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Die Rächer

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Es war an einem sonnigen Juninachmittag, als sich in der Stadt eine ungeheuerliche Neuigkeit herumsprach: Ein Fünftklässler war von zwei unbekannten älteren Jugendlichen auf dem Heimweg überfallen worden, der ihn durch einen knickgesäumten Hohlweg zum abgelegenen elterlichen Anwesen führte. Dort war er hinter die Wallhecke geschleppt und grausam mißhandelt worden. Obwohl er freiwillig erst sein Taschengeld, dann seine Jeansjacke und auf Befehl auch seine neuen Marken-Turnschuhe hergab, zogen sie ihm das T-Shirt über das Gesicht, stießen ihn zu Boden und wälzten ihn mit bloßem Oberkörper in einem brennessel- bestandenen Graben hin und her. Dann zündeten sie sich Zigaretten an, rauchten und drückten ihm die glühenden Enden mehrfach auf die nackte Haut, befahlen ihm endlich, nicht eher aufzustehen, als bis er laut bis hundert gezählt hätte, um sich derweil mit ihrer Beute aus dem Staube zu machen.

Während Polizeibeamte das völlig verstörte Opfer ohne großen Erfolg befragten, andere ebenso erfolglos den Tatort nach Spuren absuchten oder die Akten nach vergleichbaren Fällen durchforsteten, erließ Thessi per Rundruf den Befehl zur sofortigen Versammlung. Die Jungen erschienen unter ihrem Totembaum, und Thessi hielt, wegen der besonderen Bedeutung der Zusammenkunft stehend, folgende Ansprache:

"Was dort geschehen ist, ist keine bloße Abzocke, wie sie nach unseren Gesetzen in besonderen Fällen erlaubt wäre. Ebenso ist es kein gerechtfertigter Racheakt. Es ist ein gemeines Verbrechen. Auch wenn der Junge keiner von uns ist, es geht uns alle an. Wir dulden keine Verbrechen in unserem Gebiet, und wir werden alle bestrafen, die einen Schüler unserer Schule entführen und foltern. Dies ist eine Sache der Ehre, und eine Verpflichtung zur Rache. Schwört mit mir, daß niemand in die Ferien geht, ehe die Täter nicht bestraft sind."

Er schwieg und blickte in die Runde. Alle hatten sich erhoben und hoben die Rechte zum Schwur. Thessi nickt zufrieden, dann gab er die nötigen Anweisungen. Zunächst wurde beraten, welche Jugendlichen als Täter in Frage kommen könnten. Namen wurden genannt, Vermutungen angestellt, eine Reihenfolge der Verdächtigen wurde festgelegt. Dann bildete Thessi Vierergruppen, die je einen der besonders Verdächtigen überprüfen sollten. Er machte durchaus professionelle Vorgaben: Unauffällige Befragungen im Umfeld, um den jeweiligen Aufenthaltsort während der Tatzeit festzustellen. Sollte kein eindeutiges Alibi vorliegen, weitere Observierung des Verdächtigen, wobei besonderes Augenmerk auf alle Kontakte mit einem der anderen genannten möglichen Täter zu legen ist. Wenn möglich und nötig, ist auch - vorübergehend – ein unbemerkter Diebstahl erlaubt, um etwa ein Notizbuch zu überprüfen, ebenso eine Durchsuchung des Zimmers nach den abgezockten Kleidungsstücken, wenn es unbeobachtet bleiben kann. Berichterstattung bis Sonnenuntergang. Damit war der Geheimbund entlassen.

Thessi selbst beteiligte sich nicht an diesen Aufgaben. Er begab sich zum Tatort, nachdem er sicher war, daß die Polizisten abgezogen waren. Er sah sich eine Weile um, weniger um Spuren zu finden, sondern um seinen Plänen genaue Gestalt zu geben. Und er besuchte das Opfer.

Auch hier war die Polizei ohne greifbare Erkenntnisse geblieben, weil der eingeschüchterte Junge kaum verwertbare Informationen geben konnte - oder auch geben wollte. Thessi aber saß an seinem Bett, betrachtete aufmerksam die versorgten Wunden, ließ ihm Zeit für Tränen, für Schluchzen und Zittern - er hatte seiner Psychologin in kurzer Zeit manches abgeguckt - und er versprach, daß er ihn vor jeder Rache schützen würde, wenn er ihm Näheres über die zwei verraten könnte. Und Thessis Wort galt - mehr als alle Versicherungen der Vernehmungsbeamten. Der Rest war kein Problem mehr.

So konnte Thessi am Abend mit Anerkennung alle Bemühungen seiner Gefolgschaft zur Kenntnis nehmen, obwohl sie keine eindeutigen Beweise einzubringen vermochte. Thessi hörte trotzdem geduldig zu, lobte hier und korrigierte dort ein vorschnelles Urteil, und als alles gesagt war, ohne daß ein Ergebnis vorlag, nannte er die Namen der beiden Täter. Nur so, aber mit Entschiedenheit.

Dann beantragte er in aller Form ein Urteil des Bundes. Die beiden Täter, führte er aus, seien in gleicher Weise zu strafen, wie sie ihr Opfer behandelt hätten. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Doch sollte ihrem höheren Alter und ihrer deshalb eigentlich zu erwartenden größeren Vernunft entsprechend energischer - also abschreckend eben - vorgegangen werden. Auch Kain sollte siebenfältig gerächt werden. Thessi gefiel sich in mancherlei Zitaten, ob sie stets zutrafen, wußten seine Zuörer ja sowieso nicht.

Es gab keine Diskussion dieses Vorschlags. Niemand hätte gewagt, dem Anführer in solch wichtiger Sache zu widersprechen, aber hier stimmten sie auch aus Überzeugung zu, obwohl keiner sich so recht vorstellen konnte, wie dieses Urteil in der Wirklichkeit zu vollstrecken wäre. Doch dafür gab es ja Thessi, er wußte den Weg, er würde sie führen. Wieder erhoben sich alle, um mit aufgerecktem Arm dem Urteil zuzustimmen. Dann blickten alle erwartungsvoll auf den einen, der da lässig und siegessicher am Stamm der Buche stand.

Er ließ sie sich wieder setzen, um ihnen ruhig und bestimmt den Plan zu entwickeln, den er bereits dort, am Ort der Tat, bis in alle Einzelheiten erdacht hatte. Noch in der gleichen Nacht würden sie sich - nacheinander - nahe den Häusern der Täter versammeln. "Macht euch Masken, Sturmhauben, zieht einen alten Pudel über den Kopf und schneidet Sehschlitze hinein. Rächer und Helfer bleiben stets unerkannt. Ich brauche feste Stricke als Fesseln. Wer kann die besorgen?" Mehrere Jungen meldeten sich. "Gut, das wird reichen. Die Raucher bringen ihre Zigaretten mit. Ich komme mit einem offenen Lieferwagen zum Abtransport der Gefangenen, ausgeborgt für ein paar Stunden. Nachts gibt es keine Kontrollen im Stadtgebiet. Macht euch auf einen kurzen Kampf bereit. Aber wir sind genug, um auch den Stärksten niederzuwerfen. Sollte einer bewaffnet sein, werde ich ihm die Waffe abnehmen, erst danach greift ihr an. Wir schaffen sie gefesselt zum Tatort und vollziehen dort das Urteil. Stets soll Gerechtigkeit siegen!" Dann nannte er noch Ort und Zeit für das Zusammentreffen. Daß niemand anderes - auch keine Eltern - etwas erfahren würden, war allen selbst- verständlich.

Es war unerwartet einfach, die beiden vor die Haustür und in eine Nebenstraße zu locken: Ein Anruf per Telefon, vorgeblich vom jeweils anderen, wurde als echt verstanden und befolgt. Keiner wagte eine Gegenwehr, als ihnen diese Schar Vermummter entgegentrat, obwohl sie doch meist viel kleiner und schwächer erschienen. Das übrige bewirkte der Überraschungseffekt, auf den Thessi gesetzt hatte. Widerstandslos ließen sie sich die Hände auf den Rücken binden, auf die Ladefläche heben und dort auch an den Füßen fesseln.

Erst als der Wagen im Hohlweg hielt, wurde ihnen bewußt, daß ihnen Schlimmes bevorstand. Aber die Gegenwehr der Gefesselten blieb wirkungslos, die Jungen hoben sie herab und trugen sie schweigend hinter den Knick, an die Stelle, die ihnen Thessi ebenso schweigend wies. Da man ihnen wegen der Stricke die Kleidung nicht ausziehen konnte, zerschnitt Thessi langsam und gestenreich den Stoff mit einem Messer, riß Stück für Stück vom Körper und warf alles auf einen Haufen. Noch immer wurde kein Wort gesprochen, auch die beiden jugendlichen Täter zogen es vor zu schweigen, eine Rechtfertigung erschien ihnen ebenso sinnlos wie eine Bitte um Gnade. Erst als sie bis auf den Slip entkleidet waren, stellte sich Thessi zwischen die beiden und begann zu sprechen, ruhig und bedeutsam:

"Es ist leicht, einen Schwächeren zu fangen, wenn man in der Überzahl ist. Was ihr mit dem Kleinen getan habt, tun wir jetzt mit euch. Es ist leicht, ihn zu quälen, wenn man ihn in der Gewalt hat. Was ihr hier mit ihm getan habt, tun wir nun mit euch." Er stieß den ersten mit dem Fuß an und schob ihn auf den Graben zu, bis er in den Brennesseln versank. Er zog sich Lederhandschuhe an, um sich zu schützen, dann wälzte er ihn hin und her. Dann befahl er: "Holt ihn heraus. Und übernehmt den andern!" Die Jungen gehorchten, überwältigt vom Schauer des Geschehens und dem tiefen Ernst, in den Thessis Worte alle versetzt hatten. Als beide wieder auf dem Ackerboden lagen, winkte Thessi vier Jungen heran und bedeutet nur durch Zeichen, Zigaretten anzuzünden. Sie taten es ängstlich und schweigend. Dann trat er wieder zwischen die beiden und sagte: "Es ist leicht, einen Wehlosen zu foltern. Was ihr mit eurem Opfer getan habt, tun wir jetzt mit euch." Er nahm eine der brennenden Zigaretten und drückte sie langsam gegen die Brust des ersten, bis der aufstöhnte. "Sechsmal habt ihr einem Kind Schmerzen zugefügt, zweimal sechsmal sei eure Strafe."

Thessi bedeutete den Rauchern, mit der Tortur fortzufahren. Sie wagten nicht, sich zu verweigern. Zögernd drückten sie ihre Zigaretten auf die sich windenden Körper, rauchten ein paar Züge, um neue Glut zu entfachen und sich zugleich zu beruhigen, dann setzten sie die Folter fort, bis jeder der beiden Gefesselten zwölf Brandmale aufwies. Das alles vollzog sich unter absolutem Schweigen der vermummten Rächer. Man hörte nur den schnellen Atem der Gequälten und ihr Stöhnen, wenn die Glut auf ihre Haut traf. Dann sagte Thessi, und jeder spürte, daß es ihm bitterer Ernst war: "Euer Opfer hat euch nicht verraten. Gerechtigkeit geschieht auch ohne das. Aber wenn ihr versuchen solltet, euch trotzdem an ihm zu rächen, dann wird euer Urteil auf Tod lauten, langsamen, qualvollen Tod. Und die Diener der Gerechtigkeit werden euch finden, überall."

Darauf nahm er eine der Zigaretten und hielt einen Fetzen Papier daran, bis er aufflammte. Vorsichtig trat er an den Haufen mit den zerschnittenen Kleidern, ergriff ein Stück Stoff und hielt es in die Flamme, bis es Feuer fing. Er warf es auf den Haufen und wartete. Langsam loderten Flammen auf, der Haufen brannte nun lichterloh.

"Es ist leicht, einen Hilflosen seiner Kleider zu berauben. Was ihr ihm getan hat, tun wir euch. Aber wir nehmen nicht, um zu besitzen. Gebanntes ist es und gehört nur einem: der Gerechtigkeit, der wir dienen." Reglos standen alle um das Feuer, sahen zu, wie die Flammen den Stoff verkohlten, bis sie keine Nahrung mehr fanden und verloschen. Dann nahm Thessi noch einmal sein Messer zur Hand. Er zerschnitt den beiden die Fußfesseln und wandte sich ein letztes Mal an sie: "Bis hundert mußte er zählen, bis zweihundert zählt ihr laut und deutlich, bevor ihr euch vom Boden erhebt." Er winkte seinen Anhängern, und sie verließen schweigend den Ort der Rache. Als sie sich den ersten Häusern näherten, nahmen sie die Masken vom Gesicht und gingen gesenkten Hauptes, aber erfüllt von dem Gedanken, eine nahezu heilige Handlung vollzogen zu haben, nach Hause. Thessi aber blieb, das Messer in der Hand, und lauschte auf die Zahlen der beiden, bis sie die zweihundert fast erreicht hatten. Dann wand er sich durch die Hecke, startete den Wagen und fuhr ihn dorthin zurück, wo er ihn gestohlen hatte.

Niemand von den Jungen erzählte etwas von dieser Nacht, und doch verbreitete sich bald das Gerücht, daß jemand die Tat bestraft hatte. Vielleicht kam es aus der Arztpraxis, wo einer der beiden seine Brandwunden behandeln lassen mußte, und obwohl er eine Ausrede erfand, konnten sich Arzt und Helferinnen ob der Ähnlichkeit der Fälle denken, wo hier der Zusammenhang bestand. Aber auch sie sahen keinen Anlaß, die Polizei zu verständigen. Die Tat war gesühnt, mag man es auch Selbstjustiz nennen. Und dem Opfer war Gerechtigkeit geworden - anders als erwartet, aber so, dass Ähnliches wohl so bald nicht geschehen würde in dieser Stadt. Als das Gerücht auch das Lehrerkollegium erreichte, dachte mancher an Thessi und seine Gruppe, aber bloßer Verdacht war schließlich kein Beweis - und außerdem: Der mißhandelte Fünftklässler schien Schmerzen und Schock wohl auch dadurch überraschend schnell überwunden zu haben. Und die Täter zu finden war doch schließlich Sache der Polizei. Aber die nahm keine Notiz von solchen Gerüchten. Erfuhren die Beamten nichts, oder wollten sie nichts hören? Jedenfalls legte man den Fall bald als ungeklärt zu den Akten.

Thessi wartete über eine Woche, bis er ein neues Treffen seines Geheimbundes anberaumte. Er wollte den Mitgliedern Zeit geben, um das Erlebte zu verarbeiten, aber in Wahrheit brauchte auch er diese Zeit, um der Erregung Herr zu werden, die ihn ergriffen hatte, um das Gefühl vollkommener Macht über Leben und Tod in sein Gedächtnis einzugraben und seine Träume vom rächenden Helden mit der Wirklichkeit zu verbinden. Auf den Zusammenkünften der Gruppe wurde übrigens kein Wort mehr über die nächtliche Aktion verloren, nur das Selbstbewußtsein der Jungen war seitdem sichtbar gewachsen, und je größer der Abstand, desto mehr fühlten sie sich als Helden, als Rächer, als Diener der Gerechtigkeit, wie es Thessi gesagt hatte.

Die Träume von Macht

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