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ОглавлениеLeokadia, meine Mutter, ist heute vor allem eine Stimme in meinem Kopf, eine Stimme, die singt, in warmem, vollem Alt, erstaunlich füllig für den kleinen Körper, aus dem sie strömt.
„Weil ich Jesu Schäflein bin,
freu ich mich nun immerhin
über meine grüne Weide,
dass ich keinen Hunger leide,
und sobald ich durstig bin,
führst du mich zur Quelle hin. ...“,
das passte zur kleinen Leokadia. Ihre Dankbarkeit dafür, dass sie keinen Hunger und Durst leiden musste, war nicht nur Singsang, so viel verstand ich schon als Kind. Aber dann ertönte auch voll und sicher „Du großer Gott, wenn ich die Welt betrachte, die du geschaffen durch dein Allmachtswort...“ oder „Ich bete an die Macht der Liebe, die sich in Christus offenbart ...“, und ich staunte sie an wie eine Predigerin.
Mehr eine Erinnerung des Gehörs als des Gesichts, jedenfalls in den frühen Kinderjahren, aber doch steht meine Mutter auch in Bildern vor meinem inneren Auge, rotglühend und verschwitzt, wenn sie von der Feldarbeit nach Hause kommt, später am Abend blass am Spinnrad, nur in den Äderchen auf den Wangen hat die Röte überlebt. Immer hat sie zu tun, selten darf ich auf ihren Schoß. Ich sehe sie in der Nacht am Bett knien und beten und der tagsüber aufgesteckte Zopf läuft lang das Rückgrat hinab. Leokadia am Wäschetrog. Ein Hemd zwischen den rubbelnden Händen, durchdringt ihre Stimme den Wasserdampf und füllt die ziegelgemauerte Waschküche mit hallendem Gesang. Dann neben mir auf dem Sofa die schwache, alte Leokadia, verstummt, mit zart gewordenen, blau geäderten Händchen im Schoß. Und plötzlich betrachtet sie mich prüfend.
„Lokaddja“, so nannten sie ihre ostpreußischen Schwägerinnen und ihre Nachbarinnen. Frauenstimmen habe ich im Ohr, wenn ich diesen Namen meiner Mutter höre, „Lokaddja“.
Mit ihren vielen Kindern lebte sie zwischen Frauen, die wie sie viele Kinder geboren hatten. Männer gab es in ihrer Welt wenige, seit der ostpreußische Gewaltgauleiter die letzten bis dahin Unabkömmlichen und dann auch Jungen und Greise aufbot, um Erdwälle aufzuschaufeln als Schutz gegen die Panzer und Geschütze der Sowjetarmee. Nicht zu fassen, dass Gauleiter Koch an die Wirksamkeit dieser Wälle glaubte. In seinem letzten Fronturlaub hatte Rudolf, ihr Mann, einen Leiterwagen mit einem Dach versehen und ihn so eingerichtet, dass alle Kinder in Federbetten, dem wie sich herausstellte kostbarsten Besitz, warm sitzen und Leokadia warm liegen konnte. Denn Leokadia war krank, als sie losfuhren, war schon lange krank gewesen und wurde erst unterwegs während der zwei Monate dauernden Flucht langsam wieder gesund. Aber sie fuhr los, ob krank oder nicht, machte sich nach einigen Jahren der Rast wieder auf den Weg, ohne die Verwandten aus dem Nachbardorf, die zauderten und gehorsam auf die Order des Gauleiters warteten. Sie fuhr, als die Geschütze in der Ferne zu donnern begannen, den einen Tag eher los, der über Wegkommen oder Bleiben entschied. Ihre Verwandten fielen der einrückenden Armee in die Hände.
Ihr Mann blieb dort, wohin ihn der Volkssturm zuletzt, April 1945, noch geweht hatte, an der Samlandküste. Die Nummer des Soldatengrabes wurde Leokadia ins neue Zuhause geschickt zusammen mit den paar persönlichen Gegenständen, die von ihm geblieben waren: dem Wehrpass, den Familienfotos und einer Uhr mit zerbrochenem Glas. Auf den Fotos existiere ich nicht. In den letzten Kriegsmonaten, als es mich auch schon gab, wurde nicht mehr fotografiert.
Leokadia konnte den Soldatenfriedhof, wo man ihn neben vielen anderen eingegraben hatte, nie besuchen, unzugänglich lag er im russischen Sperrgebiet. Sie blieb im Westen, in dem Dorf, in dem die Flucht geendet hatte. Blieb auch, als heimreisende russische Kriegsarbeiter sie aus dem zerstörten Deutschland mit zurücknehmen wollten, als ihnen auffiel, wie fließend die kleine Frau russisch und ukrainisch sprach. Sie blieb, getrennt vom ukrainischen Land ihrer ersten Lebensjahre, dem kirgisischen ihrer späteren Kindheit und dem polnisch gewordenen ihrer Jugend, Witwe seit ihrem 38. Jahr, mit ihren Kindern in einem Dorf in Niedersachsen.
Für keins unter meinen Geschwistern, glaube ich, ist „die Mutti“, „unse Mutti“, so deutlich Leokadia geworden wie für mich. Alle meine Geschwister erlebten die frühen Kinderjahre im Osten, im Schoß einer großen Familie, die es zu einigem Ansehen und Wohlstand gebracht hatte, nicht im Barackenlager im Westen. Die Mutter, die meine Geschwister ins Leben begleitete, musste nicht von früh bis spät rackern, um die notwendigsten Lebensmittel zu verdienen. Während der ganzen Kindheit im „Wir“ der großen Geschwisterschar untergegangen, bin ich jetzt eine Einzelne. Wenigstens in dieser Geschichte ist „unse“ Mutti meine Mutter, ich muss nicht mehr teilen. Leokadias Geschichte ist ganz ihre und doch ein bestimmender Teil meiner eigenen. Nicht umsonst hat mein Gedächtnis viele Einzelheiten aus ihrem Leben so genau aufbewahrt, an die meine Geschwister, obwohl alle älter als ich, sich nicht erinnern. Vielleicht habe ich immer geahnt, dass ihre Geschichte für mich lebensnotwendiger Stoff ist. Stoff, um mich zurechtzuerzählen, um mir eine Bleibe zu schaffen in der Wüste der Welt, ein Zuhause.
Die Augen schließen. Der Stimme lauschen. Nicht immer sang sie, sie hatte auch viel zu erzählen.
„Weißt, mein Kind“, so begann meine Mutter oft. Wenn auch nicht auf dem Schoß, so hockte ich doch auf dem Fußbänkchen neben dem Spinnrad nah bei ihr. Wir waren beide eingehüllt vom Geruch des fettigen Schafwollebuschs auf der Spindel. „Das war ja die Ukraine. Da hatten ja meine Eltern einen Hof. Aber da waren auch noch andere Deutsche und noch sonst viele verschiedene Leute: Ukrainer und Russen und Polen und Kosaken und Juden. Das war ja ein ganz anderes Land als hier. Der Fluss war so breit, nicht wie die Delme, und da wuchs ja der Weizen, Felder, weiß, so weit wie du sehen konntest, und der Wind fuhr da immer so rein und machte Wellen und dazwischen waren auch Felder mit Mohn, lila und weiß und rosa.“
„Und im Sommer war es lange Monate warm. Da brauchtest du für Wochen keine Schuh. Aber im Winter, da musstest du aufpassen, dass dir die Nase und die Zehen nicht abfrieren. Einmal kam bei uns ein Nachbar über Land gegangen, und als er die Mütze abgesetzt hat, da fiel ihm ein Stück ab vom Ohr, da hatte er nicht richtig alles zugedeckt gehabt.“
Ihre Stimme, die dem Kind vom Kindheitsland erzählte.
Von den vielen Schlangen, die es dort gab und die tödlich bissen, erzählte sie immer wieder, weil ich schaudernd immer wieder davon hören wollte. „Na du weißt doch schon, dass sie ans Haus kamen, manchmal bis in die Küche. Und einmal, da hatte ich draußen so ein kleines Schüsselchen Milch wo hingestellt und stehen lassen, und als ich später wieder hinkam, hat eine Schlange draus getrunken. Die Schlangen lieben ja die Milch von den Kühen. Na, und da hab ich ja oft extra Milch auf ein Tellerchen getan und hingestellt, so bisschen versteckt, dass keiner es sah, und da kamen sie immer und haben getrunken und ich hab zugesehen und die haben mich angesehen mit ihre goldene Augen, ich glaub, die haben schon immer gewartet, dass ich was bring.“
Und dann hatte Leokadias Mutter, meine Großmutter mit den kastanienbraunherrlichen Haaren, die ich niemals gesehen habe - unsere Lebenszeiten überschnitten sich nicht, auch unsere Orte waren so weit entfernt, fern die Ukraine, noch ferner Sibirien - meine Großmutter Emilia entdeckte das Schlangenspiel eines Tages und sie verbot dem Kind, die Schlangen ans Haus zu locken, manche seien gefährlich, tödlich gefährlich, „und ich habs ja nicht mehr gemacht“, sagte Leokadia.
Das war nicht als Kritik an der Mutter Emilia gemeint. Im Gegenteil, wie leuchteten die blauen Augen auf, wenn Leokadia ihre Mutter erwähnte. Bis zum Ende blieb es ihr wichtig, ob Menschen schön waren, und wenn sie von ihrer Mutter erzählte, stand immer am Anfang: „Ach weißt, meine Mutter, die war ja eine große, schöne Frau, die hatte so rotbraune Haare, weißt, wie die frischen Kastanien. Und ihre Stimme! Die machte alle still, sie war ja selbst so still und lieb mit all den Kindern. Und sie war fromm. Sie hat ja gewusst, dass sie so früh sterben wird ...“
Leokadias volle Stimme wurde dünn, wenn sie darauf zu sprechen kam, und sie machte mir das Herz ebenso schwer, wie ihr eigenes wohl immer noch war.
Später, als ich groß genug war, erzählte Leokadia nicht nur vom Kindheitsparadies. Da saß ich neben meiner Mutter an den Weidenkörben und schälte mit ihr zusammen Birnen und Äpfel, die vom Herbstüberfluss der Bauernhöfe zu uns geschwemmt waren. Ich schälte mit Eifer und gern, zusammen zu arbeiten war Nähe, wenn auch meine Mutter viermal so flink war wie ich, die Schalenspirale kringelte sich von ihren schnellen Fingern bis in den Schoß. Während wir schälten und schnitten und Kerngehäuse entfernten, eingehüllt in die Wolke von Obstduft, erzählte sie auch das andere, ich wollte es wieder und wieder hören und bald entstand eine fest gefügte Erzählung in meinem Gedächtnis, die ich auch heute noch abrufen kann, wenn ich will. Manchmal wartet die Geschichte auch nicht auf mein Rufen, manchmal erzählt sie sich von selbst, aber immer ist es Leokadias dunkle, melodische Stimme, die spricht:
„Weißt, mein Kind, da war ich ja erst acht Jahre alt. Da hab ich so im Graben gesessen beim Haus, da war so weiches Gras, und dahinter war das Korn noch grün und es wehte so schön, den Wind hab ich so gerne gehört, und da kam ein Polizist in Uniform, das kannte ich gar nicht. Irgendwo war ja Krieg, davon haben wohl die Eltern mal gesprochen, aber bei uns war alles so wie immer, sie haben gearbeitet und wir Kinder haben gespielt und manchmal auch gearbeitet und ich hab ja jeden Tag nach den Schlangen gesehen. Und jetzt, was denkst du, jetzt sollten die Eltern auf einmal weg vom Hof. Drei Tage war Zeit, da konnten sie alles verkaufen, auch was einpacken, und dann sollten sie weg. Die dachten wohl, wir Deutsche wollten mit den deutschen Soldaten zusammengehen, wenn die in die Ukraine kommen.“
„Aber meinst, die haben uns drei Tage gelassen? Nach anderthalb Tagen kamen Kosaken auf Pferden und die hatten Nagaijkas und klatschten damit so gegen die Stiefel, na schnell, schnell, und der Vater konnte das Geld für seinen Hof nicht mehr abholen, die Eltern konnten nur das Wichtigste auf den Wagen laden, da war nicht viel Platz, da lagen schon viele Sachen von den Nachbarn, und wir alle Kinder kriegten noch was zu tragen aufgepackt. Das war erst leicht, aber später wollt ich’s am liebsten wegwerfen. Und so ging’s los: Gepäck auf dem Rücken und mit allen anderen Deutschen aus dem Dorf der Fuhre hinterher. Zu Fuß. Wohin, das wussten wir nicht.“
„Da sind wir viele Tage so gelaufen. Manchmal, da konnte man ja wo einen Pferdewagen mieten, da konnten wir ein Weilchen fahren, aber das mussten die Eltern selbst bezahlen und dann war es ja zu teuer. Da liefen wir.“
„Übernachtet haben wir da, wo wir gerade waren, das waren so provisorische Lager, keine Toiletten, kein richtiges Essen, keine Medizin, und dann das ungewohnte Wetter, vor allem, wo wir durch die Sümpfe mussten. Wenn wir wo in ein Dorf kamen, da jagten uns die Leute weg. Manche brachten uns auch was, aber in vielen Dörfern konnten wir nicht mal Wasser aus dem Brunnen schöpfen. Die hatten Angst, dass wir ihr Wasser verseuchen. Da wurden ja auch immer mehr Leute krank. Alle waren schwach vom vielen Laufen und wenig Essen. Da brachen Seuchen aus, Typhus, Diphtherie, Rote Ruhr, Malaria. Und meine Mutter war schwanger.“
„Als meine erste Schwester starb, da kamen so Leiterwagen und Männer packten erst die toten alten Leute auf und dann die Kinder. Der Vater ging mit, wollte sein Kind ja bis zum Grab begleiten. Nie wieder geht er mit, hat er gesagt, als er zurückkam, selbst wenn alle sterben. 'Da werden Fuder von Leuten auf einen Haufen geworfen'.“
„Dann starb das zweite Geschwister und dann wurde ich auch krank. Wenn die Träger kamen, um die Kranken irgendwo in die Isolierung wegzuholen, lief ich schon von Weitem und meine Eltern versteckten mich. Wer erst weg war, kam auch nicht wieder. Und wirklich, ich wurde wieder gesund.“
Von der Gewitternacht erzählte meine Mutter mir zum ersten Mal, als ich in der Pritsche hinter ihr an der Bretterwand der Baracke, unserem „Behelfsheim“, lag und ihr, wie sie es liebte, den Rücken rieb. Ob meine beiden Geschwister im zweiten Bett zuhörten, weiß ich nicht mehr. Ich kannte kein anderes als ein Behelfsheim, ich lernte kein anderes als das Nachkriegs-Behelfsleben kennen. Ich war das Muttikind, hätte mich am liebsten in sie hineingebohrt, war, wann immer es ging, in ihrer Nähe.
Die Gewitternacht. Wie von den Schlangen wollte ich davon immer wieder hören. Wiederholung, Wiederholung, möglichst wortwörtlich, ohne Variation. Wochenlang waren Leokadia und ihre Familie da schon unterwegs gewesen. Nachdem sie viele Tage zu Fuß marschiert waren, fuhren sie mit der Eisenbahn, kurze Strecken, lange Strecken, immer wieder unterbrochen von stundenlangem Warten auf die Weiterfahrt. Platzmangel, Hunger, Durst, ein Loch im Boden für die Notdurft. Viele Tote, die an den Bahnhöfen ausgeladen wurden. Mancher Waggon wurde irgendwo auf einem Abstellgleis vergessen. Später zog man die Toten heraus und karrte sie irgendwohin.
Dann ging es zu Wasser weiter. Auf einem offenen, schwarzen Schiff, das sonst Holz trans-portierte, fuhren sie die Wolga hinunter. „Seitdem bin ich nicht fürs Wasser“, sagte meine Mutter. „Wenn Leute gestorben sind, wurden sie einfach ins Wasser geworfen. Ich konnt’ nicht aufhören zu zittern, wenn sie da trieben.“
„Und dann machte das Schiff ja wo fest. Russen kamen ans Schiff, mit Ochsenkarren waren sie vorgefahren. Da stiegen wir auf, ein Kutscher sollte uns fahren, der wusste wohl, wohin.“
„Am Abend, da zog ein großes Gewitter auf, der Himmel war ganz schwarz. Da hielten wir an. Der Bauer schirrte die Ochsen aus und wir haben uns ein kleines Lager gebaut halb unter dem Karren, wir wollten das Gewitter abwarten. Da schlug auf einmal ein Blitz ganz nah neben dem Wagen in die Erde. Die Ochsen rannten wie verrückt ins Dunkle weg. Mein einer Bruder lag wie tot. Und der Regen schüttete auf uns runter. Der Vater und der russische Bauer liefen den Ochsen nach und wir andern krochen nah zusammen, nass und verfroren, wie wir waren. Und wir froren immer mehr. Aber die Männer kamen und kamen nicht zurück. O wie hatten wir da Angst. Und was hat wohl meine arme Mutter ausgehalten, der eine Sohn lag noch immer besinnungslos und die Kleinen haben geweint und gezittert. Die ganze Nacht haben wir auf dem Feld gelegen.“
„Der Vater und der Bauer kamen erst gegen Morgen zurück. Sie hatten die Ochsen in der Nacht schon bald eingefangen, aber im Dunkeln konnten sie unser Lager nicht wieder finden und mussten warten, bis es hell wurde. Aber jetzt war auch der besinnungslose Bruder wieder zu sich gekommen und wir konnten weiterfahren.“
„Dann kam endlich ein Dorf in Sicht. Der Russe und der Vater gingen zusammen in ein Haus, da wurden wir aufgenommen. Die Mutter trocknete alle Kleider, wir bekamen warmes Essen und wir durften da auch schlafen. Ich werd nie vergessen, wie gut die Russen waren.“
„Aber am nächsten Tag ging es wieder weiter. Wir waren noch nicht da, wo wir hinsollten.“
Wie die Orte hießen, durch die sie kamen und wohin sie denn eigentlich verschleppt wurden, war mir nicht wichtig. Aber meine älteren Brüder fragten immer wieder, wenn die Rede auf die Verschleppung kam, gerade danach. Ungeduldig, ungläubig, wie konnte man das Wichtigste nicht wissen? Wie konnte man auch mitten in den Wirren eines Landes herumreisen ohne zu wissen, dass es eine Revolution gegeben hatte. Aber die Zeit, wie unsere Mutter sie bestimmen konnte, hieß einfach Krieg und der Ort hieß Sibirien. Höchstens etwas genauer: Kirgisensteppe.
Irgendwann kamen sie an. Wo? Heute möchte auch ich es gerne wissen, hätte die Orte sicher längst aufgesucht, so wie ich auch nach Polen gereist bin. Aber ich weiß nicht, wo in den Weiten der Kirgisensteppe sie war. Weiß nur, dass sie dort, wo sie ankamen, leben konnten. „Einigermaßen“, so hatte Leokadia gesagt. Was ich mir darunter vorstellen soll, weiß ich nicht, ich habe nicht rechtzeitig nach mehr Einzelheiten gefragt. Ich weiß nur, weil auch das zu den fest gefügten Sätzen meiner Mutter gehörte, dass sie in guter Nachbarschaft zu den Russen und auch den Tartaren lebten. Der Vater fand gelegentlich Arbeit, so dass sie etwas zu essen hatten, und auch Leokadia machte sich nützlich, hütete Kinder und kroch im Winter mit ihnen auf die hoch gebauten Öfen der einheimischen russischen Familien. Da hatten sie es neben Großmutter und Großvater und den anderen Kindern warm und die Hühner gackerten unten im Zimmer. Sie bekam zu essen, es reichte fast immer, um satt zu sein.
„Das ging eine Zeit gut.“ Da war sie wieder, die Stimme meiner Mutter. An ihrer dünnen Klanglosigkeit hörte ich schon, was bevorstand. „Gerade war die kleine Elsa geboren“, das war das einzige Kind, das meine Mutter mit Namen aus der Geschwisterschar hervorhob, „da starb wieder ein Bruder. Und nicht lange danach merkte meine liebe Mutter, dass sie sterben wird. Sie hatte schon eine Zeit schwere Kopfschmerzen gehabt und wusste, was das bedeutete. Ihre Brüder waren auch an Kopfschmerzen gestorben. Da hat sie uns alle an ihr Bett gerufen. Die älteste Schwester und die beiden größeren Brüder, so sagte sie, die könnten sich ja schon selbst helfen und die kleine Elsa, die käme ihr ja bald nach. Und dann legte sie die Hand auf meinen Kopf und sagte: 'Aber wie wird es dir wohl gehen, mein liebes Kind?' Und sie hat mir ihre 'Wasserquelle' gegeben. Das war das Buch, aus dem sie jeden Morgen und Abend ein Gebet vorgelesen und dann ein Lied mit uns gesungen hat. 'Das behalt', hat sie gesagt, 'dann bin ich immer bei dir.' Und ich hab dieses Buch immer bei mir gehabt, nachdem sie gestorben war. Es war mein Trost. Auch wenn ich nicht lesen konnte, wir gingen ja in keine Schule, die Lieder konnte ich alle auswendig, ich hab immer in der 'Wasserquelle' geblättert und die Lieder gesungen, ich hab ja immer gerne gesungen.“
„Und wie meine Mutter gesagt hatte, so war’s auch. Die kleine Elsa starb bald nach ihr. Über ein Jahr lebten wir dann ja noch so weiter in der Kirgisensteppe. Und dann war der Krieg zu Ende, dann kam ja die Freiheit, wer da wollte, der konnte fahren nach seiner Heimat. Jeder musste selbst sehen, wie er das schaffte. Meine älteste Schwester hatte sich inzwischen verheiratet und so hat sich Vater mit uns wieder auf den Weg zurück gemacht, der Schwager kam auch mit.“
Rückwege sind nicht immer leichter als der Weg ins Unbekannte.
„Das Geld reichte nicht weit, dann sind wir tagelang zu Fuß gelaufen, wieder musste jeder auch noch was tragen. Einmal sollte ich am Morgen aufstehen, aber ich konnte keinen Fuß vor den anderen setzen. So mussten alle wegen mir zurückbleiben. Da haben mich die Großen unter die Arme genommen und mich stundenlang rumgeführt, bis endlich wieder Leben in meine Beine kam.“
„So ging es immer weiter. Aber nach paar Wochen machten wir alle für eine ganze Zeit halt. Es war Erntezeit und so gingen der Vater und mein älterer Bruder, der war ja schon siebzehn, und die Schwester und der Schwager in die Ernte arbeiten, um Geld zu verdienen für die Weiterreise. Zum Schlafen kamen sie nicht zurück. Mein Bruder und ich mussten alleine bleiben. Es war ja Sommer und wir hatten einen Unterschlupf gefunden in einem offenen Bretterschuppen. Da lag bisschen Stroh auf der Erde und ein Laken und eine Zudecke hatten wir auch.“
„Was haben wir da beide ausgehalten. Es verging nicht ein Tag, wo wir nicht geweint haben, weil wir so Heimweh nach unserer lieben Mutter hatten. Und nun waren auch noch der Vater und alle anderen weg. Mein Bruder war ja älter als ich, er hatte ja lesen gelernt, dann hat er’s so gemacht, wie’s zu Hause gewesen war: Er hat jeden Abend und jeden Morgen aus der 'Wasserquelle' gelesen und dann haben wir zusammen gesungen.“
„Und am Sonntag kamen Vater und alle nach Hause. Er brachte Brot mit und auch Krapfen. Das war eine Freude, da waren wir nicht mehr allein und konnten uns wieder einmal satt essen.“
„Aber mein Bruder, der mit in der Ernte gearbeitet hatte, der sah so elend aus. Er wollt auch nicht essen und sagte so im Spaß: 'Montag bin ich krank, dann brauch ich nicht mit zur Arbeit.' Vater wollte nichts davon wissen. 'Ich werd dir helfen krank sein', sagte er. Am Morgen, als sie wieder zur Arbeit aufbrechen wollten, konnte der Bruder fast nicht aufstehen. Aber der Vater bestand darauf, mein Bruder musste mitgehen. Es dauerte aber nicht lange, da brachte Vater ihn wieder zurück, er konnte wirklich nicht. Vater ging allein wieder los.“
„Was wir da ausgehalten haben, das weiß nur Gott allein.
Mein Bruder bekam hohes Fieber und große Schmerzen. Er musste auf der Erde im offenen Schuppen liegen. Das Laken, das über das Stroh gedeckt war, war sehr grob und er hat sich immer so darauf herumgewälzt. Er hat immer nach Singen und Lesen verlangt, dann war er ein Weilchen ruhig. Wir taten das auch zu jeder Zeit. Was anderes konnten wir ihm ja nicht tun. Nachts haben wir uns ja neben ihn ins Stroh gelegt, weil sonst kein Platz war.“
„Nach ein paar Tagen kamen die Pocken. Es war nicht eine Stelle auf seinem Körper, wo nicht eine Blase war. Zuletzt hat sich die ganze Haut zusammengezogen und er lag auf dem nackten Fleisch. Sehen konnte er auch nicht mehr. Und dann so ohne Hilfe. Aber er behielt seine Gedanken bis zuletzt. Er hat noch eine Stunde vor seinem Tode gebetet: 'Christi Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid, damit will ich vor Gott bestehn, wenn ich zum Himmel wer eingehn. Amen.' Vater war zum Glück gerade nach Hause gekommen, wir haben alle bei ihm gesessen und haben geweint. Aber der Bruder schlief ganz friedlich ein.“
„Mein anderer Bruder und ich bekamen auch die Schwarzen Pocken, aber nicht so schlimm, ich noch weniger als mein Bruder. Wir blieben beide am Leben.“
„Nun, damit war die Not noch nicht zu Ende. Nach ein paar Wochen ging die Reise weiter, aber dann brach die Typhuskrankheit aus. Einer nach dem anderen von meiner Familie wurde in eine Krankenstation irgendwo weggebracht, so dass ich allein blieb.“
„Vorrat zum Essen war nicht da. Ich musste jeden Tag sehen, wo ich etwas bekam. Wenn wo Leute gegessen haben, blieb ich stehen und schaute zu. Oft waren da welche, die Mitleid hatten und mir etwas von ihrem Essen abgaben, aber oft musste ich auch hören: 'Geh weg, was lauerst du hier, wir haben selbst nichts!'“
„Ich weiß noch so wie heute, ich hatte großen Hunger und von niemand bekam ich was, da ging ich hinaus unter den freien Himmel und habe zu Gott gebetet: 'O Gott, erbarm dich meiner!', und dann ging ich bis zum Markt. Da kam ein Soldat auf mich zu und fragte mich so aus, wo mein Vater und meine Mutter sind. Ich sagte ihm dann mein Leid. Und da schenkte er mir drei Rubel. Da brauchte ich doch paar Tage nicht zu hungern.“
„Aber eines Morgens wollte ich wieder aufstehen, da fiel ich um, und als ich wieder zu mir kam, da lag ich in einem Krankenhaus und sogar dicht mit meinem Bruder zusammen. Das war eine Freude für uns.“
„Als wieder alle gesund waren, ging die Reise weiter bis nach Saratow. Das ist an der Wolga. Und da sind wir auseinander gekommen. Ich weiß wirklich nicht, wie es kam. Wir haben gesucht und gesucht, meine Schwester und mein Schwager sind auch die halbe Nacht noch unterwegs gewesen. Aber da waren so viele Leute in der Stadt, die sind ja herumgezogen so wie wir, und viele Soldaten waren auch dazwischen, aber wir haben meinen Bruder und Vater nicht gefunden.“
„Ich bin dann bei meiner Schwester geblieben, bis wir wieder in unserer Heimat waren. Aber bei dem ganzen Hin und Her in Saratow habe ich meine 'Wasserquelle' verloren, das Buch war doch von meiner Mutter, das wollte ich mein ganzes Leben lang behalten. O was habe ich da geweint, es war, als ob ich jeden Boden unter meinen Füßen verloren hatte. Ich kannte ja keine anderen Bücher, auch nicht die Bibel, und konnte auch in keinem anderen Buch lesen. Die 'Wasserquelle' kannte ich auswendig. Ich habe mich oft so verlassen gefühlt, dass ich mir den Tod gewünscht habe. Aber es geht nicht immer nach unserem Willen und Wünschen. Gott hatte noch etwas anderes mit mir vor, denn seine Wege sind nicht unsere Wege und seine Gedanken sind nicht unsere Gedanken.“
Später, als verheiratete Frau, fand Leokadia mit Hilfe des Roten Kreuzes ihren Vater wieder. Nicht mehr ihren letzten Bruder, er war noch in Russland gestorben. Der Vater war nach Argentinien ausgewandert und lebte in der Nähe von Buenos Aires in noch einmal erarbeitetem, wenn auch wohl eher bescheidenem Wohlstand. Er hatte ein zweites Mal geheiratet, in dieser zweiten Ehe gab es auch eine Tochter, die aber schon als junges Mädchen starb. So hatte es in der Fremde eine neue Mutter für Leokadia gegeben. Aber auch sie starben, als ich Kind war, ohne dass Leokadia ihren Vater wiedergesehen und die Stiefmutter kennen gelernt hätte. Ein Foto kam, auf dem Frauen in schwarzen Kopftüchern und Männer mit großen Schnurrbärten ebenso steif hinter dem offenen Sarg standen, wie der Tote in ihm lag. Starr blickten sie aus dem Bild. Das war der Tod des Vaters. Einer von so vielen Toden, so vielen Toden in Leokadias Leben.
Aber sie, Leokadia, lebte und war mit ihrer ältesten Schwester nach Wolhynien zurückgekehrt.
„Na ja, in unserer Heimat war es nicht viel besser als in Sibirien. Auf meine Eltern ihrem Hof saßen Polen und vom Schwager seiner Seite war es genauso. Da durften wir nicht einmal übernachten. Aber über den Winter durften wir bei einer russischen Familie aus dem Dorf wohnen. Die hatten auch nur ein Zimmer, da haben wir auf dem Fußboden geschlafen.“
„Es war zwei Wochen vor Weihnachten, da kam die Frau nach Hause und erzählte, dass ein Mann aus Ostpreußen gekommen ist, der sucht ein Mädchen für den Haushalt und einen kleinen Jungen oder ein kleines Mädchen zum Kühehüten für seinen Hof in Ostpreußen.“
„Da bin ich gleich hingegangen. Der Mann sah mich immer wieder an, aber dann sagte er: 'Ja, ich nehm dich mit.'“
„Ich muss doch schrecklich ausgesehen haben. Die Haare waren ganz kurz geschoren von der Typhuskrankheit und mein ganzer Körper war voll Wasser, besonders der Bauch stand dick vor. Und wie ich angezogen war, das kann ich dir gar nicht beschreiben: Ein paar Schuhe hatte ich ja geschenkt bekommen, aber die behielt meine Schwester und gab mir solche, die viel zu groß waren. Außerdem hatte ich noch ein altes Jackett von meinem Vater und sonst nicht viel anderes als Lumpen.“
„So bin ich am nächsten Tag mitgefahren, es waren siebenhundert Kilometer von uns weg. So bin ich nach Ostpreußen gekommen.“
„Wie es mir zu Mute war, als wir da ankamen, das kann ich dir nicht beschreiben. Das andere Mädchen, das auch mitfuhr, war schon über zwanzig, sah gut aus und war auch gut angezogen und die Leute im Haus alle genauso. Alles war sauber und schön eingerichtet, auf den Sessellehnen im Wohnzimmer lagen sogar Spitzendeckchen. Es gab gutes Essen, jeden Tag Fleisch und Soße, aber mir tat davon der Bauch weh. Die ersten Tage war ich so ängstlich, ich mochte mich nicht bewegen. Die ganzen Jahre war ich doch nur zwischen solchen armen Leuten wie wir selber gewesen. Ich kannte auch keine Spiegel, so wusste ich auch gar nicht, wie ich aussah. Ich war ja schon dreizehn Jahre alt, im vierzehnten. Ich merkte es doch genau, dass ich da nicht reinpasste und dass mich alle so übrig und von der Seite ansahen.“
„Einmal war ich draußen und als ich ins Flur kam, hörte ich, dass von mir die Rede war. Ich blieb eine Weile stehen. Die Frau sagte: 'Warum hast du solch ein Kind mitgebracht, was soll ich damit anfangen?' Die Frau war ja jung und unerfahren. Da fragte der Mann: 'Das weißt du nicht, was du mit dem Kind anfangen sollst?' Das war auch kein Wunder, sie kam aus einer reichen Familie. Aber der Mann hatte auch schon Not mitgemacht. 'Jedenfalls wirst du dich ab heute um das Kind kümmern. Es steht doch geschrieben: Was ihr einem der Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan.'“
„Als ich das mit angehört hatte, bin ich in die Scheune gegangen und habe auf der Erde geweint. Nun war ich von der Schwester so weit weg und so alleine in der Fremde. Schreiben konnte ich nicht, wie es mir geht. So habe ich nur Gott gebeten, dass er mich zu sich nehmen soll, zu meiner Mutter und den Geschwistern. Aber der Tod kam auch da nicht.“
„Als ich dann in die Küche kam, da sahen wohl alle, dass ich sehr geweint hatte. Und dann kam die Frau zu mir, umarmte mich und sagte, ich soll doch nicht weinen, sie will mir eine Mutter sein. Da weinte ich noch viel mehr. Die Frau sagte mir dann später, dass Gott zu ihr geredet hatte, sie waren ja Gläubige und gehörten zur Pfingstgemeinde.“
Und ich bin bis heute froh über diesen Mann und lasse einmal das Machtwort, das ein Mann gegen seine Frau sprach, liebend gern gelten.
„Von der Stunde an war es anders. Die Bäuerin gab mir jetzt Essen, das ich vertragen habe. Sie ging zu ihrer Mutter, denn sie hatte noch eine jüngere Schwester, die war genauso alt wie ich, aber kein Vergleich zu mir, viel größer und schöner. Später wurde sie meine liebste Freundin. Von da brachte die Bäuerin viele Sachen mit, die ihrer Schwester zu klein waren. Aber ich sah vor Weihnachten nichts davon. Dann machte sie mir einen festen Gürtel aus Leinwand, da verschwand auch mein dicker Bauch, weil das Essen doch gut war, und ich hab’s ja jetzt auch vertragen.“
„Und am Heiligen Abend, da kam die große Überraschung, da wurden mir die alten Lumpen ausgezogen und ich wurde gebadet, was ich gar nicht kannte. Die Bäuerin und der Bauer hatten ein ganz neues Kleid und ganz neue Schuhe für mich gekauft und dann durfte ich den gleichen Abend mit zur Weihnachtsfeier in der Gemeinde. O die Freude kann ich dir nicht beschreiben. Wie ich mich gefühlt habe. Ich konnte es gar nicht glauben, dass ich das war.“
Leokadia war in einen sicheren Hafen gelangt. Immer, wenn wir in der Baracke meiner Kindheit abends um den Tisch saßen und sangen „Die Wellen kommen näher, mein Schifflein ist in Not“, dachte ich an das, was meine Mutter aus ihrem Leben erzählt hatte. Das Lied wurde mein tief gehätscheltes Lieblingslied.
Bei der Weihnachtsfeier in der Gemeinde sah mein Vater Leokadia zum ersten Mal und beschloss auf der Stelle, sie später zu heiraten. Er war fast sechzehn Jahre alt. Liebe auf den ersten Blick setzte sich in der frommen Gemeinde, in der sie lebten, sofort in Heiratsabsicht um – aber solch kritische Gedanken kamen mir erst später.
Leokadia war durch Sturm und Wellen in einen Hafen gelangt, so sicher, wie ein Hafen im zwanzigsten Jahrhundert sein konnte.
Ich hätte es am liebsten, wenn Leokadias Geschichte hier endete. Im sicheren Hafen. Rosig blühten Wolken am Himmel der nahen Zukunft. Aber ihre Geschichte endete nicht. Sie erlaubte nur ein Atemholen.