Читать книгу Wie in einem Spiegel - Eckhard Lange - Страница 7
KAPITEL 4
ОглавлениеDu lebst ja immer noch, Jason Yolck! Ich sehe dich doch im Spiegel, deutlich sehe ich dich! Oder lebst du nur noch, weil deine Antwort noch immer aussteht, weil du immer noch nicht weißt, wofür dein Leben gut war?
Ja, es ist wahr, ich lebe noch; und manchmal ist es schlimmer zu leben als tot zu sein. Denn ich muss meine Erinnerungen ertragen, ich muss das alles noch einmal leben, ohne es doch ändern zu können. Und ich muss ehrlich sein dabei. Da gilt keine Ausrede mehr – nichts lässt sich beschönigen, nichts lässt sich übermalen. Was grau ist, das bleibt auch grau, und wenn du einen ganzen Regenbogen darüber legst. Wo das rote Blut geflossen ist, da bleibt das Rot, unauslöschbar, da schreit es Tag für Tag, wie einst Abels Blut zum Himmel schrie. Ich lebe noch, sagst du? Oder ist das schon die Hölle – das ewige Erinnern, wo doch der Tod Vergessen bringen soll?
Lass dieses Klagen! Du weißt, dass du dich erinnern musst. Schau mich – schau dich an, genau, noch genauer! Ich bin deine Erinnerung, deine Vergangenheit. Was hast du zu sagen? –
Ist dir bewusst, Jason, Spiegelbild, dass sie dich alle immer nur ausgenutzt haben? -
Du willst deine Schuld auf andere abwälzen! Nimm endlich die Verantwortung auf dich und trage sie, denn du trägst sie für dein Leben. Ganz allein du!
Sie haben mich alle immer nur ausgenutzt, das ist und bleibt die Wahrheit. Onkel Peer, dieser schleimige Coldenius, Kristian Ohnne, alle. Und die Frauen. Ja, die besonders. –
Du stilisierst dich zum Opfer, Jason Yolck, zum unschuldigen Opfer. –
Nein, nicht unschuldig. Ich habe es ja zugelassen. Ich habe stets gedacht, ich sei ihnen überlegen, kenne ihre Tricks, ihre geheimen Absichten. Und ich habe geglaubt, ich hätte die besseren Tricks. Aber ich blieb der Ausgenutzte, der Missbrauchte, der Betrogene. Das fing doch schon in Lenorenlund an – mit Anita, dieser kleinen Hure. -
Ich denke, du hast sie geliebt, Jason Yolck? –
Das ist es ja! Liebe gegen Missbrauch, Vertrauen gegen Betrug, Hingabe gegen Ausbeutung. So war es immer. –
Und du hast nicht ebenso versucht, andere zu täuschen – zu deinem Vorteil, für deine Ziele? Und du willst nun alle Schuld auf andere schieben?
Hör zu, du verfluchtes zweites Ich in diesem ebenso verfluchten Spiegel! Ich will dir in Erinnerung rufen, was du doch wissen müsstest. Ich will dir die Wahrheit sagen, weil es doch jetzt nur noch um die Wahrheit geht angesichts des Todes, der dich – mich –unwiderruflich erwartet; angesichts des Gerichtes und der Verurteilung. Du erinnerst dich an Anita, nicht wahr? Nur allzu gut erinnerst du dich; du kannst ihr Bild nicht auslöschen, und mit dem Bild deine Schmach, diese Enttäuschung, diesen bitteren Schmerz in deiner Seele, der dich unfähig gemacht hat für die Liebe, ein für alle Mal, trotz allen Begehrens, trotz all der Stunden der wilden Lust, die du dir selbst angetan hast, nur um zu vergessen. Aber du kannst nicht vergessen, Jason Yolck! Du musst dich erinnern, du musst diese Wunde immer wieder bluten lassen. Denn es war dein Herzblut, wie man so sagt, das damals geflossen ist – in jenen Sommertagen in Lenorenlund. Schau dir deinen Lebensfilm an! Du musst es noch einmal erleben, obwohl du es schon so oft erlebt hast in deinen Träumen, die du so gerne vergessen wolltest.
Ja, ich sehe es. Ich sehe mich. Damals, in diesem kargen Speiseraum, inmitten all meiner Mitschüler. Aber vor allem sehe ich sie in ihrem weißen Kittel mit der Haube auf dem blonden Haar, das sich darunter verbergen sollte und das doch immer wieder hervorbrach. Anita! Zierlich, fast zerbrechlich, aber mit einem ungeheuer stolzen Blick. Eigentlich gehörte sie in die Küche, zu der wir keinen Zutritt hatten, doch an jenem Tag musste sie draußen aushelfen, Seite an Seite mit den älteren Frauen, die das Essen ausgaben, mütterliche Typen, bewusst ausgewählt, um in dieser Gemeinschaft heranwachsender Knaben bestehen zu können. Doch nun – Anita! Ich war nicht der einzige, der ihre schlanke Gestalt mit unauffälligen Blicken verfolgte, je jünger die Augen, desto sehnsüchtiger ihr Ausdruck. Sie bemerkte es wohl, war es wohl auch gewöhnt, denn sie zeigte unter dem Kittel durchaus ansehnliche Rundungen, und sie zeigte sie bewusst und selbstbewusst, aber sie schien durch alle diese Jungen hindurchzusehen mit ihren grüngrauen Augen, bis – ja, bis sich unsere Blicke trafen. Ich sah, wie sie stutzte, wie sie zunächst in eine andere Richtung schaute, um dann heimlich zurückzukehren mit ihrem Blick, ich sah, wie sie sehr verhalten ein Lächeln hervorbrachte genau in meine Richtung, um sich dann rasch abzuwenden. Aber ich war sicher: Das Lächeln hatte mir gegolten, und es war eine Einladung gewesen.
Die nächsten Tage hatte ich gleich nach den Mahlzeiten eine Übung mit jüngeren Schülern, und im Speisesaal war die übliche Ordnung zurückgekehrt. Doch das Lächeln war da, die Einladung war da, und Sehnsucht, unbekanntes Begehren hatte mich in Besitz genommen. Es war ein Gefühl, so neu, so unbekannt, dass ich es kaum deuten konnte, denn bislang hatte ich wenig, nein – keinen Kontakt zu einem Mädchen, und wenn wir in einer kleinen Gruppe das Eiscafé in der nahegelegenen Kleinstadt aufsuchten, dann waren es die Schulkameraden, die mit der Bedienung flirteten, ich schaute eher scheu zur Seite, wenn sie anzügliche Beobachtungen von sich gaben. Dabei war ich einer der ältesten, und man sah es mir an, dass ich mich täglich rasieren musste. Mögen die Erlebnisse, die sie in mancher Freistunde lustvoll ausbreiteten, auch eher Wunschträume als Wirklichkeit gewesen sein, ich hatte ihnen nichts Gleichwertiges zu bieten, auch meine Fantasie war unfähig, derlei Details zu erfinden.
Jetzt aber gab es Anita, ihr geheimnisvolles Lächeln, ihre versteckte Einladung. Es war ein Freitag, ich weiß es noch genau, als ich den Weg hinter der Küche immer wieder hinauf und hinunter schlenderte, wie zufällig. Und dann kam sie, rief noch einen Gruß über die Schulter zurück in die Küche, strebte auf ein Fahrrad zu, das in der Nähe lehnte. Sie hatte einen kleinen Beutel über die Schulter geworfen, ihre Jeans umfassten fest und eng alles, was sie bedeckten. Ihre Bluse dagegen hing lose von den Schultern herab, gab nichts preis von dem, was sie verbarg. Ich verzögerte meinen Schritt, ging langsam auf sie zu, und sie stand neben dem Rad und blickte mir entgegen. Ja, ich war sicher: Sie blieb meinetwegen dort, sie wartete meinetwegen, und als ich dicht genug herangekommen war, sagte sie einfach „Hallo!“ sah mich an und ergänzte dann trocken: „Du hast dir aber ziemlich viel Zeit gelassen.“
Sie hat dich eingefangen, Jason Yolck, und du hast es nicht gemerkt, du bist in ein Netz geraten, und sie hat es zugezogen. –
„Gehen wir ein Stück?“ fragte sie, und da war es wieder, dieses Lächeln, diese Einladung – wozu auch immer. Und ich war bereit, ihr zu folgen. Zu allem war ich bereit. Wenn es diesen pfeileschießenden Amor geben sollte – er hatte mich getroffen. Nein, sie hatte mich getroffen, und ich erkannte nicht, welche Absicht sich dahinter verbarg. Sie ging neben mir, schob mit einer Hand das Rad, die andere tastete vorsichtig nach der meinen. Ich ließ mich führen, schweigend, denn ich wusste nicht, was man jetzt sagen sollte, und sie nahm es hin. Plötzlich lachte sie auf: „Du bist ein komischer Kerl, Jason,“ sagte sie, und ich merkte nicht, dass sie meinen Namen kannte, den sie doch gar nicht kennen konnte. „Hast du noch nie eine Freundin gehabt?“
Ich schüttelte den Kopf, und sie lachte wieder, dieses wunderbare, klingende, weiche Lachen, das mich so oft noch verwirren sollte. „Komm, ich will dir etwas zeigen!“ Sie bog plötzlich vom Fahrweg ab und schob ihr Fahrrad über den weichen Waldboden, dann hob sie es an und trug es durch niederes Gebüsch, bis wir auf einem moosbewachsenen Fleck standen, von allen Seiten von Unterholz umgeben, zum Himmel hin von weitausladenden Ästen beschattet. Sie ließ das Rad einfach fallen, drehte sich zu mir um und ergriff meine Handgelenke. Dann schob sie meine Hände – ich glaube, sie zitterten damals – unter den Saum ihrer Bluse. Ich fühlte ihre Haut, sie war warm und feucht. Sie drückte meine Handflächen fest dagegen und führte sie sehr langsam nach oben. Ich spürte plötzlich den Widerstand ihrer Brüste, sie waren nackt und bloß unter dem weiten Stoff, und dann fühlte ich auch ihre steifen Brustwarzen. „Du musst sie streicheln,“ sagte Anita leise, und ich gehorchte.
Eine Weile standen wir so einander gegenüber, sie stöhnte ein wenig, während ich mich bemühte, ihren Wunsch zu befolgen. „Willst du sie sehen?“ fragte sie dann und begann, ohne meine Antwort abzuwarten, ihre Bluse aufzuknöpfen. Ich hatte Schweiß auf der Stirn, aber ich wagte nicht, ihn abzuwischen, meine Hände umfassten noch immer das Rund ihrer Brüste. Anita streifte ihre Bluse über die Schultern und ließ sie fallen. Dann zerrte sie an meinem T-Shirt und schob es mir über den Kopf. Einen Augenblick stand ich blind da, aber ich fühlte, wie sie mit schnellem Griff meinen Gürtel öffnete, den Reißverschluss herunterzog und dann die Hose abstreifte. Jetzt war ich auch unten wie gefesselt, und als ich mich endlich vom Hemd befreit hatte, stand sie nackt vor mir. Ich starrte sie erschrocken an, und sie ließ wieder ihr Lachen ertönen: „Gefalle ich dir nicht?“
„Du bist wunderschön,“ sagte ich so leise, als wollte ich es mir nur selber anvertrauen, aber sie hatte es wohl verstanden. „Dann komm,“ antwortete sie und trat einen Schritt zurück. Und wieder lachte sie, weil ich stolperte in den Fesseln meiner Jeans, die sich um meine Knöchel zusammengerollt hatten. Sie kniete nieder und streifte den harten Stoff von meinen Beinen, richtete sich auf, blieb aber auf den Knien, so dass ihr Gesicht nun direkt vor meiner Scham war. „Du bist auch schön,“ sagte sie und küsste mich dann sehr vorsichtig dort unten. Dann nahm sie ihre Hände zur Hilfe, streichelte mich, bis ich aufstöhnte.
Rasch ließ sie ab, warf sich auf das Moos und streckte mir beide Hände entgegen. Da warf ich mich auf sie und sie half mir, in sie einzudringen. Aber immer wieder entzog sie sich, so dass ich nicht zum Höhepunkt kam; und ich wusste damals wirklich noch nicht, dass alle Lust zu diesem Ziel führen muss, in dem alles endet in einem gewaltigen Schrei, in dem Tod und Leben für einen Augenblick eins werden und die Zeit zur Ewigkeit. Sie aber verschaffte mir diese lustvolle Qual des unerfüllten Wartens, wusste geschickt im letzten Moment innezuhalten und zog so die Zeit in die Länge, bis sie selber aufstöhnte, mich an sich presste, ihre Schenkel heftig um mich schlang und ihren ganzen Körper rhythmisch schwingen ließ. So verschaffte ich ihr ihren Orgasmus, ehe ich selbst spürte, wie etwas sich in sie ergoss, während dieses unbeschreibliche Gefühl vollständiger Lust mich überwältigte. Es war mein erstes Mal, und ich weiß jetzt, nach all den Jahren, dass es nie wieder so wunderbar, so überraschend schön, so erregend und befreiend gewesen ist wie damals, dort auf dem weichen Moosbett unter den Bäumen von Lenorenlund. -
Du hast dich verführen lassen, Jason Yolck, nach allen Regeln dieser Kunst des Weibes, du hast dich verführen lassen wie eine alternde reiche Witwe von einem geschickten Heiratsschwindler, und du hast es genauso wenig erkannt wie dessen Opfer. Hast du denn keinen Augenblick bemerkt, mit welcher Berechnung sie dich umgarnt hat, mit welchen Tricks sie dich übertölpelt hat? –
Ich habe sie geliebt! Ich habe sie doch nur geliebt in diesem Augenblick. –
Richtig! Du hast dieses wunderbare Gefühl für einen Moment der Lust geopfert, und nun konntest du nicht mehr lieben, nicht wahr? Jedes Mal stand dir diese Erinnerung vor Augen, und jedes Mal musstest du sie verbinden mit der bitteren Einsicht, getäuscht, betrogen, ausgenutzt zu werden. -
Warum quälst du mich damit? Warum kann ich nicht diese Erinnerung rein und keusch im Gedächtnis behalten, warum nimmst du mir das Glück, das ich damals erlebt habe? –
Weil es kein Glück war, Jason, sondern dein Unglück! Und das ist die Wahrheit, der du ins Auge sehen musst. Weißt du denn nicht, was danach geschah? -
Doch, und all die Enttäuschungen, die ich erlebt habe in den Jahren danach, zählen nichts angesichts jener schrecklichen Erkenntnis, nur benutzt worden zu sein für ganz andere Zwecke. Zweimal noch haben wir uns dort im Wald getroffen, dann setzte der Regen ein, und Anita drängte mich, sie auf mein Zimmer mitzunehmen. Natürlich war das nicht gestattet, war das gegen mein Gelöbnis, aber das, wonach ich mich tagsüber sehnte, war stärker. Als Primaner bewohnte ich ein Einzelzimmer, und schließlich war ich auch volljährig, niemand würde unangemeldet den Raum betreten. So nahm ich eine Gestalt mit ins Haus, die mit Jeans, einem weiten Pullover und einer Basecap, unter der sich ihre Haare gut verstecken ließen, von weitem eher einem der Jungen aus dem Internat glich. Und stets trennten wir uns danach noch in meinem Zimmer. „Lass mich lieber allein gehen,“ sagte sie, „das fällt weniger auf. Wenn mich wirklich einer der Erzieher erwischen würde, könnte dich niemand verdächtigen, und ich würde dich niemals verraten!“ -
Und dir ist nie aufgefallen, dass seit dieser Zeit sich laufend Diebstähle im Schloss ereigneten? Dass Geld und Uhren und teure Markenklamotten verschwanden, immer wieder, ohne dass je ein Dieb gefasst wurde? Dass Misstrauen wuchs und Verdacht geäußert wurde, bis die Atmosphäre im Haus unerträglich wurde? –
Wie sollte ich wissen, dass Anita es war, dass sie mich nur deshalb verführt hatte, um ins Schloss zu gelangen? Hinaus kam sie ja jederzeit, von innen durfte keine Tür verriegelt sein. Kann man jemand verdächtigen, dem man sein ganzes Glück verdankt? Kann man überhaupt solche Gedanken haben, wenn man liebt – von ganzer Seele und mit seinem ganzen Gemüt und mit allen Fasern seines Herzens, wie irgendwo geschrieben steht? -
Und ist dir nie bewusst geworden, dass diese Anita beides genoss – die Lust der Liebe, die du ihr als gelehriger Schüler immer wieder bereitet hast, und die Lust am Verbotenen, den prickelnden Reiz des Abenteuers, den jeder Einbruch ihr verschaffte, das Gefühl des Erfolges, wenn sie ihr Diebesgut in Geld verwandelte und ihr Konto anwuchs Tag für Tag? –
Warum musst du auch unsere Liebe hineinziehen in das Verbrechen, warum willst du mich zum Mitschuldigen machen, der ich doch schuldlos war, unschuldig in allen Bedeutungen, die dieses Wort haben mag? –
Nein, Jason! Blind warst du, deinen Verstand hast du zur Seite gelegt wie ein schmutziges Wäschestück, aber unschuldig warst du deshalb nicht. Sieh der Wahrheit ins Auge – auch wenn dieses Auge kalt und grausam blickt und nicht grüngrau und lächelnd. Du hättest es wissen können, das kannst du nicht leugnen. Du hättest es verhindern können, das kannst du nicht abstreiten. Und, als sie dann plötzlich eines Tages fortblieb und die Frauen in der Küche dir verrieten, Anita habe gekündigt, und als mit dem gleichen Tage die Diebstähle aufhörten – du hättest den Zusammenhang erkennen und melden müssen, um alle deine Kameraden vom Verdacht reinzuwaschen. Das weißt du genau. Aber du warst feige, weil du nicht hineingezogen werden wolltest, weil dein Ansehen bei den Erziehern und Lehrern und bei deinem geliebten Dr. Scheer auf dem Spiel stand, weil du fürchten musstest, ein Jahr vor dem Abitur aus dem Internat entfernt zu werden. Das ist die Wahrheit, Jason Yolck: deine Feigheit, Verantwortung zu übernehmen. An diese Feigheit muss ich dich erinnern, nicht an das, was du Liebe nennst.