Читать книгу Die Träume von Macht - Eckhard Lange - Страница 10
Die Begegnung
ОглавлениеThessi hatte es so eingerichtet, daß er fast eine Stunde vor dem angegebenen Termin in Hamburg eintraf. Er schlenderte die wenigen Schritte vom Hauptbahnhof zur Binnenalster, die im Licht der Frühlingssonne an immer unterschiedlichen Stellen aufblitzte. Dann ging er den Ballindamm hinunter und blieb immer wieder stehen, um die Promenade vor dem Alsterpavillon zu beobachten. Dessen Außenterrasse war gut besucht, die Sonne wärmte bereits. Er machte auch die Bank am Ufer aus. Sie war leer. Dort also würde er sich mit seinem Vater treffen, dort würde er jenen Mann kennenlernen, nach dem er sich als Kind so manches Mal gesehnt hatte und der ihm doch so unendlich fern und fremd erschien - fast wie jemand, der längst schon verstorben war.
Er hatte kein Bild von ihm vor Augen; er hatte seiner Fantasie verboten, sich ein solches Bild zu machen. Sonst war es ihm wichtig für seine Träume, aber jetzt wollte er nichts tun, was wahrscheinlich in einer Enttäuschung enden würde. Er blickte auf die Uhr: Es waren noch zwanzig Minuten bis zur vereinbarten Zeit. Thessi wechselte auf den Jungfernstieg, ging an den Schaufenstern entlang, ohne doch auf die Auslagen zu achten, ließ den Alsterpavillon rechts liegen, ging bis zur Straßenkreuzung, um dann hinüber ans Ufer zu gelangen. Dort lehnte er der steinernen Brüstung und blickte hinunter auf das Wasser, das in kleinen, schmutzigen Wellen ans befestigte Ufer schlug. Ein Fahrgastschiff verließ den Anlegeplatz und nahm Kurs auf die Lombardsbrücke. Thessi drehte sich um, stützte sich rückwärts mit beiden Ellenbogen auf den kühlen Stein und musterte die Gäste, die die vorderste Reihe der Tische auf der Terrasse besetzt hatten. Vielleicht saß er ja dort und wartete, den Blick auf die leere Bank geheftet.
Es könnte doch sein, daß sich jetzt jemand anderes dort niederläßt, dachte er plötzlich - jemand, der die Möwen füttert, der auf den nächsten Dampfer warten oder einfach die Sonne genießen will. Und was dann? Mit raschem Entschluß stieß er sich ab, ging zur Bank und setzte sich, möglichst in die Mitte, um damit anzudeuten: Hier ist kein Platz mehr. Dann zog er das Buch, das er während der Bahnfahrt gelesen hatte, aus dem Rucksack, den er über die Schulter gehängt mit sich trug, und schlug es auf, irgendwo, denn lesen würde er sowieso nicht. Aber es gab ihm den Anschein von Kultur.
Und dann setzte sich jemand neben ihn, rechts an das Ende der Bank. Ein Mann mittleren Alters, das Haar an den Schläfen schon etwas grau, zur Mitte des Schädeldachs hin nur noch dünn. Mit den tiefeingekerbten Falten im gebräunten Gesicht sah er allerdings älter aus, als Thessi erwartet hatte. Zur grauen Tuchhose trug er einen marineblauen Pullover, an der Schultern mit Leder abgesetzt. Wie der Mann, der den Alsterdampfer abgetäut hatte, dachte Thessi.
"Hallo, Thessi, schön daß du gekommen bist," sagte der Fremde. "Hallo," antwortete der Angesprochene kurz. Er wartete ab, was geschehen würde, ohne irgendwelche Gefühle zu verraten. "Wie geht es deiner Mutter?" "Danke, einigermaßen," war die kurzsilbige Antwort. Dann eine Weile Schweigen. "Ich denke, du wunderst dich über dieses Treffen. Und du bist mißtrauisch gegenüber einem Vater, der nach so vielen Jahren plötzlich auftaucht." Thessi blieb stumm.
"Es ist auch nicht leicht zu erklären," fuhr der andere fort. "Als ich deine Mutter traf, war ich auf der Durchreise, hatte kurz Station gemacht bei einem - sagen wir Geschäftsfreund. Ich will ganz offen sein: Es war nur eine flüchtige Begegnung, ohne besondere Absicht, und vor allem ohne einkalkulierte Folgen." Er schwieg einen Augenblick. Da sagte Thessi, ohne dabei irgendwelche Gefühle zu offenbaren: "Ich weiß, ich war nicht gewollt."
"Es mag bitter für dich sein, aber es stimmt. Doch die Antibabypille war noch nicht auf dem Markt. Daß deine Mutter schwanger geworden war, habe ich erst viel später erfahren. Ich fuhr damals zur See, da gab es wenig Kontakt zum Land hin, und mein Geschäftsfreund hat mir nichts berichtet, anfangs jedenfalls."
"Aber Sie haben es erfahren!" Thessi mußte es einfach loswerden, und es klang ziemlich bitter. "Sag doch bitte du, trotz allem bin ich dein Vater. Ja, ich habe es erfahren, und ich habe mancherlei Erkundigungen eingezogen, die ganze Zeit über. Aber ich habe mich nicht gemeldet, das ist wahr. Ich habe deine Mutter.. ich habe dich alleingelassen. Um ganz ehrlich zu sein: Ich habe anfangs wenig Verantwortung empfunden für das, was geschehen war. Und es gab noch zwei Gründe: Ich habe in jenen Jahren herzlich wenig verdient, und - ich hatte geheiratet. Wir hatten einen Sohn, und ich wollte meine Ehe nicht aufs Spiel setzen - auch wenn du ja viel früher geboren wurdest. Der Junge ist übrigens mit zwölf Jahren tödlich verunglückt. Und seine Mutter hat diesen Verlust nicht überwinden können, sie folgte ihrem Kind wenige Jahre später. Sie hat sich nicht gewehrt gegen ihre Krankheit, ich denke, sie hat sie sogar dankbar angenommen als Ausweg. Wenn du so willst: Es war wie eine späte Strafe für mich." Er hielt inne, und auch Thessi wußte nichts zu sagen, er schwankte zwischen einer gewissen Anteilnahme und dem Gefühl von Genugtuung. So saßen sie eine Weile nebeneinander und blickten auf das Wasser, auf dem die Möwen umher schwammen und lärmten.
"Ich habe mich in der Arbeit vergraben, damals. Meine Frau war Erbin einer kleinen Reederei, die ich dann übernommen hatte. Ich war erfolgreich damit, sehr erfolgreich. Aber davon später. Ich hatte mancherlei Informationen über dich, die ganze Zeit. Und ich habe damals überlegt, ob ich dich zu mir holen sollte. Doch da gab es Bedenken: Du gehörtest deiner Mutter, ich hatte nun wirklich kein Recht, ihr den Sohn wegzunehmen. Und zu ihr gab es für mich keinen Weg. Und du hattest deinen Platz dort, du hattest eine Rolle, davon habe ich manches erfahren. Was ich erkannte, war dies: Du mußtest diese Rolle zu Ende spielen, es war dein Leben, deine Entwicklung, dein Weg. Ich hatte kein Recht, ihn zu zerstören oder auch nur zu beeinflussen. Dafür war es zu spät. Mir blieb nur, unerkannt zuzuschauen, auch wenn es mir zunehmend schwerer fiel - das magst du nun glauben oder nicht."
Als er einen Augenblick verstummte, wandte sich Thessi ihm zu. Zum ersten Mal blickte er ihm direkt ins Gesicht: "Was weißt du alles von mir?" Der Mann neben ihm, der sein Vater war, lächelte ein ganz klein wenig: "Nicht so viel, wie du befürchtest. Nur so viel, wie ein Außenstehender über jemand erfährt, der in solch überschaubaren Verhältnissen lebt, wie sie deine Heimatstadt nun einmal aufweist. Und doch soviel, daß ich ein Bild von dir habe. Aber darüber laß uns später einmal reden, wenn wir uns näher kennen sollten. Denn das alles ist jetzt auch für dich ein abgeschlossenes Kapitel, denke ich. Und weil du ein neues Kapitel anfängst, anfangen mußt, habe ich mich zu diesem Schritt entschlossen. Das war mir klar geworden: Wenn ich jetzt nicht handle, wird es unweigerlich zu spät sein. Trotz allem, was in der Vergangenheit geschehen - oder nicht geschehen ist: Du bist mein Sohn, und du hast ein Recht darauf, deinen Vater kennenzulernen. Und noch eins: Du bist mein Erbe, der einzige, den ich habe. Und du hast ein Recht auf dieses Erbe, wenn du es nicht ausschlägst. Auch das steht dir frei. Aber du sollst wissen: Es gibt ein Testament, zu deinen Gunsten. Laß mich dir darum ein Angebot machen: Ich kann dir ein Studium finanzieren, wenn du das möchtest - was auch immer es sein mag. Ich kann dir auch einen Platz in meinem Unternehmen anbieten, damit du lernend hineinwächst in das, was dir einmal gehören soll. Du mußt dich jetzt nicht entscheiden. Du solltest dir damit Zeit lassen. Und du kannst dich auch gegen mich entscheiden, ich könnte das verstehen, auch wenn es für mich bitter wäre. Aber auch das solltest du in Ruhe bedenken."
Wieder dehnte sich eine Pause. Es stimmte: Thessi, der sonst so rasch entschlossene, auf seine Vorteile bedachte, seinen hochfahrenden Träumen verpflichtete, er wußte nicht, was er antworten sollte. Er mußte nachdenken, über sich - und über diesen Mann, der da neben ihm saß. Er mußte abwägen, Zeit gewinnen, Sicherheit gewinnen. Sein Vater unterbrach seine Gedanken: "Ich werde jetzt gehen. Ich werde dich allein lassen mit dem, was du heute erfahren hast. Ich will keinen Einfluß nehmen auf deine Entscheidung. Ich bitte dich nur um eins: Laß mich wissen, wie du dich entschieden hast. Ich werde in einer Woche, zur gleichen Zeit, wieder hier sein und auf dich warten. Und ich hoffe, ich hoffe wirklich, daß wir uns dann wiedersehen." Er stand auf und trat an die Brüstung, schaute einen Augenblick lang hinunter ins Wasser. Dann wandte er sich um: "Leb wohl, mein Junge." Er war schon einige Schritte gegangen, da blieb er plötzlich stehen und blickte zu Thessi zurück, der reglos auf der Bank saß. "Ach ja, was ich dir noch gar nicht verraten habe: Ich heiße Gerhard Eigen." Er nickte noch einmal zur Bank hinüber, hob fast unmerklich eine Hand wie zu einem Gruß und schritt die Stufen hinauf zur Terrasse des Pavillons, ging zwischen den aufgereihten Tischen hindurch und verschwand im Inneren, ohne zurückzublicken.
Thessi verfolgte ihn mit den Augen, dann wanderte sein Blick wieder auf die Wasserfläche, auf die Möwen und ein paar Schwäne, die an der Anlegestelle im Kreis ruderten, auf den Alsterdampfer, der sich dem Ufer näherte, die Menschen, die auf ihn warteten, die Spaziergänger, die die Promenade heraufkamen. Nach einer Weile erhob er sich, griff nach seinem Rucksack, warf ihn über den Rücken und ging den Promenadenweg entlang Richtung Bahnhof. Auf der Heimfahrt blieb sein Buch geschlossen; er hätte sich nicht konzentrieren können. So schaute er hinaus auf die Häuser der Stadt, an denen der Zug vorbeifuhr, auf Hinterhöfe und Gärten und dann auf die weiten Felder des flachen Landes, das sich bis hin zur Nordsee erstreckte, irgendwo dort unter der niedrigstehenden Sonne, in unsichtbarer Ferne, bis der Zug nach Osten abbog.