Читать книгу Wie in einem Spiegel - Eckhard Lange - Страница 9
KAPITEL 6
ОглавлениеIch habe ihn immer gehasst, meinen Onkel, aber ich habe mir das lange nicht eingestanden. Gut, er hat für meine Ausbildung gesorgt, als Vater dazu nicht mehr fähig war. Aber er hat uns alle nur benutzt für seine Ziele. Seinen Bruder hat er aus der Firma gedrängt, statt ihm zu helfen; seinen Neffen hat er mit kriminellen Aufträgen geködert, um ihm dann doch den Lohn vorzuenthalten. Es ist wahr: Ich war sein Werkzeug, als er um seinen Reichtum fürchten musste. Aber den Reichtum wollte er nur für sich, und ich bin leer ausgegangen. –
Schon wieder dieses Selbstmitleid, Jason Yolck? Du hast dich doch auf jenes Spiel eingelassen, du hast kriminell gehandelt und Unschuldige mit hineingezogen. Denke an Madeleine. Sie ist das Opfer, nicht du! Du bist ausgenutzt worden, klagst du? Hast du nicht ebenso gehandelt, hast du nicht diese Frau benutzt für deine Ziele und sie dann ebenso fallen lassen? -
Nein, nein und nochmals nein! Ich habe sie geliebt, obwohl ich nicht mehr lieben konnte. Ich habe ihr Erfüllung geschenkt und auch ein Kind – mein Kind, das sie so grauenvoll sterben ließ. –
Das wird noch zu klären sein, Jason. Schon wieder verdrängst du deine eigene Schuld. Aber es geht nicht um deine Rechtfertigung, es geht um die Wahrheit, an die du dich erinnern sollst. Ohne diese Wahrheit wirst du deinem Leben niemals einen Sinn geben können. -
Warum willst du mich immer nur beschuldigen, warum willst du mir meine Sicht der Dinge nehmen? Warum willst du mich vernichten? Ich bin doch du, es ist auch dein Leben, um das wir hier rechten. –
Ja, es ist mein Leben, und eben deshalb muss ich auf der Wahrheit bestehen. Denn ich bin dein gespiegeltes Antlitz, du schaust doch in deine eigenen Augen, wenn du mich anblickst. Ich bin dein Gewissen, das du nicht hören willst. Aber ich bin da, Jason Yolck, mich wirst du nicht verjagen, auch wenn du den Spiegel verhängst, auch wenn du die Augen schließt. Dann werde ich in deinen Träumen zu dir kommen, und die musst du ertragen. Vielleicht kannst du sie vergessen im hellen Tageslicht, aber danach kommt die Nacht, kommt dein Schlaf, danach kommen deine Träume – komme ich, dein Gewissen. Du sagst, du hasst deinen Onkel? Mit welchem Recht? Niemand hat ein Recht zu hassen, weil niemand in die Seele eines anderen schauen kann. Was weißt du von seinen Gedanken, seinen Hoffnungen, ja auch seinen Ängsten? Nichts! Oder doch viel zu wenig, um darin deinen Hass zu verwurzeln. -
Kann ich etwas für meine Gefühle? Sind sie nicht angelegt im Nervensystem, Produkte chemischer Prozesse in den Synapsen, unbeeinflusst vom Willen? Ich kann den Hass nicht zur Seite schieben, nicht ablegen wie meinen Mantel. –
Du hasst, weil du nicht weißt. Versuche zu wissen, dann wirst du auch verstehen. Hass aber ist immer blind. Versuche zu sehen, dann wirst du erkennen. Nur die Wahrheit befreit uns, und die Wahrheit beginnt stets in uns, am Anfang steht immer die Wahrheit über uns selbst. Und genau davor fürchten wir uns, Jason Yolck! -
Es ist gut. Ich will versuchen, uns die Wahrheit zu berichten, soweit mich die Erinnerung nicht in die Irre führt. Aber es ist meine Wahrheit, denn eine andere gibt es nicht für mich. Wahr ist, dass der Onkel am Montag nach jenem Treffen in seinem Büro mir ein Telegramm nach Lenorenlund schickte: „Halbjähriges Praktikum ab März 1996 möglich. Rufe bitte zurück.“ Und wahr ist auch, dass ich in den Weihnachtsferien noch einmal hinüber fuhr, um Einzelheiten zu erfahren und die Herren kennenzulernen, die für mich zuständig sein würden. Ich besuchte dann auch Vater, und nach einigem Zögern erzählte ich ihm von meinem Vorhaben. Erstaunlicherweise zeigte er plötzlich lebhaftes Interesse an diesem Plan, nannte mir einige Namen von Menschen, denen ich dort vertrauen könnte, wie er sagte, und zählte auf, welche Abteilungen und welche Produktionsabschnitte ich unbedingt näher kennenlernen sollte. Ja, er lebte richtig auf bei den Plänen, die er da für mich schmieden konnte, und plötzlich wurde mir klar, dass dieser Mann schließlich erst sechzig Jahre alt war und kein Greis, wie er mir sonst immer erschienen war. Und dann sagte er: „Vergiss nicht – diese Fabrik wird einmal dir gehören, sie ist dein Erbe.“ Es klang wie ein Befehl, es war wie ein Vermächtnis, zu dem er sich aufgerafft hatte, ehe er wieder in seine Depression verfiel. Und es fiel auf fruchtbaren Boden.
Ich war verwirrt und aufgewühlt, als ich ihn endlich verließ. Solange hatte noch keiner meiner Besuche gedauert. Es war kalt draußen, die Wärme des überhitzten Zimmers in dem Stift wich mit einem Schlag, als ich zum Wagen ging. Und ich beschloss, noch einmal Onkel Peer aufzusuchen. Es war der Tag vor Heiligabend, ich umfuhr das Stadtzentrum, in dem sich die Menschen drängten, um die letzten Einkäufe zu erledigen. Es war schon dämmerig, als ich die Fabrik erreichte. Der Pförtner meldete mich an, während ich bereits die Treppe in den ersten Stock hinaufstieg. „Du hast noch Fragen?“ Peer Yolck schien etwas erstaunt über diesen spontanen Besuch, aber er bat mich in die Sitzecke. Ich schaute ihm geradewegs in die Augen und sagte dann: „Nur diese eine: Was ist damals passiert, als du die Geschäftsführung übernommen hast?“
Er schwieg eine Weile, die Frage hatte ihn sichtlich überrascht, und sie war ihm unangenehm, obwohl er doch eigentlich damit hätte rechnen können. „Du warst damals noch klein, Jason, und ich denke, du hast vieles nicht so wahrgenommen,“ begann er dann zögernd. „Dein Vater war nach dem Tod deiner Mutter ziemlich... nun, sagen wir: mitgenommen, und es fiel ihm sichtlich schwer, die Geschäfte der Firma wie gewohnt zu führen. Aber das war nicht entscheidend für Großvater und mich. Doch etwa drei Monate nach dem Todesfall erlitt er einen Schlaganfall. Wir haben dir das nie gesagt, wie hätten wir das einem Kind erklären sollen, was das bedeutete. Aber der Arzt bestätigte uns, bei ihm seien einige wichtige Hirnfunktionen beschädigt worden. Eine Behandlung oder eine Rehabilitation jedoch lehnte Eicke rundheraus ab. Da mussten wir handeln, dein Großvater und ich. Schließlich ging es um das Werk, um seine vielen Mitarbeiter und ihre Arbeitsplätze, um langfristige Lieferverträge und Schadenersatzklauseln.“ „Und um viel Geld,“ ergänzte ich.
Er sah mich missbilligend an. „Natürlich auch darum, um das Vermögen der Familie. So habe ich die Geschäftsführung übernommen, der Großvater war einverstanden, nur dein Vater nicht. Er war nicht in der Lage, seine eigene Situation realistisch einzuschätzen. Da mussten wir ihn ausschließen und seinen Anteil am Betriebsvermögen treuhänderisch übernehmen.“ Wieder machte er eine Pause, dann sagte er: „Ich hoffe, du verstehst, was wir tun mussten. Ist deine Frage damit beantwortet?“
Ich weiß nicht mehr, ob ich darauf geantwortet habe, von diesem Augenblick an verlässt mich die Erinnerung. Ich hatte endlich die Wahrheit erfahren – nein, nicht DIE Wahrheit, sondern seine. Aber was war dabei meine Wahrheit? Dass mein Vater betrogen worden ist, dass ich betrogen wurde? Hat es diesen Schlaganfall tatsächlich gegeben, hat es solche Ausfälle gegeben, oder hat mein Onkel nur diese Phase der Depression missbraucht, seine unverarbeitete Trauer ausgenutzt, und der Großvater war nicht fähig, dieses Manöver zu durchschauen? Es gibt so viele Wahrheiten. –
Du hättest sie hinterfragen können. Aber du hast gezögert, du hast nicht den nötigen Mut aufgebracht. Lässt dich deine Erinnerung deshalb im Stich? Oder hattest du Angst, dass auch deine Wahrheit nicht die einzig richtige war? Versteckst du dich hinter dem Vergessen, weil du die Antwort fürchtest? Am Schluss wird es nur noch die eine Wahrheit geben, dann ist dein Leben abgelaufen. Willst du solange warten?