegenden Natur unseres Bewusstseins ist – und die ist Leerheit, also ist alles okay. Alles ist in guter Ordnung und es gibt keinen Grund zur Beunruhigung oder Niedergeschlagenheit. Wenn wir dies erkennen, erfahren wir Frieden.
Frieden entsteht, wenn die wahre Natur der Dinge heller strahlt als ihr Anschein. Der Geist findet Frieden, wenn er subtil genug eingestellt ist, die wahre Natur seines eigenen Ausdrucks zu erkennen: Er erkennt, dass sein wahres Wesen offen, ohne Hindernisse und voller Potenzial ist. Für diese Art von Einsicht brauchen wir alle eine stetige Praxis der Selbst-Erkenntnis.
Selbst-Erkenntnis ist das Eingangstor zur Freiheit. Sie bringt auch eine große Steigerung von Wertschätzung und Freude mit sich. Wir genießen es schließlich, Zeit mit unserem eigenen Geist zu verbringen und über unsere Erfahrungen mit den Lehren nachzudenken. Wie die Sonne, die aus den Wolken auftaucht, strahlen die Lehren des Dharma klar und hell. Und der Segen der Linienhalter, all der verwirklichten Meister, auf die wir zurückblicken können, strömt in unser Herz und bringt unsere gewohnheitsmäßige Beziehung zu unserem Geist zum Schmelzen.
Dann wird klar, wie wir dieses Leben nutzen und wie wir mit alltäglichem Glück und Leid umgehen sollten. Weil beide der Ausdruck unserer grundlegenden Natur sind, ist es ebenso sinnlos, danach zu streben, glücklich oder noch glücklicher zu werden – wie es sinnlos ist, danach zu streben, uns von Leiden und Schmerzen zu befreien. Um Frieden zu finden, sollten wir uns mit unserem Leben auf dieser sehr grundlegenden Ebene anfreunden.