Читать книгу Der 12 Romane Krimi Koffer Juni 2021 - Earl Warren - Страница 68
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ОглавлениеAm folgenden Abend ließen sie sich müde auf ein Stück Gras zwischen Bäumen, Palmen und Büschen fallen. Pablo zerriss das letzte Stück Brot und gab jedem ein Stück. Sie hatten nichts mehr zu trinken, aber sie fanden überall Kokosnüsse, so dass sie nicht verdursten würden.
„Den Hunger halten wir ein paar Tage aus“, sagte Lolita. „Wie weit ist es noch bis zu der Mission, Fidel?“
Fidel war ein junger Bolivianer, schwarzhaarig, bärtig, mit dunklen Augen und schwarzen, zusammengewachsenen Brauen, die ihm etwas Drohendes verliehen. Er studierte seine Karte und sagte: „Es müssen ungefähr noch vierzig Kilometer sein. Zwanzig bis zum Beni, und dann noch mal zwanzig.“
„Das können wir in zwei Tagen schaffen“, sagte Lolita. „Ist es sicher, dass wir die Mission finden, Fidel?“
Der junge Rebell zuckte die Schultern und lächelte schief.
„Dann müssen wir es eben hoffen“, sagte Lolita.
„Wir müssen auch hoffen, dass in der Mission noch jemand lebt“, brummte Pablo. „Die Indios haben den Urwald doch sicher längst alle verlassen.“
Archibald blickte auf die Karte, die Fidel in den Händen hatte. Er dachte dabei daran, dass er sich immer tiefer in die Rebellion verstricken würde, je weiter sie kamen. Und wenn sie erst auf eine andere Gruppe stießen, vielleicht auf eine viel stärkere, würde Lolita kaum etwas zu sagen haben, und es war fraglich, was dann mit ihm geschehen würde.
Er sah Striche auf der Karte, die Fidel eingetragen haben musste, sah den Fluss, der den Urwald durchschnitt, und das Ende des Waldes im Norden, vielleicht gut hundert Kilometer von der Stelle entfernt, an der die Linie endete.
Er wusste nicht, ob es Sinn hatte, was er tat, aber ewig bei den Rebellen zu bleiben, das war sicher auch nur der Tod. Langsam stand er auf, wandte sich ab und verließ den Platz, auf dem sie lagen und ihr letztes Brot aßen.
Niemand schien zu beachten, dass er sich entfernte. Er ging den Weg zurück, den sie gekommen waren, bis er die anderen hinter sich nicht mehr sehen konnte. Dann lief er schneller, bog zwischen den Palmen ab und lief nach Osten. In dieser Richtung war es bis zum Ende des Urwaldes nach Fidels Karte noch keine dreißig Kilometer.
Gestrüpp brach unter seinen Schuhen, die genauso wie sein Anzug arg gelitten hatten. Ein morscher, umgestürzter Baum lag quer auf dem Boden. Archibald sprang darüber hinweg, spürte, wie der Boden federte und nachgab, er machte einen Satz, um von dem gefährlichen Sumpf zu kommen, aber als er wieder auf dem Boden aufkam, sank er bis zu den Knöcheln in breiige Erde und brachte die Füße nicht mehr heraus.
Heiß und kalt lief es ihm über den Rücken, als er tiefer im Boden versank. Er wagte sich nicht mehr zu bewegen, steckte binnen Sekunden bis zu den Knien im Sumpf und sah erst jetzt, wie rund um ihn Blasen aus dem Boden stiegen und zerplatzten.
Er blickte gehetzt hinter sich, aber der umgestürzte Baum war das einzige, woran er sich hätte festhalten können.
Doch davon war er schon drei Meter entfernt.
Der schmatzende Sumpf zog ihn tiefer. Schweiß lief Archibald Duggan über das Gesicht. Er überlegte, ob es Sinn hatte, nach den anderen zu rufen. Vielleicht würden sie ihn nicht einmal hören. Und wenn sie ihn hören und finden würden, vielleicht würden sie dann teuflisch grinsend hinter dem umgestürzten Baum stehen, wo der Boden fest war.
Er fluchte, wischte sich über das Gesicht und legte die Hände auf den Sumpf, als wollte er ihn zurückhalten. Dann warf er sich rückwärts, bekam die Beine aber nicht frei. Es war, als wäre ein Loch unter ihm entstanden, in das er jäh hineinsackte. Bis zum Gürtel steckte er schon in der brodelnden Erde, die bis ins Innerste der Welt hinein aus diesem lehmigen Brei zu bestehen schien.
Da hörte er das Brechen von Ästen, blickte zurück und sah Lolita auftauchen.
Sie blieb hinter dem umgestürzten Baum stehen und starrte ihn an. „Hier!“, schrie sie.
Archibald sank indessen immer noch tiefer. Es war, als hätte er schon Stahlklammern an den Füßen, die seine Beine zusammenpressten.
Wieder knackte es im Dickicht. Pablo und zwei andere Männer tauchten auf.
„Ein Seil!“, rief Lolita. „Schnell!“
Archibald war bis zur Brust eingesunken und meinte, der Sumpf würde ihm die Rippen brechen.
Pablo rannte zurück und schlug den Strang einer Liane ab, der sich um einen Baum gewunden hatte. Er kam zurück, ließ das Messer fallen und warf Archibald das eine Ende der Liane zu.
Archibald griff danach und presste die Finger so fest um den Strang, dass sie ihn schmerzten. Lolita und der andere Mann griffen mit zu, und alle drei zogen die Liane über den umgestürzten Baum.
Archibald war es, als würden ihm die Beine abreißen. Die Liane rutschte ihm durch die nassen Hände, schnitt ihm die Finger auf, aber er ließ nicht las, wurde schneller gezogen, war auf einmal frei, rutschte über das Moor und schrammte mit dem Kopf gegen den Baum.
Pablo kam keuchend zurück, kletterte herüber, zerrte Archibald hoch und ließ ihn mit dem Oberkörper auf den morschen, liegenden Baum fallen, „Alles in Ordnung?“
Archibald hob den Kopf und nickte.
Pablo schlug ihm auf die Schulter, lachte, packte seinen Arm und richtete ihn auf. „Da muss man langsam gehen, weißt du! Einen Fuß vor den anderen setzen und den Boden abtasten. Sonst kommt man in der Hölle an!“
„Danke“, sagte Archibald. Der Schweiß brannte ihm in den Augen und er wunderte sich, dass sie noch immer nicht hämisch grinsten.
„Gehen wir.“ Lolita wandte sich ab.
Archibald kletterte über den Baum hinweg und folgte ihr. Er taumelte ziemlich stark und spürte die Schwäche viel stärker, als er sich eingestehen wollte.
Pablo und der andere Mann folgten ihm. Omar, der riesige Schwarze, wartete auf dem Weg, den sie geschlagen hatten.
„Er ist in den Sumpf geraten“, sagte Lolita, während sie an Omar vorbeiging.
Der Schwarze blickte Archibald an, sagte aber nichts, verzog auch nicht das Gesicht. Es war gerade, als hätten sie ausgemacht, so zu reagieren und als hätten sie wissen, können, wo und wie sie ihn finden würden.
Dann sah Archibald den Lagerplatz, die Mädchen, Mao, der in seiner Bibel der Revolution las, und die anderen.
„Er ist in die Sümpfe geraten“, sagte Lolita, als sie sich setzte.
„Er wollte fliehen“, meinte Fidel, der seine Karte und den Marschkompass vor sich liegen hatte.
„Ja, er wollte fliehen.“ Lolita setzte sich.
Archibald ließ sich auf den Bauch fallen.
Lolita warf ihm sein Stück Brot zu. „Wir sollten vielleicht manches an unserer Strategie überdenken“, sagte sie versonnen.
„Zum Beispiel?“ Pablo setzte sich.
Der große Schwarze lehnte sich an einen Baum. Mao klappte sein Buch zu, nahm die Brille ab, putzte sie und zwinkerte kurzsichtig.
„Zum Beispiel, dass es das legitime Recht eines Gefangenen sein muss, dass er versucht zu fliehen“, sagte Lolita.
Pablo kratzte sich im Vollbart und blickte auf die anderen.
Sie sahen alle nachdenklich aus.
Mao setzte die Brille wieder auf. „Legitime Rechte haben nur die Revolutionäre“, sagte er. „Die Ausbeuter und ihre Schergen haben nur den Tod verdient!“
„So ist es!“, stimmte der Schwarze zu.
„Manche Ideologien vereinfachen alles zu sehr“, erklärte Lolita. „Und sie führen damit zu neuen Unrechten! Zum Beispiel die Russen. Wisst ihr eigentlich, dass viele Russen ihren Staat nicht lieben? Dass sie den Funktionären vorwerfen, nicht verwirklicht zu haben, was Lenin wollte? Dass die Funktionäre Unterschiede in der Gesellschaft machen, die aufs Neue arme und reiche Bürger hervorgebracht haben? Die Freiheit des Andersdenkenden, das ist die Freiheit!“
Archibald biss in das harte Brot. Es war angeschimmelt. Er wusste, dass er es noch vor ein paar Tagen nicht einmal richtig angesehen hätte. Nun musste er sich fragen, ob überhaupt, und wenn ja, wann er wieder zu einem solchen Stück Brot kommen würde.
Mao las einen Vers seines Vorbildes vor, der widerlegen sollte, was Lolita gesagt hatte. Und Pablo nickte.
„Hast du schon Rosa Luxemburg gelesen?“, fragte Lolita.
Mao rückte an seiner Brille herum. „Natürlich.“
„Was hältst du von ihr?“
„Dumme Frage!“, schimpfte Mao.
„Sie hat das gesagt, mit der Freiheit des Andersdenkenden“, erklärte Lolita.
Archibald blickte auf seine Hose, an der der Schlamm rasch zu trocknen und zu bröckeln begann.
„Sie hat das gesagt?“, fragte Mao. „Das weiß ich nicht.“
„Man kann nicht alles wissen“, entgegnete Lolita. „Aber man kann mehr als nur das Buch eines Menschen studieren. Dann weiß man sicher auch mehr.“
„Vielleicht“, gab Mao knurrig zu.
Pablo kniete auf dem Boden, blickte auf Mao, auf den Schwarzen, dann auf die anderen Männer und schließlich auf die Mädchen, die teilnahmslos dabeisaßen und in die grüne Hölle blickten, die sie umgab und über die sich rasch die Dämmerung senkte.
„Wir haben nichts zu überdenken“, sagte Omar, der Schwarze. „Alles, was wir tun, ist richtig.“
Archibald Duggan blickte zu dem stämmigen Burschen hinauf.
„Genau“, sagte Mao und nickte mehrmals bestätigend. „Wir Revolutionäre machen keine Fehler!“
„So ist es!“, stimmte auch Pablo zu.
Archibald blickte von einem zum anderen und lächelte.
„Oder bist du anderer Meinung?“, knurrte Pablo böse.
„Nach streng wissenschaftlichen Erkenntnissen macht jeder Mensch Fehler“, erwiderte Archibald. „Aber ich fürchte, wissenschaftliche Erkenntnisse interessieren euch nicht sehr.“
„Sie interessieren uns gar nicht, wenn sie von kapitalistischen Wissenschaftlern stammen“, sagte Mao sofort.
„Was hat denn das damit zu tun?“, fragte Lolita. „Wenn du jemals an einer Universität gewesen bist, dann weißt du, dass die Wissenschaft vom System nicht zu beeinflussen ist. Man sammelt Daten und Fakten und wertet sie aus.“
„Alles, was von den Kapitalisten kommt, taugt nichts“, sagte der Schwarze.
Archibald legte sich auf den Rücken und blickte hinauf zu den Wipfeln der riesigen Bäume, die langsam in der Dämmerung verschwammen. „Dann werdet ihr sicher auch die Fabriken und Maschinen sprengen, die von den Kapitalisten gebaut wurden“, sagte er. „Die Straßen, die Eisenbahn, die Flugzeuge, die Schiffe, alles. Es hat vor den Kapitalisten nicht sehr viel von dem gegeben, was heute unser ganzes Leben bestimmt. Ihr müsstet praktisch noch einmal im Mittelalter anfangen.“
„Ihr solltet vor allem nicht anfangen von Dingen zu reden, von denen ihr nicht die Bohne versteht!“, schimpfte Lolita.
„Du verstehst ja was davon!“, zischte Pablo.
„Ja, das haben wir gesehen!“ Der Schwarze nickte. „Am Waldrand, als die anderen starben!“
Lolita zog den Kopf ein.
Archibald wälzte sich herum und blickte wieder zwischen ihnen hin und her. Die Mädchen und der größere Teil der Männer waren an dem Streit unbeteiligt. Aber trotzdem sah es ganz danach aus, als wollte sich die Gruppe jetzt spalten. Archibald befürchtete, dass sie dann auch aufeinander losgehen würden.
„Ja, ich habe einen schweren Fehler gemacht“, gab Lolita zu. „Es war sicher meine Schuld, dass so viele sterben mussten. Aber hat einer von euch vielleicht einen besseren Vorschlag gemacht? – Pablo wallte Sheppard auf der Straße übergeben. Dazu hätten wir einen lebenden Sheppard gebraucht, und bis in den Wald zurückgekommen wäre keiner von uns! Und du, Omar, dir war gar nichts eingefallen!“
„Du hast auch nur zweitausend Dollar bekommen“, knurrte der Schwarze. „Und einen Sender!“
„Still!“ Pablo kniete und lauschte.
Archibald hörte Motorengeräusche, die rasch lauter wurden.
Die Guerillas griffen nach ihren Waffen und standen auf.
Archibald begriff, dass es Rotoren waren, die er hörte. Mehrere Hubschrauber näherten sich.
Die Rebellen traten zurück und suchten Schutz bei den riesigen Bäumen.
Archibald legte sich auf den Rücken und beobachtete die Wipfel. Die Rotorengeräusche näherten sich noch immer, gingen dann aber doch in einiger Entfernung vorbei und wurden wieder leiser.
Nach und nach schoben sich die Rebellen zusammen, die Blicke noch immer über sich gerichtet.
Archibald setzte sich.
„Sie haben festgestellt, dass der Sender nicht mehr weiterbewegt wird“, erklärte Lolita. „Oder sie haben ihn schon gefunden. Auf jeden Fall wissen sie, dass wir nicht mehr an der gleichen Stelle wie ihr verfluchter Sender sind. Sie suchen uns wieder.“
„Sie werden Fallschirmjäger absetzen“, sagte Pablo. „Man muss aufpassen, darf sie nicht an sich herankommen lassen. Sie sind mit Messern noch gefährlicher als mit Pistolen. Und sie können sich gut tarnen. Man kann auf sie treten, ohne sie zu bemerken, wenn man nicht wachsam ist.“
Die Rotorengeräusche verklangen in der herabsinkenden Dunkelheit. In der Schwärze des Dschungels erwachten Stimmen; Hunderte, Tausende von Stimmen, als würde jeder Baum zu rufen beginnen.
„Wir müssen Wachen ausstellen“, sagte Lolita leise. „Vielleicht haben sie schon Fallschirmjäger abgesetzt. Sie können sie von den Hubschraubern auch an Seilen oder Strickleitern herunterlassen. – Pablo, teile die Wachen ein!“
Pablo wandte sich ab und verschwand in der Dunkelheit. „Fidel, komm hierher!“, hörten sie ihn rufen.
Fidel ging hinter ihm her. Nach einer Weile kam Pablo zurück, ging vorbei und auf der anderen Seite in den Busch hinein.
„Amado, hierher!“, hörten sie ihn rufen
Amado lief in das Dunkel und verschwand.
Pablo kam zurück und setzte sich.
„Wir wollen unseren Streit vergessen“, sagte Mao. „Aber gründlich ausdiskutiert muss er zu einem späteren Zeitpunkt noch werden, Lolita. Das ist eine Grundsatzfrage!“
„Ja, eine Grundsatzfrage!“, bestätigte der Schwarze. „Lies noch einen Vers vor, Mao!“
Mao konnte keinen Vers vorlesen, weil es bereits zu dunkel war und sie keine Lampen hatten, aber Mao sagte einen Vers aus dem Gedächtnis auf und fragte den Schwarzen dann, ob er noch einen hören wollte.
„Nein“, sagte Oman „Ich muss erst darüber nachdenken, was der Genosse Mao Tse Tung damit meint. Danke, Mao!“
Lolita kam zu Archibald herüber und legte sich neben ihn. Er schaute sie an und sah den Glanz in ihren großen Mandelaugen, und er begriff immer weniger, wie sie zu diesen Männern gekommen war, die sich schon tief in einer geistigen Einbahnstraße befanden und denen mit sachlichen Argumenten nicht beizukommen war. Lolita hatte die Führung schon längst nicht mehr in der Hand. Und auf einmal fragte Archibald sich, wann sie auf den Gedanken kommen würden, ihre Anführerin selbst an den verhassten Klassenfeind zu verkaufen, um an die Million Pesos zu kommen. Denn im Endeffekt hatten sie eines von ihren Feinden längst übernommen: dass Geld der Maßstab aller Dinge war.