Читать книгу Der 12 Romane Krimi Koffer Juni 2021 - Earl Warren - Страница 72

Оглавление

16


Am späten Nachmittag erreichten sie den Fluss. Mit dem Beni kamen Treibholz und Schlamm aus den Anden und wälzten sich in einem breiten Strom mitten durch den Urwald. An manchen Stellen waren die Wipfel der Bäume so gewaltig, dass sie sich über dem Strom gegeneinander neigten und ein Dach bildeten. Lehmstreifen an den ufernahen Bäumen und Erdklumpen, die an der rissigen Rinde hingen, zeigten, dass die Zeit des Hochwassers schon vorbei war.

Sie blickten hinüber zum anderen Ufer. Aber auch dort war der Urwald so dicht, dass sie nicht sehen konnten, was hinter den ersten Bäumen war.

Fidel blickte auf seine Karte, auf den Fluss und wieder auf die Karte. „Irgendwo ist eine Hängebrücke“, sagte er. „Wahrscheinlich weiter im Nordosten.“

„Er fließt nicht sehr schnell“, entgegnete der Schwarze. „Wenn wir nicht hinüber laufen können, schwimmend geht es bestimmt.“

Pablo verzog höhnisch das Gesicht. „Du kommst noch nicht bis in die Mitte, dann haben die Piranhas alles Fleisch von deinem Skelett gefressen, Omar. Da kommt nur dein Gerippe drüben aus dem Wasser!“

„Piranhas?“, fragte der Schwarze.

Die anderen grinsten nun fast alle, weil sie etwas wussten, wovon der Schwarze noch nicht gehört hatte.

„Dreißig Zentimeter ungefähr“, erklärte Pablo und zeigte zwischen den Händen, wie groß so ein Fisch sein sollte. „Und die haben Zahnreihen wie Sägen. Die fallen zu Hunderten und Tausenden über dich her. Und sind hier überall, ziehen sich blitzschnell zusammen, wenn nur etwas ins Wasser fällt.“

Fidel studierte immer noch seine Karte. „Doch, wir müssen nach Nordosten.“

„Dann weiter!“ Lolita ging um die anderen herum, aber Pablo schob sie zurück und übernahm wieder die Führung.

Nur langsam kamen sie in der Nähe des Flusses voran.

Einmal jagte ein gestreiftes Tier vom Ufer in den Wald hinein. Pablo schoss hinter ihm her, traf es aber nicht mehr.

Eine Stunde später sahen sie die Hängebrücke vor sich. Sie führte ein paar Meter über dem Wasser von einem dicken Baum zu einem anderen am jenseitigen Ufer. Sie blieben wieder stehen und beobachteten das Gelände.

„Es ist auf zwanzig oder dreißig Kilometer die einzige Möglichkeit, auf die andere Seite zu kommen“, sagte Pablo erklärend. „Vielleicht warten hier wieder Soldaten auf uns.“

Minutenlang beobachteten sie die Umgebung, aber es regte sie nichts.

„Wir müssen nachsehen“, entschied Lolita.

„Wer?“, fragte Pablo sofort.

„Ich“, erwiderte die Frau.

Archibald packte ihren Arm und schob sie zurück. „Ich werde für dich nachsehen, Lolita. Es ist wirklich nichts für dich.“

Pablo grinste ihn an. Neben ihm lehnte Mao an einem Baum und las in seinem Buch.

„Gut, Gringo“, sagte Pablo. „Jorge, geh du mit ihm. Und hör zu, Archibald: Du findest dich auch drüben ohne Karte und Kompass nicht weiter.“

„Das weiß ich doch.“ Archibald nahm die Maschinenpistole von der Schulter und klemmte sie unter den Arm. Sie hatten keine Anstalten gemacht, ihm die Waffe wieder abzunehmen. Er ging an Pablo vorbei und schlich um dichtes Gebüsch herum. Leuchtende Blumen standen in der Nähe des Ufers. Die Baumgrenze reichte stellenweise bis weit in den Fluss hinein.

Dann konnten sie den dicken Baum durch das Dickicht sehen. Eine Leiter führte zur Brücke hinauf, die aus Seilen und eingelegten Brettern bestand und in der Mitte über dem Fluss weit durchhing.

Jorge drehte sich im Kreise herum, ging ein paar Schritte weiter und blickte zurück.

Archibald folgte dem Bolivianer, sah eine steil abfallende, vom Hochwasser unterspülte Böschung und darunter einen breiten Sandstreifen, auf dem ein ganzes Heer großer Alligatoren übereinander in der Sonne lag. Ein Alligator hob den langen Schädel und öffnete das Maul, als würde er gähnen.

Jorge stand auf Moos am Rand der unterspülten Böschung, und Archibald sah, wie sich der Boden unter seinem Gewicht neigte. Er begriff schlagartig, dass unter dem Moos das Erdreich weggespült war und rief: „Jorge, zurück verdammt!“

Da brach das Moos schon ... Jorge stürzte hinunter auf den Sandstreifen, rollte schreiend den Alligatoren entgegen und wurde von einem gewaltigen Maul geschnappt, bevor er aufspringen konnte. Er schrie in panischer Angst, das gewaltige Maul schnappte zu, Knochen krachten, und das Schreien verklang.

Der Haufen der Tiere geriet in Bewegung. Sie waren viel schneller, als Archibald Duggan gedacht hatte, fielen über das vielleicht schon tote Opfer her und zerfetzten es.

Archibald taumelte rückwärts und musste sich übergeben. Er prallte gegen einen Baum, rang nach Atem und wagte es nicht mehr, auf den Uferstreifen zu blicken.

Holz barst um ihn herum. Die Rebellen tauchten auf, starrten ihn an und Pablo richtete die Maschinenpistole auf ihn.

„Wo ist Jorge?“, fragte Lolita, die die Maschinenpistole des Bärtigen zur Seite schob.

Archibald zeigte auf das abgebrochene Moos, das hinunter zu den Alligatoren hing.

Die anderen gingen darauf zu, aber sie sahen von Jorge nur noch einen Arm, den zwei Alligatoren zwischen den Zähnen hatten und zerrissen.

Lolita taumelte rückwärts, ließ sich auf die Knie fallen und hustete würgend.

Pablo wandte sich um. Es zuckte in seinem großen Bart. Funken schossen aus seinen Augen. „Es hat vielleicht doch etwas zu bedeuten“, sagte er.

Sie begriffen alle, was er meinte. Lolita hob den Kopf. Mao sagte: „Nein, Pablo, bestimmt nicht. Es wäre auch passiert, wenn wir vierzehn gewesen wären!“

„Das glaube ich aber nicht!“, knurrte der bärtige Guerilla.

„Aber es ist so!“, beharrte Mao. „Du musst dich davon freimachen, Pablo! Der Teufel ist eine Erfindung der Kirche. Eine reine Schutzbehauptung der Unterdrücker!“

„So, meinst du?“ Pablo packte den jungen Träumer und stieß ihn zur Seite. Mao hielt mit beiden Händen seine Revolutionsbibel fest und verlor die Maschinenpistole. „Und was meinst du, Lolita?“

Die junge Frau stand auf.

„Er ist der unterspülten Böschung zu nahe gekommen“, sagte Archibald. „Weiter war gar nichts.“

„Ein klarer Unglücksfall“, sagte Mao beschwörend.

Die anderen murmelten böse.

Archibald Duggan stemmte sich von dem Baum los. Lolita kam auf ihn zu.

„Wenn ihr euch davon nicht freimachen könnt, habt ihr keine Chance!“, rief Mao. „Die Unterdrücker haben zu allen Zeiten gewusst, dass es Unsinn ist, was sie den Leuten einreden! Es waren immer reine Schutzbehauptungen, Pablo! Damit haben sie ihre Macht gefestigt! Die anderen in frommer Demut gehalten, ein Heer von Denunzianten herangebildet!“

„Halt die Schnauze!“, zischte Pablo. „Du bist auch so ein neunmalkluger Gringo.“

Archibald richtete die Maschinenpistole auf Pablo und ging neben dem Baum rückwärts. Lolita folgte ihm.

„Ihr seid ein verrückter Haufen“, sagte Archibald. „In euch haben sich Gedanken und Vorstellungen von drei Generationen festgesetzt. Ihr betet eine rote Fahne, ein Plakat von Lenin und eure Heiligen zugleich an, und ihr wollt mit dem Denken von Feudalherren über drei Millionen Menschen in eurem Land für eure Sache begeistern. Ihr müsst zwangsläufig scheitern, auch wenn es euch gelingen sollte, die Revolution aus dem Urwald hinaustragen zu können.“

„Pablo, denk nach!“, rief Mao beschwörend. „Er hat recht. In der Zukunft haben nur Realisten eine Chance!“

„Unser Haus ist zwei Jahrhunderte lang von den Heiligen beschützt worden“, sagte Cicita. „Aber meine Vorfahren haben auch nie vergessen, der Heiligen Madonna Kerzen anzuzünden.“

Mao lachte wie irr und schlug sich mit dem zerfledderten Buch an den Kopf.

Lolita ging rückwärts. „Wir müssen weg, Archibald! Jetzt ist mit ihnen nicht mehr zu reden!“

Er ging ebenfalls weiter zurück, Schritt um Schritt, bis sie sich schon zwanzig Schritte von den anderen entfernt hatten.

Mao trat zwischen sie und die anderen und redete wieder beschwörend auf sie ein. „Ich bin doch nicht hierher gekommen, um gegen Geister zu kämpfen!“, schimpfte er schließlich.

„Ich wüsste nicht, dass wir auch nur einen verdammten Gringo gerufen hätten!“, knurrte Pablo.

„So ist es!“, stimmte Carmen gehässig zu. „Und außerdem ist er nur ein Träumer. Ein Büchernarr!“

„Ein Spinner!“, rief Cicita und lachte schrill.

„Mao, hierher!“, rief Archibald Duggan.

Mao hörte ihn gar nicht. „Wenn ihr das glaubt, was euch die anderen durch die Jahrhunderte eingeredet haben, wie wollt ihr sie dann besiegen können?“, rief er.

„Er stinkt mir!“, zischte der Schwarze.

Dann jagten Feuerstöße aus seiner Maschinenpistole, und Mao zuckte unter den Einschlägen der Geschosse zusammen.

„Weg!“, rief Lolita und rannte zurück.

Mao taumelte, Blut lief auf den Boden, er verlor sein zerfleddertes Buch und stürzte.

Archibald rannte zurück. Er hörte die anderen schießen und Geschosse die Bäume treffen und das Gestrüpp auseinanderreißen. Er blieb stehen, wandte sich um und schoss von der Hüfte aus auf den wüsten Haufen. Der Schwarze wurde getroffen, prallte gegen einen Baum und brach zusammen. Die anderen gingen in Deckung.

Archibald schoss das Magazin leer, dann rannte er hinter Lolita her.

Sie lehnte keuchend an einem Baum, stützte die Hand gegen die rissige Rinde und stampfte mit dem Fuß auf den Boden.

Archibald blieb stehen und blickte zurück. „Gib mir ein volles Magazin, Lolita!“

Sie gab es ihm. Er zog das leere aus der Maschinenpistole, stopfte es hinter den Hosenbund, steckte das volle in den Schlitz und schlug es mit dem Handballen in die Waffe. Dann zog er den Spannhebel nach hinten und ließ ihn zurückspringen.

Eine Gestalt tauchte auf und sprang hinter einen Baum, Archibald feuerte. Rinde wurde von dem Baum gefetzt und flog durch die Luft, als wollte sie tanzen.

Neben dem Baum tauchte eine Maschinenpistole auf und spie Tod und Verderben aus.

Archibald ging rückwärts und nahm Lolita mit, bis er nichts mehr vor sich sehen konnte. Sie verständigten sich durch Zurufe, aber er verstand sie nicht. Immerhin wusste er so, wo sie waren.

Er blickte suchend in das Dickicht und zog Lolita dann mit sich in den Farn, hinter dem Kokospalmen wucherten, umschlungen von Lianen und tropischen Büschen und umgeben von einem Kranz Orchideen, die in bunter Farbenpracht leuchteten.

Die Rufe waren nur noch entfernt zu hören.

Hinter den Palmen blieben sie stehen und gingen in die Hocke. Aber bald richtete Lolita sich auf und sagte: „Wir müssen weiter zurück, Archibald. Hier spüren sie uns auf.“

„Sie sind nur noch acht mit den Mädchen.“

„Viermal so viele wie wir. Und sie kennen sich hier besser aus als du oder ich!“

Der 12 Romane Krimi Koffer Juni 2021

Подняться наверх