Читать книгу SINFONIE DER SCHMERZEN - Eberhard Weidner - Страница 8

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Selbst jetzt, als er die Namen nur in seiner Erinnerung vor sich sieht, jagen sie ihm einen eisigen Schauer über den Rücken. Dabei weiß er noch nicht einmal, woher er die Namen kennt und welche Bedeutung sie für ihn haben. Sie klingen allerdings vertraut und erzeugen tief in ihm einen Widerhall, der ein angenehmes Gefühl in ihm hervorruft, so wie die verblasste Erinnerung an ein schönes Erlebnis.

Er versucht, diesem Widerspruch zwischen seiner Reaktion auf die Namen auf dem Papier und seinen innersten Empfindungen auf den Grund zu gehen, doch dazu reichen die Informationen, über die er momentan verfügt, nicht aus. Noch sind seine Erinnerungen zu spärlich, als dass er daraus Rückschlüsse ziehen könnte, die über die beiden Erinnerungsfetzen hinausgehen, die er bislang zurückerlangt hat.

Zumindest kennt er jetzt wieder seinen Namen und seinen Beruf und weiß, wo er arbeitet. Christian Heitzer. Der Name klingt vertraut, allerdings nicht in einer Weise, die er von seinem ureigenen Namen erwartet hat. Und irgendwie ist er wohl auch davon ausgegangen, dass die Erinnerung an seinen Namen ein Feuerwerk weiterer Reminiszenzen auslösen wird. Doch weit gefehlt. Neben der Vertrautheit, die zumindest auf einen ständigen Gebrauch schließen lässt, enthält der Name gleichzeitig auch eine vage Fremdheit, die vermutlich auch die Ursache dafür ist, dass ihm sein Name überhaupt entfallen konnte. Aber wieso? Handelt es sich etwa gar nicht um seinen Namen? Und ist dann etwa auch die Erinnerung fehlerhaft, in der er von der Empfangsmitarbeiterin und dem Arbeitskollegen angesprochen wurde? Aber wie ist es dann überhaupt möglich, dass er sich dennoch daran erinnert, als wäre es seine eigene Erinnerung?

Während der letzten Minuten war er so auf sich selbst und seine Erinnerung konzentriert, dass er gar nicht mehr bewusst auf seine Umgebung und die anderen Leute geachtet hat, die sich in seiner Nähe aufhalten. Das ändert sich jedoch, als er plötzlich Schritte hört, die von links kommen, wo sich die Tür befindet, und sich ihm nähern. Die Person, die die Geräusche verursacht, bemüht sich im Gegensatz zu den anderen Leuten auch nicht, sich möglichst leise und verstohlen zu bewegen.

Unmittelbar hinter ihm verstummen die Schritte. Wer auch immer sich ihm genähert hat, steht nun direkt hinter dem Stuhl. Ein Schauer läuft ihm über den Rücken. Das Gefühl, beobachtet und von mehreren Augenpaaren gemustert zu werden, wird überwältigend und macht ihm Angst.

»Mmmhhh! Mmh mmmhh mmh mh?«

Noch immer keine Reaktion. Stattdessen herrscht wieder Stille. Da ihm das eigene hektische Schnaufen durch die Nase und der Schlag seines Herzens unnatürlich laut vorkommen, kann er die leisen Geräusche, die die anderen Personen unter Umständen verursachen, nicht hören. Ihm kommt es vor, als würden die Leute auf etwas warten, so wie die Zuschauer einer Theateraufführung darauf warten, dass sich endlich der Vorhang hebt und das Schauspiel beginnt.

Aber worauf warten sie? Und – um zur entscheidenden Frage zurückzukehren, die er sich schon vorher gestellt hat – warum haben sie ihn überhaupt niedergeschlagen, hierher gebracht, gefesselt und geknebelt? Was wollen Sie von ihm? Lösegeld etwa? Da er nun wieder weiß – sofern er seinen Erinnerungen trauen kann –, dass er als Mathematiker bei einer Versicherung arbeitet, wird ihm klar, dass er vermutlich ganz gut verdient. Allerdings ist er deshalb noch lange nicht reich. Und wen wollen sie dazu erpressen, das Lösegeld für ihn zu bezahlen? Die Versicherung? Unwahrscheinlich, denn er ist nur ein kleines Rädchen im Getriebe, jederzeit ersetzbar und kennt keine wichtigen Firmengeheimnisse. Dann schon eher die Familie. Aber hat er überhaupt eine Familie?

Der Gedanke führt dazu, dass sein Verstand wie ein fingerfertiger Zauberkünstler die nächste Erinnerung aus dem bodenlosen Zylinder seines Bewusstseins holt.

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