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KAPITEL 5

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Es blieb ihm noch eine zweite Ferienwoche, und Jason beschloss, seinen Onkel aufzusuchen. Er hatte sich genug zusammengespart aus seinem Taschengeld und nach seinem achtzehnten Geburtstag einen gebrauchten Mini billig erworben. Für die wenigen Ausflüge reichte ihm das Fahrzeug allemal. Diesmal musste es eine längere Reise werden, und so brach er schon früh auf, um möglichst rechtzeitig anzukommen. Man hatte ihm ein kleines Hotel am Stadtrand empfohlen, wo er preiswert übernachten konnte, denn auf keinen Fall wollte er in jene Villa eingeladen werden, die vor langen Jahren einmal sein Zuhause war.

Es war früher Nachmittag, ein regnerischer, trüber Tag, als er an jenem Tor mit den zwei schon leicht geneigten Rundtürmen vorbei fuhr, das zum Wahrzeichen seiner Heimatstadt geworden war. Sein Ziel war der Friedhof draußen vor dem anderen Stadttor, war das Grab der Mutter irgendwo dort unter den altgewordenen Bäumen. Er hatte nur sehr unklare Vorstellungen von dem Weg, den er dort nehmen musste, hatte er doch seit längerem nicht mehr die Grabstätte aufgesucht, und dann war es Winter gewesen, bei einem seiner weihnachtlichen Besuche beim Vater. Jason parkte den Wagen in einer Seitenstraße, ließ sich in einem Blumengeschäft einen Strauß gelbbrauner Herbstastern binden und trat durch das Tor des Gottesackers. Mehrfach ging er in die Irre, kehrte immer wieder zum Eingang zurück, um einen neuen Versuch zu starten, und endlich stand er vor dem großen Stein und einem reichlich ungepflegten Grabhügel. Der Vater schien sich nicht mehr um die Grabstätte zu kümmern, der Onkel offensichtlich auch nicht.

Der Regen hatte zugenommen, Jason zog die Kapuze seines Anoraks über den Kopf und stand lange bewegungslos da. Da er keine Vase fand, hatte er den Strauß vor den Stein gelegt. Ob er nun rascher vertrocknen würde, das blieb letztlich gleich, niemand würde es bemerken, und niemand den Strauß wieder entfernen. Als es dämmerte, fuhr er an den Rand der Altstadt und wanderte ziellos durch die Straßen. Vor dem Schaufenster jener Apotheke, die der Großvater einst betrieben hatte und die noch immer den alten Namen trug, blieb er stehen und betrachtete die Auslagen. Und dann sah er sie, die bekannten Packungen jener beiden Arzneien, die einmal zum Aufstieg der Yolck Pharma geführt hatten und noch immer ihren Reichtum ausmachten. Morgen also würde er dorthin fahren. Er hatte sich nicht angemeldet, und ihm kamen plötzlich Bedenken, einfach dort vorzusprechen. Der Onkel könnte ja auf Reisen sein, oder durch Termine gebunden und in Eile. Jedenfalls sollte er vorher anrufen und sich anmelden. Gleich am Morgen würde er vom Hotel aus versuchen, einen Zeitpunkt für seinen Besuch auszumachen.

Er schlief unruhig diese Nacht, mag nun das ungewohnt harte Bett oder die innere Anspannung daran Schuld gewesen sein. Beim Frühstück bat er um das örtliche Fernsprechbuch und notierte die Nummer, um gleich danach im Werk anzurufen. Er konnte förmlich spüren, wie die Sekretärin von Peer Yolck erstaunt oder gar erschrocken war, als er seinen Namen nannte und hinzufügte, er sei in der Stadt. Um einen kurzfristigen Termin zu nennen, gab sie das Gespräch in die Warteschleife zurück, und Jason wusste, dass sie zunächst den Onkel informierte. Dann meldete sie sich zurück, bat um Entschuldigung und lud ihn für den frühen Nachmittag ins Werk.

Es galt also, noch einmal einige Stunden zu überbrücken, und weil ihm nichts anderes einfiel und auch der Regen längere Spaziergänge unmöglich machte, beschloss Jason, jene großen Kirchen zu besuchen, die er als Kind an der Hand der Mutter einmal bestaunt hatte. Und so betrachtete er zunächst im altehrwürdigen Dom die vielen gotischen Schnitzaltäre, bis ihn eine weibliche Heiligenfigur plötzlich an Anita erinnerte, seine erste und so kläglich gescheiterte Beziehung im vergangenen Jahr. Da verließ er verstört das Gotteshaus, und auch die hohe Halle der Ratskirche nahe dem Markt konnte ihm die innere Ruhe nicht wieder zurückbringen. Doch dann erklang das Glockenspiel der astronomischen Uhr, und danach lud eine Stimme zu einer kurzen Andacht ein.

Jason setzte sich ins Mittelschiff, lauschte auf das Vorspiel der Orgel und hörte unkonzentriert auf eine Frau, die dort vorne ihre Gedanken ausbreitete. Doch er fand nichts, was ihn innerlich bewegen konnte. So ging er, immer noch voller Unruhe und Selbstzweifel, zum Wagen zurück. Immerhin hatte der Regen aufgehört, und hin und wieder brach sogar ein wenig Sonnenschein durch die dichte Wolkendecke. Unterwegs kaufte er sich einen Snack in einer Bäckerei, damit er nicht mit leerem Magen in das Gespräch gehen musste. Endlich zeigte die Uhr, dass es Zeit war, den Wagen die Ausfallstraße hinaus zum Werksgelände der Yolck Pharma KG zu lenken. Er fand einen Besucherparkplatz nahe dem Verwaltungsgebäude und betrat die Eingangshalle. Der Pförtner meldete seine Ankunft und beschrieb den Weg zum Vorzimmer, wo ihn die Sekretärin mit großer Höflichkeit empfing. Sie bat ihn, einen Augenblick zu warten, bis der Chef sein Telefongespräch beendet habe, und gab ihm dann die Tür frei.

Es war immer noch jener Raum, in den er einst von seinem Vater geführt worden war, nur an die Möblierung konnte Jason sich nicht mehr erinnern, wohl aber an die dunkle Eichenholztäfelung, die der Großvater hatte anbringen lassen und die noch immer den Wänden ein gediegenes und auch ehrfurchtgebietendes Aussehen gab. Peer Yolck hatte sich erhoben und ging auf den Neffen zu. Er war älter geworden, der Haarkranz noch spärlicher, aber er blickte energisch über seine Lesebrille hinweg auf den Jungen, dann zeigte sein Gesicht ein Lächeln, er streckte die Hand aus und sagte: „Schön, dich einmal wiederzusehen, Jason. Ich hoffe, du hast keine schlechte Nachricht für mich. Es ist doch alles in Ordnung dort in deiner Schule?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, wies er auf die Sitzecke neben dem Schreibtisch, und beide setzten sich. Auf einem Tischchen standen Flaschen mit Wasser und verschiedenen Säften, daneben eine Schale mit Gebäck. „Bitte, bedien dich, mein Junge!“

Eine Weile verlief das Gespräch in unverbindlicher Plauderei, der Gastgeber erkundigte sich nach dem Schulbetrieb in Lenorenlund, sie sprachen über die schöne Lage an der Förde, über Jasons Segeltörns und seine Mitarbeit in den Gilden, die zum Konzept des Internats gehörten, und Jason war froh, nicht sofort mit seinem Anliegen herausrücken zu müssen. Doch dann entstand eine Pause, der Onkel griff zu seinem Glas und fixierte den Neffen mit einer sichtbaren Spannung: „Du bist sicher nicht hergekommen, um mit mir über deine Jugendstreiche zu plaudern,“ sagte er. „Willst du mir den eigentlichen Grund verraten?“

Jason nickte: „Du hast recht, Onkel Peer. Ich habe einen Grund. Oder nenne es eine Bitte. Du weißt, im Frühjahr werde ich das Abi machen, dann ist die Zeit im Internat vorbei. Ich muss mich entscheiden, wie es weitergehen soll.“ Und dann erläuterte Jason seinen Wunsch, zunächst ein mehrmonatiges Praktikum zu machen – und zwar hier, bei der Yolck Pharma. Und er schloss: „Ich möchte die Firma gerne näher kennenlernen. Schließlich ist es das Werk meines Vaters.“

Peer Yolck hob erstaunt die Brauen und blickte den Neffen aufmerksam an. Wie sollte er diese Bemerkung verstehen? Und was hatte er mit diesem Wort „Werk“ gemeint? Nur schlicht das Lebenswerk seines Bruders Eicke, oder diesen Betrieb, der schließlich ihm, Peer Yolck, gehörte? Der Onkel hatte allen Grund, misstrauisch zu sein, aber er ließ sich nichts davon anmerken, sondern sagte nach einem Moment des Schweigens ruhig und freundlich: „Ich freue mich, dass du für die Yolck Pharma Interesse zeigst, das ist schließlich unser aller Lebensinhalt. Aber wie ein solches Praktikum aussehen könnte, das muss ich erst mit meinen Herren besprechen. Wir haben zwar gelegentlich Schüler als Praktikanten im Haus, aber doch höchstens für eine Woche. Die laufen dann einfach so mit und schauen zu, und in die Produktion dürfen sie sowieso nicht, das wäre zu gefährlich. Und an eine normale Lehre, mit welchem Berufsziel auch immer, hast du sicher auch nicht gedacht. Also hab bitte Verständnis, wenn ich nicht einfach zusagen kann. Ich muss das erst einmal abklären.“

„Und wie lange wird das dauern? Ich müsste mich sonst möglichst rasch bewerben, Onkel Peer, ob nun Ausbildung oder Studienplatz.“ „Bleibst du noch länger in der Stadt? In ein paar Tagen könnte ich dir Näheres sagen.“ Aber Jason wollte möglichst schnell wieder abreisen, außerdem waren die Herbstferien mit dem anstehenden Wochenende beendet. Der Onkel nickte: „In Ordnung, mein Junge, ich werde sehen, dass wir rasch zu einer Entscheidung kommen. Spätestens Montag Nachmittag werde ich dich informieren. Über alles Nähere können wir dann immer noch sprechen. Einverstanden?“ Jason nickte.

Peer Yolck erhob sich und reichte dem Neffen die Hand: „Wir werden schon einen Weg finden. Und – es war schön, dich nach so langer Zeit einmal wiederzusehen. Aber das wird sich ja hoffentlich bald ändern.“ Jason nahm das als eine vorweggenommene Zusage. Womit hätte der Onkel ihm auch seinen Wunsch verwehren können? Der erste Schritt in eine neue Zukunft war also getan.

Wie in einem Spiegel

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