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KAPITEL 9

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Jason Yolck hatte Namen und Anschrift des Notars herausgesucht, der seinen Vater in früheren Jahren oft beraten hatte. Allein dieser Mann schien ihm vertrauenswürdig genug für einen ehrlichen Rat. Er bat um einen Termin, und obwohl der Anwalt seine Kanzlei seit kurzem einem jüngeren Kollegen übergeben hatte und nur noch einige langjährige Klienten betreute, empfing er ihn. Jason bat ihn, die näheren Umstände des Führungswechsels in der väterlichen Firma zu überprüfen, ohne dass etwas davon seinem Onkel zur Kenntnis gelangen könnte. Der Notar zögerte einen Augenblick, doch dann sagte er zu, schränkte jedoch ein: „Ich weiß nicht, ob ich unter diesen Bedingungen an alle nötigen Unterlagen kommen kann. Und – es wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Da muss ich Sie schon um Geduld bitten.“

Jason nickte. „Es geht mir nicht um eine rasche Auskunft. Aber ich möchte gern Klarheit haben. Wenn Sie mir dabei helfen könnten...“ Sein Gegenüber lächelte ihm zu: „Wir wollen es versuchen. Ich denke, das bin ich auch Ihrem Vater schuldig.“

Ein guter Monat verging, ehe der Notar sich bei Jason meldete und zu einem Gespräch einlud. Statt des üblichen Platzes vor seinem Schreibtisch bot er dem jungen Mann einen Sessel in der kleinen Sitzecke seines Büros an und setzte sich ihm gegenüber. Dann fasste er seine Recherchen zusammen:

„Zunächst Ihr Elternhaus: Es war rechtlich gesehen Eigentum der KG und nur dem jeweiligen Geschäftsführer gegen einen Mietzins als Dienstwohnung zur Verfügung gestellt. Mit dessen Ausscheiden aus der Firma, übrigens völlig legal auf Grund eines Mehrheitsbeschlusses der Gesellschafterversammlung, verlor er auch alle künftigen Gewinne aus der Yolck Pharma KG. Und sein Privatvermögen ging, soweit ich das feststellen konnte, zu diesem Zeitpunkt gegen Null. Er hatte fast alle bisherigen Einkünfte laufend als Zustiftungen oder Schenkungen verwendet – er hat sich wohl stets darauf verlassen, dass er und seine Familie aus seinem laufenden Gewinnanteil jederzeit ausreichend versorgt sein würden. Daneben hat er auch eine firmeneigene Stiftung geschaffen, doch deren Vermögen war noch zu gering, um größere Ausschüttungen vorzunehmen. Aus diesem Stiftungsgewinn hat übrigens Ihr Onkel den Heimaufenthalt Ihres Vaters und die Kosten für Ihr Internat beglichen. Eine raffinierte Idee, denn das war zwar niemals der Sinn dieser Stiftung, aber man konnte es mit dem satzungsgemäßen Stiftungszweck formal durchaus begründen. So hatte er Ihre Familie versorgt, ohne eigenes oder Firmenkapital dafür verwenden zu müssen – und ohne sich nachsagen zu lassen, er hätte Sie oder Ihren Vater in die Armut geschickt.“

Der Notar machte eine Pause, ließ Jason Zeit, das Gehörte auch innerlich aufzunehmen. Dann schloss er seinen Bericht ab: „Ich konnte zwar nicht alle Unterlagen einsehen – Sie wollten ja, dass diese Nachforschungen Ihrem Onkel nicht bekannt werden sollten – aber es wird wohl schwierig sein, unter diesen Voraussetzungen ein Erbteil aus Betriebsvermögen einzuklagen, falls Sie das mit Ihrer Anfrage beabsichtigt haben sollten. Außerdem lebt ja Ihr Vater noch. Wenn ich Ihnen also einen Rat geben soll, juristisch und auch persönlich: Versuchen Sie, sich mit Ihrem Onkel gütlich zu verständigen. Übrigens: Über eine Erkrankung Ihres Vaters konnte ich nichts in Erfahrung bringen, aber sie ist auch für den Gesellschafterbeschluss nicht relevant. Er muss nur formal in Ordnung sein, und das ist er durch Eintrag im Handelsregister.“

Der Anwalt blickte den jungen Mann nachdenklich an: „Ich habe Ihren Vater gut gekannt, und sein Schicksal tut mir aufrichtig leid. Ich weiß, wie viel ihm viele Menschen in dieser Stadt verdanken, oft ohne es zu wissen. Und ich würde Ihnen gerne helfen, wenn Sie einen Rat brauchen, das bin ich schon Ihrem Vater schuldig. Scheuen Sie sich also nicht, mich danach zu fragen – oder auch meinen Partner. Er weiß Bescheid. Doch einen Rechtsstreit mit der Yolck Pharma KG oder mit ihrem jetzigen Geschäftsführer würden wir nur sehr ungern führen, weil er kaum Aussicht auf Erfolg haben würde. Und weil er Ihnen nur alle Brücken dorthin zerstören könnte.“

Als Jason die Kanzlei verließ, war er innerlich zerrissen. Eigentlich hatte er nichts anderes erwarten können, und doch hatte er heimlich gehofft, etwas gegen den Onkel in die Hand zu bekommen. Er ging die mit alten Bäumen gesäumte Straße hinauf, an deren Anfang die Kanzlei des Anwalts lag, und an der auch die Yolcksche Villa stand, gegenüber dem sich in weitem Rund bis dicht an den Friedhof erstreckenden Stadtpark. Dort setzte er sich auf eine Bank, die den Blick auf das Haus freigab, in dem er die Jahre seiner Kindheit verbracht hatte. Obwohl er nun bereits fünf Monate in der Stadt war, hatte er diesen Teil stets gemieden. Zu viele Erinnerungen hingen daran – die kindlichen Spiele im weitläufigen Garten des Elternhauses, der Park mit seinen Teichen, in dem seine Mutter oft mit ihm unterwegs gewesen war, und die Schule an seinem Rand, die ihm erstes Wissen vermittelt hatte. All das schien ihm wie eine Ewigkeit entfernt zu sein und wurde doch in diesen Minuten wieder ganz nahe, ganz lebendig.

Lange schaute Jason auf die Fenster dort drüben, suchte jene, die einmal zu seinem Kinderzimmer gehört hatten. Er war sich nicht sicher. Plötzlich sah er, wie ein Fensterflügel geöffnet wurde, eine junge Frau – oder war es noch eher ein Mädchen? – beugte sich heraus, man sah, wie sie über die Schulter hinweg mit jemand redete und lachte. War es ein Hausmädchen, oder war es eine Tochter des Onkels? Plötzlich fiel ihm auf, dass er nie etwas davon erfahren hatte, ob Peer Yolck Kinder besaß. Wie viele mochten es sein? Und wie alt konnten sie sein – der Onkel war ja drei Jahre älter als Eike Yolck, hatte früh geheiratet, und der Vater war schon vierzig, als der einzige Sohn geboren wurde. Vielleicht war das Mädchen dort drüben gar Peers Enkeltochter? Auf einmal schoss es ihm durch den Kopf: Alle diese Verwandten stehen ja zwischen mir und meinem Erbe, haben ihre Rechte, und sie sind nicht schuld daran, dass der eine Bruder den anderen betrogen hat.

Waren diese Kinder der Grund, warum ihn der Onkel nie zu sich nach Hause eingeladen hatte? Wollte er sie schützen vor einer Bedrohung durch ihn – Jason, den Neffen? Der junge Mann wandte den Blick ab, verfolgte zwei Enten, die über den Rasen dem Teich zustrebten und sich klatschend ins Wasser fallen ließen. Ein Kind lief hinter ihnen her und bremste nur knapp vor dem Ufer, vom Zuruf der Mutter zurückgehalten. Eine Frau schob ihren Kinderwagen vorüber, zwei Jungen jagten sich gegenseitig mit ihren Fahrrädern, umfuhren gekonnt einige ältere Spaziergänger. Sie schienen alle so sorgenfrei zu sein, so ohne Probleme, die sie umtreiben konnten. Jason erhob sich, um den Park zu durchwandern, überquerte die breite Ausfallstraße am Ende und ging auf den Friedhof zu, um dann lange vor dem Grab der Mutter zu stehen. Wie lange war sie nun schon tot, und hätte doch immer noch leben können! „Du hättest uns nicht verlassen dürfen,“ dachte er, „dann wäre mein Lebensweg klar und deutlich gewesen.“ Aber dann wäre er wohl auch nie nach Lenorenlund gekommen, hätte nie den Dr. Scheer kennengelernt.

„Ich sollte ihn einmal anrufen,“ dachte er. Es waren doch gute Jahre dort gewesen! Trotz Anita. Ach, ja, Anita. Warum kann ich sie nicht einfach vergessen? Doch die Erinnerung machte ihn traurig, machte ihn wütend über diese Frau und über sich selbst. „Du hättest mich beschützen können, Mama!“ Er erschrak, dass er es laut ausgesprochen hatte, aber es war niemand in der Nähe, der es hätte hören können, nur ein Eichhörnchen sprang aufgeschreckt den rissigen Baumstamm hinauf, der neben dem Familiengrab aufragte. Da drehte Jason sich um, strebte dem Ausgang zu und suchte nach einer Haltestelle, um mit dem Bus in sein Zimmer zurückzukehren. Zum ersten Mal erschien es ihm klein und ungemütlich, fühlte er sich dort sehr allein.

Wie in einem Spiegel

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