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KAPITEL 7

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Jason war noch am Morgen des 24. Dezember nach Lenorenlund zurückgefahren. Der Onkel würde ihn wohl kaum für den Heiligen Abend in seine Familie einladen nach dem letzten Gespräch, und Jason hätte sich auch gescheut, das Haus seiner Kindheit zu betreten. Aber er scheute sich auch, den Vater noch einmal zu besuchen. Würde er wieder zurückgefallen sein in seine schweigsame Einsamkeit? Oder würde er nun für den Sohn gefährliche, weil unkontrollierte Pläne schmieden? Vor beidem fürchtete Jason sich gleichermaßen. Dann wollte er die Feiertage lieber im einsamen Internat verbringen. Dort traf er übrigens auf Dr. Scheer, der ebenso in der leeren Schule verblieben war und ihn spontan zu sich einlud.

Der Lehrer freute sich zu hören, dass die Idee, in der ehemals väterlichen Firma ein Praktikum zu absolvieren, von Erfolg gekrönt war, und diskutierte mit seinem Schüler ausführlich die Möglichkeiten, die sich für ihn daraus ergaben – für seine private Zukunft ebenso wie für eine Vorbereitung auf ein kommendes Studium. Und er suchte aus seiner umfangreichen Sammlung einige Fachbücher heraus, die Jason nun nützlich sein könnten. Jetzt also hatte auch der letzte Schüler dieses Jahrgangs – und der, der ihm seit langem von allen am nächsten stand – endlich eine Perspektive für die Zeit nach der Reifeprüfung, nach den langen Jahren in der Geborgenheit der Schulgemeinde. Für Dr. Scheer war das ein besonderes Weihnachtsgeschenk, obwohl er von diesem Brauchtum eigentlich wenig hielt.

Die beiden kommenden Monate waren erfüllt von der Spannung auf die bevorstehenden Prüfungen, die Klausuren waren geschrieben, und Dr. Scheer stellte erfreut fest, dass Jason Yolck in allen Fächern mit guten Leistungen aufwarten konnte. Für die naturwissenschaftliche mündliche Prüfung hatte er dem Schüler Themen aus dem medizinisch-pharmazeutischen Bereich vorgeschlagen, und alle in der Kommission waren begeistert darüber, wie der Abiturient sein Wissen zu klugen und oft weit ausgreifenden Antworten nutzte. Die Bestnote in diesem Fach war dann auch der Lohn. Und Dr. Scheer hoffte insgeheim, dass sie Jason einmal bei der Bewerbung um einen Studienplatz viele Türen öffnen könnte.

Die meisten Abiturienten waren nach den Tagen der Prüfung sofort abgereist, wollten die Zeit bis zur offiziellen Entlassungsfeier für Reisen oder auch schon für den anstehenden Wechsel an einen Studienort nutzen; Jason hatte keine Eile. Er hatte sich schon in den Wochen davor nach einer Unterkunft in der Nähe der Yolck Pharma KG umgesehen und ein möbliertes Zimmer gefunden, in einem Einfamilienhaus bei einer alleinstehenden älteren Dame, die ihn auf Anhieb sympathisch fand und auch bereit war, mit dem Bezug des Zimmers bis zum Beginn des Praktikums am 1. April 1995 zu warten. Der Onkel hatte ihm eröffnet, dass es zwar üblicherweise für Praktikanten keine Entlohnung gäbe, sondern nur eine Art Taschengeld, ihm aber die bisher ans Internat gezahlten Mittel weiterhin zur Verfügung stünden, und das war wesentlich mehr, als er für Miete und Verpflegung veranschlagt hatte. So war er zunächst einmal finanziell unabhängig.

Die verbleibende Zeit im Internat nutzte Jason, sich intensiv über die Produktion von Medikamenten und deren Grundstoffe zu informieren, um die Abläufe in der heimischen Fabrik möglichst rasch zu überschauen. In vielen Gesprächen mit seinem Tutor erweiterte er auch seine Kenntnisse in Chemie und Pharmazie. Die feierliche Entlassung der Abiturienten im März war da eher eine überflüssige Unterbrechung für ihn. Weder hatte er irgendjemand dazu eingeladen, noch war ihm nach einer fröhlichen Party zumute, die tanzenden Paare beim anschließenden Ball erinnerten ihn nur allzu sehr an die so bitter gescheiterte Beziehung zu Anita im vergangenen Sommer. Seitdem hatte er jeden Kontakt zu anderen Mädchen vermieden, und auch während des Festes ließ er sich nur ein einziges Mal zum Tanzen auffordern – es war die Gattin eines jüngeren Lehrers, die ihn schon länger mitleidig beobachtet hatte und der er den Tanz schlecht ausschlagen konnte.

Nur der Abschied von den Mitschülern in den beiden Gilden und in weiteren Arbeitsgemeinschaften, an denen er teilgenommen hatte und in denen er auch selbst als Ausbilder gewirkt hatte, fiel ihm schwer – waren dies doch die einzigen persönlichen Beziehungen gewesen, die er in all den Jahren seiner Schulzeit gehabt hatte. Und er spürte durchaus, dass die guten Wünsche vor allem der Jüngeren für ihr Vorbild von Herzen kamen.

Dann waren auch die Ostertage vorbei, zum letzten Mal steuerte er den vollgepackten Kleinwagen durch die Allee zur Straße und weiter zur Autobahn, um in jene Stadt zurückzukehren, in der er einmal fröhliche Kinderjahre verlebt hatte und die er danach meist gemieden hatte. Aber nun sollte sie ihm wieder ein Zuhause werden, für ein halbes Jahr zumindest. Und er nahm sich vor, diese Zeit zu nutzen – nicht nur mit Blick auf seine Ausbildung, sondern auch, um die alten Gassen zu durchstreifen, das Angebot der vielen kleinen Theater zu nutzen oder sich Vorträge anzuhören. Verglichen mit der Abgeschiedenheit von Lenorenlund tat sich ihm nun eine vielfältige und bunte Welt auf. Nein, er wollte kein Einsiedler sein in dieser lebhaften und zugleich traditionsverhafteten großen Stadt, auch wenn er all das allein erleben würde. Doch das schreckte ihn nicht, er brauchte keine Clique Gleichgesinnter, um Erfahrungen zu sammeln. Im Gegenteil, sie würde ihn eher hindern, seine eigenen Wege zu gehen.

Er hatte sich ein gebrauchtes Fahrrad gekauft, denn der Weg von seiner neuen Bleibe zum Werksgelände der Yolck Pharma war nur kurz, und auch die Medizinische Universität war so wesentlich besser zu erreichen als mit dem Wagen, denn er hat sich dort auch als Gasthörer eingeschrieben. Das Praktikum ließ sich gut an: Der Onkel hatte ihn nur kurz begrüßt und dann seinem Mentor überlassen, der mit ihm zunächst einen Rundgang durch das Werk machte, die Produktion erläuterte und auch die kleine Forschungsabteilung zeigte. „Eigentlich ist die Bezeichnung irreführend,“ sagte er mit einem Anflug von Bedauern, „was wir dort tun, ist ja nur eine gewisse Fortentwicklung unserer beiden Hauptprodukte und die ständige Qualitätskontrolle. Wirkliche Innovationen sind dabei nicht zu erwarten, dazu reicht weder die materielle noch die personelle Ausstattung.“ „Und eine Kooperation mit der Forschung in den Universitätsinstituten?“ fragte Jason zurück. „Wäre schon eine Möglichkeit, doch die Geschäftsführung ist da viel zu zögerlich. Entschuldigung, das geht jetzt nicht gegen Ihren Onkel,“ fügte er rasch hinzu. Jason lachte: „Keine Angst, ich petze nicht. Aber vielleicht kann ich es später einmal ansprechen, wenn sich eine Gelegenheit ergibt. Doch so eng sind unsere verwandtschaftlichen Beziehungen nicht.“

Damit hatte er sein Gegenüber gewonnen, und er merkte bald, dass mancher im Betrieb dessen Zukunft kritisch sah, zu rasch änderte sich die Lage auf dem Markt, und zu schmal war die Basis der Produktpalette. Nach einigen Wochen lernte er einen der beiden Laborleiter kennen, einen längst ergrauten Mann mit dicken Brillengläsern und in einem stets fleckigen weißen Kittel, der fast wie die Karikatur eines Forschers wirkte, aber hellwach war und gut informiert über die Produkte der Konkurrenz. Er hatte schon zu Zeiten des Großvaters im Labor angefangen und später einige wichtige Verbesserungen an den beiden Medikamenten erreicht. Für ihn war Jason so etwas wie die Rückkehr von Eike Yolck, und er machte keinen Hehl daraus, dass er Peer Yolck für inkompetent hielt, was die pharmazeutische Forschung anging.

Bei ihm erfuhr Jason auch, dass es so etwas wie zwei Parteien innerhalb der Belegschaft und vor allem der mittleren Führungsebene gab: Die einen ersehnten sich auch nach zehn Jahren noch die Rückkehr von Jasons Vater und erhofften sich davon nötige Innovationen, die anderen, meist jünger und erst nachträglich in die Firma eingetreten, schworen auf Peer Yolck als Chef und hielten alles andere für nostalgische Schwärmerei. Aber die Sorge um die Zukunft angesichts stagnierender Verkaufszahlen und stets weiterentwickelter und neuer Mittel auf dem Pharmamarkt war allen gemeinsam.

Eines Tages nahm Dr. Schmittbauer, so hieß der Laborleiter, Jason beiseite: „Ich hätte gerne einmal persönlich mit Ihnen gesprochen, nicht hier im Werk. Könnten wir uns irgendwo treffen? Es ist so wunderbares Sommerwetter. Wie wäre es mit einem Spaziergang durch die Wallanlagen?“ Jason, neugierig geworden, stimmte zu, und so verabredeten sie sich nach Feierabend am Mühlendamm.

Die Sonne bot noch all ihre wärmende Kraft auf, das Wasser des Mühlenteiches spiegelte die hochragenden Domtürme, als Jason zum verabredeten Treffpunkt radelte. Er schloss das Rad an den Pfahl eines Verkehrsschildes und ging zum Wehr, wo Dr. Schmittbauer bereits auf ihn wartete. „Lassen Sie uns zum Kanal hinübergehen,“ sagte er, da gibt es am ehesten einen kühlenden Lufthauch.“ Schweigend überquerten sie die Wallstraße, passierten den großen Spielplatz mit seinem Wasserbecken und wanderten dann auf die Mühlenbrücke zu. „Wie geht es eigentlich Ihrem Vater,“ begann der Ältere das Gespräch. Jason berichtete, was er von seinen meist kurzen Besuchen zu erzählen wusste, und der andere hörte zu, ohne ihn zu unterbrechen. „Er fehlt uns,“ sagte er unvermittelt. „Ihr Onkel mag ein guter Kaufmann sein, aber von den Produkten, die er absetzen soll, hat er nur wenig Ahnung. Es gibt seit langem keine Innovationen mehr im Werk. Das letzte Ausbaupatent der Yolck Pharma stammt noch von Ihrem Vater, und auch das wird bald ausgelaufen sein. Dann sind wir nicht mehr allein auf dem Markt.“

Jason hatte aufmerksam zugehört. „Davon verstehe ich leider nur wenig,“ sagte er, „außerdem lagert es in irgendeinem Tresor.“ „Wenn wir nicht rasch mit einem neuen Produkt kommen, wird es nichts mehr wert sein,“ antwortete Dr. Schmittbauer. „Und uns im Labor fehlen die Zeit, die Mittel – und auch die Ideen,“ ergänzte er. „Sie wollen doch Pharmazie studieren?“ fragte er dann ganz ohne Überleitung. Jason musste lachen. „Ehrlich gesagt, weiß ich es noch nicht. Aber die Richtung stimmt schon. Nur – ich habe keinerlei Einfluss auf die Firma, die einmal meinem Vater gehörte. Jetzt nicht, und wohl auch in Zukunft nicht.“

„Dabei ist sie sein Werk, und sie ist Ihr legitimes Erbe,“ sagte der alte Mann bitter. „Ohne Eike Yolck wäre unser Unternehmen nicht das, was es heute ist – immer noch ist. Wir haben es alle sehr bedauert damals, als er so plötzlich wegging.“ „Ich weiß immer noch nicht, was genau damals geschehen ist.“ Jason suchte nach den richtigen Worten. „Der Vater spricht nicht darüber, und – im Vertrauen gesagt – der Version meines Onkels misstraue ich. Hatte mein Vater wirklich eines Schlaganfall?“ „So wurde es uns mitgeteilt, und wir mussten es glauben. Doch wenn Sie mich fragen – es war einzig seine Trauer über den plötzlichen Tod Ihrer Mutter, die ihn zeitweise behinderte. Und erst jener... Staatsstreich Ihres Onkels stürzte ihn in diese Depression, aus der er nicht mehr herausfand. Aber wenn er wieder an seinen Platz zurückkehren könnte...“ Dr. Schmittbauer vollendete den Satz nicht, er wusste, dass dieser Wunsch Illusion bleiben würde.

Für eine Weile gingen die beiden stumm nebeneinander den Uferweg entlang. Dann sprach der Laborleiter endlich aus, was ihm auf der Seele lag: „Eike Yolck hat einen Sohn, der die nötigen Fähigkeiten besitzt, wenn er sich das fehlende Wissen aneignet. Und dieser Sohn hat ein Recht darauf, die Yolck Pharma KG zu übernehmen. Kämpfen Sie um Ihr Erbe, Herr Yolck, um Ihres Vaters Willen, und um des Werks und seiner Mitarbeiter Willen!“ Er blieb stehen und legte dem jungen Mann neben sich die Hand auf die Schulter: „Sie sind unsere letzte Hoffnung, Jason. Enttäuschen Sie uns nicht!“

Jason spürte den Druck auf seiner Schulter, und er spürte mit ihm die Last, die der andere ihm mit diesen Worten auflud. Würde er sie tragen können? Aber er fühlte auch die Verantwortung, die ihm niemand abnehmen konnte. Er blickte dem Alten in die Augen: „Ich weiß nicht, ob ich das schaffen werde. Aber ich werde es versuchen!“ Es war dieser Augenblick, an dem er sich endgültig entschloss, um sein Erbe zu kämpfen.

Wie in einem Spiegel

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