Читать книгу Barackenkind - Edith Dühl - Страница 10
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ОглавлениеNachdem Elisabeth ins Bad gefunden und gefrühstückt hatte, setzte sie sich an den Schreibtisch. Es war noch nicht entschieden, ob sie sich zum Treffen der Barackenkinder nach Herbstede wagen würde. Aber dass die Möglichkeit bestand, bannte sie an ihren Platz, sie brachte es nicht fertig, an die Nordsee oder sogar an ein südliches Meer zu fahren. So blieb wie immer die Arbeit.
Aber statt sich in den Text zu vertiefen, sah sie zu, wie die Wärme über dem Heizkörper flimmerte und als rauchiger Schatten durch das Lichtfenster auf ihrem Schreibtisch zog. Die Gedanken wanderten. Wie es wäre, all denen gegenüberzustehen, die wie sie in der Baracke eine Bleibe gefunden hatten? Die jetzt keine Kinder mehr waren? Ob sie jemanden erkennen würde? Ob Linda Rüstig immer noch so dick war und ihr Kopf immer noch von krusseligen Haarfusseln umflirrt? Ob der herum geschubste schwachsinnige Bernhard Wettin noch lebte? Und Ännchen Struck und die anderen Struckmädchen und -jungen, und Gundel und die anderen Groß-Mädchen im Stockwerk über ihnen, wie mochte es ihnen allen gehen? Bei dem Gedanken an Gundel tauchte ein faltiges Gesicht vor ihr auf. Er hatte auch dort oben gewohnt, bei Frau Groß. Elisabeth schloss die Augen, schluckte schwer. Das Ledergesicht. Das war ihr geheimer Name für ihn gewesen. Immer, wenn von oben Schritte zu hören gewesen waren, hatte sie versucht herauszuhören, ob er es war, der dort hin und her tigerte. Bedrohung, die durch die dünne Holzdecke gestrahlt hatte. Schnell weiter mit den Gedanken. Ausgerechnet der freche Lothar Struck mit den roten Haaren veranstaltete jetzt das Barackenkindertreffen. Mit Ännchen Struck würde sie nicht mehr wegen ihrer Mütter streiten. Ihre beiden Mütter waren tot.
Konzentration ließ sich nicht erzwingen. Vielleicht käme sie mit ihrer Geschichte besser zurecht, wenn sie an einem anderen Ort weiterarbeitete. Eine junge Frau reist im Zug durch die Länder und da ist ein alter Mann, der immer am selben Bahnhof aussteigt wie sie. Elisabeth hatte immer noch nicht ganz zu fassen gekriegt, worum es für sie in der Geschichte ging. Aber den Anfang hatte sie immerhin so ausgefeilt, dass jedes Wort stimmte.
Sie begann, auf dem Schreibtisch Ordnung zu schaffen. Beim Herumkramen las sie sich in den Zeitungsartikeln fest, die auf das Wegheften warteten. So vieles von dem, was sie wieder las, enthielt Stoff für Geschichten. In einem plötzlichen Impuls warf sie alles in den Papierkorb, sie wollte in Zukunft auch beim Schreiben dem Augenblick vertrauen. Dem Augenblick und der Erinnerung.
Später rief sie ihre Freundinnen an, um zu fragen, ob eine von ihnen sie in den „Englischen Patienten“ begleiten würde. Eva lehnte ab. „Ich geh jetzt immer früh schlafen“, sagte sie. Sie sprach auffallend langsam, sie nahm viele Medikamente. Seit dem Tod ihres Mannes war sie ganz in Trauer versunken. Es gab nicht viel zu reden.
Vera sagte gleich „Mir geht es gar nicht gut ...“
Das hörte Elisabeth schon an der dünnen Stimme.
„Der Kleine tut mir so leid.“
Daniels Lernprobleme waren nicht mehr zu übersehen. Viele Sorgen machte dies späte Kind. Elisabeth konnte sich vorstellen, wie Veras bräunliche Haut kummergelb verblasst war und die Lachfalten plötzlich wie Sorgenspuren ihre schmalen Augen umzingelten. Veras Dreiecksbeziehung hatte nur doppeltes Elend ergeben. Dazu gab es Probleme mit der Schulter und der Hand. „Ich muss gucken, wofür das steht, dass ich mit der rechten Hand nicht mehr richtig zupacken kann“, sagte Vera, „es muss wohl so ein Skript in meinem Leben geben, das mir immer wieder das gleiche vorschreibt, in der Richtung guck ich jetzt ...“
„Du kriegst noch Augenschmerzen dazu, wenn du so viel guckst“, blitzte es Elisabeth durch den Kopf, aber sie unterbrach Vera nicht.
„... es geht wohl immer noch um die ganz alten Schoten, ich muss noch mal nachgucken, warum ich mir das wieder antue ...“
Vera als Familientherapeutin war sonst empfindlich gegen Floskeln, sie brachte Elisabeth manchmal zum Lachen, wenn sie neu aufgetauchte Redewendungen zitierte, mit denen ihre Klienten sich als klüger ausgaben, als sie waren (die mit dem „Skript“ war noch nicht so alt wie manche andere). Wenn sie selbst in diese Sprache verfiel, musste es schlecht um sie stehen. Also auch keine Kinobegleitung.
„Leg dich in die Badewanne“, zu mehr reichte Elisabeths Weisheit nicht, ihr Herbstede-Problem hielt sie auch bei Vera zurück. „Denk dran: die schwachen Augenblicke angenehm gestalten, dann haben wir wenigstens etwas davon ...“
Vera lachte, sie lachten beide. Legten dann auf.
Also weitere Nummern gewählt. Marie konnte sie nicht erreichen und Imke hatte keine Zeit, aber mit Imke verabredete sie sich für den nächsten Abend, Karfreitag. Elisabeth rief noch einmal bei Eva an, fragte, ob sie dazukommen wolle. Eva wollte nicht. Hilflos suchte Elisabeth eine Blumenkarte hervor, die würde Eva einen Gruß in den Kasten stecken.
Also ging sie am Abend wieder einmal allein ins Kino.
Auf die eine Hälfte des Films hätte sie gern verzichtet, Wüstenkitsch und Flattergewänder, aber die andere!
Als Elisabeth abends im Bett lag, scharten sich nicht die Barackenkinder um sie, sondern die Personen aus dem Film und sie fühlte sich unter all denen, die ihre größten Katastrophen bereits hinter sich hatten, am richtigen Platz. Der Geliebte im Krieg erschossen, ein Sterbender nebenan – inmitten der Zerstörung nachts im Garten unterm Mond ein Hinkespiel spielen wie die Heldin des Films, das hätte sie auch gern gekonnt.