Читать книгу Barackenkind - Edith Dühl - Страница 8
3
ОглавлениеIn einer Nacht im April, ein Jahr später, erschien ihr Mann ihr im Traum. Seitdem wusste sie, dass Rudolf tot war. Sie widerstand der Versuchung, ihn von einer spiritistischen Nachbarin herbeirufen zu lassen. Die Nachbarin besaß das Siebte Buch Moses, sie besprach Warzen, erkannte Verwünschungen und wagte sich mit Hilfe der Anleitungen des Buches auch ins Totenreich. Zu gerne hätte Leokadia ihren Mann gefragt, was sie nun machen sollte, hier im fremden Land, wo alle Deutsch sprachen, wo sie aber unwillkommener war als in Sibirien. „Weißt, die reichen Bauern hier denken nur an sich, so ist es, wenn man selbst noch keine Not erlebt hat“, sagte sie oft. Sie kannte das Muster aus ihrer Jugend.
Sie fing noch einmal ganz von vorn an, allein. Arbeit, Arbeit bis zum Umfallen beim Roden der verwüsteten Wälder, auf den Feldern der Bauern für Milch und Brot und Kartoffeln. Die Phantasie, ins Wasser zu gehen, peinigte sie, der Fluss war nicht weit entfernt. Den Anblick der in der Wolga treibenden Toten trug sie seit der Kindheit tief in sich, jetzt wurde er zum Bild für den gewünschten eigenen Tod. Es endlich untergehen lassen, das bedrängte Schiff. Sie bekam für sich und die Kinder Räume in einem Barackenlager, wo sie wieder alle zusammen wohnen konnten. Dort gab es Gemeinschaft mit anderen Flüchtlingen, fast jeden Abend saß Leokadias Küche voll, es wurde geredet und geredet. Die Schrecken der Kriegsjahre formten sich durch Wiederholung, Wiederholung und noch mal Wiederholung zu einer Gestalt, die sich dem Inneren irgendwann glatter einfügte, nicht mehr so kratzte und schmerzte. Sie steht bis heute für mich, die Zuhörerin, zur Erinnerung bereit.
In der Baracke begann Leokadia auch wieder zu singen.
Sie schickte ihre Kinder in die Schule. Zu lernen, viel und gut zu lernen, war wichtig. Das war auch Rudolfs Wunsch gewesen, alle Kinder sollten viel lernen. Leokadia führte jetzt seine Pläne aus, so gut es ging, suchte Lehrstellen für die älteren Kinder, das war schwer in den übervölkerten Dörfern. Später schickte Gott Hilfe in Gestalt des Chefs ihres dritten Sohnes. Nie verstand Leokadia das anders, auch wenn der großzügige Helfer ihr erklärte, dass sie ihn an seine eigene Mutter und deren Not im ersten Weltkrieg erinnerte. Das Geld, das er gab, und später die bessere Rente und der Verdienst der Älteren machten es möglich, Schulgeld und Fahrkarten für das Gymnasium aufzubringen. Der jüngste von meinen Brüdern und ich fuhren jeden Tag mit dem Zug in die Stadt zur Schule. Alle meine Geschwister waren in ihren Schulklassen als gute Schüler aufgefallen, allen wäre eine höhere Schule leicht gefallen und Rudolf hätte es für alle gewollt, aber es war nicht möglich so kurz nach dem Krieg.
Später zog Leokadia in die Stadt, um den jüngeren Kindern den Schulbesuch und den älteren die berufliche Fortbildung zu erleichtern, auch bessere Arbeit ließ sich dort finden. Wieder war es der Chef ihres Sohnes, der ihr ein graues Häuschen zu einer spottbilligen Miete überließ. An eine weitläufige Lagerhalle war es gequetscht, nah am Hafen. Auf Schienen knapp drei Meter vor dem Haus kreischte die Straßenbahn vorüber. Der Wind, ein Dauergast in der langen Straße, verquirlte den Geruch von Brackwasser, dem der nahe gelegenen Kaffee-Großrösterei und der Getreidemühle, die offenbar an manchen Tagen auch Fischmehl verarbeitete. Dann dosierte Leokadia den Atem, wenn sie zum Einkaufen ging, es war ein ziemlicher Weg aus dem Gewerbegebiet bis zum nächsten Bäcker. Und ich hielt mir auf dem Morgenweg zur Schule die Nase zu.
In den folgenden Jahren beobachtete meine Mutter stolz, wie tüchtig ihre Kinder waren, wie sie es zu etwas brachten — zu angesehenen Schulabschlüssen und Berufen und zu Familien, die älteren auch zu eigenen Häusern, Häusern im Grünen, nicht zwischen Fabrikhallen, Häuser aus gelbem Klinker, mit gemütlichem Walmdach. Sie freute sich, half in der Bauphase, so viel sie konnte, kochte Essen, beaufsichtigte die Enkel. Wenn man sie gelassen hätte, wäre sie selbst in die Grube gestiegen und hätte beim Ausschachten geholfen oder beim Gießen des Fundaments. Und erfuhr dann die Entfremdung von ihren verheirateten Kindern. Schwiegertöchter reagierten verärgert, wenn sie die altsilberne Gebäckzange nicht handhaben konnte, es gab Empfindlichkeiten, wenn sie einen Besuch nicht anmeldete, sondern einfach vorbeikam, so wie es in allen Ländern und Lebenslagen bisher richtig gewesen war. Das Unbehagen wuchs, wenn sie sich bei Tisch tief über ihren Teller beugte, wenn sie den Tee schlürfte. Und es war bei allem guten Willen wirklich manchmal nicht einfach, sie um sich zu haben, etwa wenn sie für ein paar Tage zu Besuch war und sich in übergroßer Bescheidenheit nicht satt aß und ich sie dann nachts fand, wie sie im Mülleimer nach etwas Essbarem suchte.
Aber am meisten schmerzte Leokadia, dass keins ihrer Kinder ihren Glauben angenommen hatte, keins sich der Pfingstgemeinde angeschlossen hatte, die sie in der großen Stadt entdeckt und die für sie wieder, wie in der Jugend, zur zweiten Heimat geworden war. Als junges Mädchen begleitete ich sie eine Zeitlang dorthin, bekehrte mich auch und ließ mich taufen, aber dann ging ich, wie meine Geschwister, auch andere Wege. Wie hätte ich es dort, wo nur der offenbarte christliche Glaube und der Buchstabe der Bibel zählte, aushalten können, gerade wenn ich um Wahrhaftigkeit bemüht war? Wo eigenes Denken und alles Abmühen mit Fragen von Wahrheit und Moral nicht zählte. Ich studierte in weit entfernten Städten und heiratete schließlich einen „Ungläubigen“. Dass Leokadia allein zum Gottesdienst in die Gemeinde fahren musste, dass sie ihre Kinder nicht dem Herrn und, ebenso wichtig, stolz den „Geschwistern“ der Gemeinde zuführen konnte, war eine nie versiegende Quelle von Schmerz in ihrem Alter. Eifernde Prediger, die ihr das Gefühl gaben, am Unglauben ihrer Kinder schuld zu sein, hielten die Wunde offen.
Ich war es, die Leokadia die tiefsten Schmerzen zufügte. An meine Bekehrung hatte sich ihre Hoffnung geklammert. Dass ich die Gemeinde verließ, als ich zum Studium in eine andere Stadt zog, dass ich nicht neben ihr an einem der Stühle rund um den Wohnzimmertisch niederknien und mit ihr beten wollte, wenn ich zu Besuch kam, war für meine Mutter kaum zu ertragen. War für uns beide kaum zu ertragen.
Eins nach dem andern verließen ihre sieben Kinder sie. Leokadia blieb zuletzt ganz allein in dem kleinen, grauen Haus in der Fabrikstraße zurück, ohne Nachbarn, die abends bei ihr hineingeschaut hätten, ohne Verwandte oder Bekannte in der Nähe, die sie hätte besuchen können. Nur die Liederbücher waren ihr geblieben.
Allein, ruhelos, oft schwermütig verbrachte sie die Tage. Sie magerte ab. Die Furcht, dass sie trotz aller Bemühungen, ein gottesfürchtiges Leben zu führen, Böses getan haben könnte, begann sie zu quälen. Jede kleinste Sünde, jedes unnütze Wort, das sie irgendwann gesprochen hatte, verfolgte sie. Sie bat alle und jeden um Verzeihung, fuhr an einem Sonntag dreißig Kilometer mit dem Bus in das Dorf, in dem sie nach der Flucht gelebt hatte, und bat die Bauern, bei denen sie in der Heu-, der Getreide- und der Kartoffelernte gearbeitet hatte, um Vergebung dafür, dass sie sich damals einige Male Kartoffeln und anderes Gemüse in die Jacke gesteckt hatte, um ihren Kindern am nächsten Mittag etwas kochen zu können. Sie gestand auch den nächtlichen Diebszug, an dem sie einmal teilgenommen hatte.
Großmütig und gerührt wurde ihr überall Verzeihung gewährt. Aber diese Bußgänge und die Verzeihung, die niemanden etwas kostete, erleichterten ihr Herz nicht und auch nicht die vielen Gebete, in denen sie den Vater im Himmel um die Errettung ihrer Kinder anflehte. Immer sündiger fühlte sie sich, immer schwermütiger verbrachte sie die vielen stillen Abende, die leeren Tage ohne die Kinder, ohne die viele Arbeit, an die sie gewöhnt war und die nun nicht mehr notwendig war. Sie ging und half, wo man sie helfen lassen wollte, besuchte Alte und Kranke der Gemeinde, half beim Putzen der nahegelegenen Büros, fegte ungefragt die Fußwege und offen stehende Garagen in der weiteren Umgebung, aber aus ihrer Verzagtheit fand sie nur für Stunden heraus.
Wir Kinder konnten ihr dabei nicht helfen. So jedenfalls sahen wir das damals. Meist verbarg sie ihren Schmerz vor uns, weil sie uns keine Vorwürfe machen wollte. Mir, ihrer Jüngsten, die weit weg studierte, schüttete sie, wenn ich zu Besuch kam, das Herz aus. Ich kannte ja die Gemeinde. Leokadia wusste, dass ich ihr Leiden mitfühlen würde, es zumindest verstehen konnte. Umso schlimmer, dass ich trotzdem nicht mit ihr beten wollte. Alle ihre Kinder hatten sie lieb, auch wenn sie ein fremdes Leben führten und Leokadia nicht in ihren Freundeskreis passte. Wir sorgten uns um sie, besuchten sie, holten sie für ein Wochenende zu uns. Dort wollte sie die Harmonie nicht stören, also schwieg sie.
In ihrer Not begann sie, so gut sie konnte, aufzuschreiben, was sie quälte. Nach ihrem Tod fanden sich ein Heft und viele Zettel in ihrer mühsamen, fehlerhaften, altdeutschen Handschrift, ich nahm sie an mich und so kann ich mir — und so muss ich mir wieder und wieder — vorstellen, wie wüsteneinsam meine Mutter in ihrer menschenfernen Wohnung ausharrte. Bei niemandem war sie zu Hause. Wie oft habe ich die Zettel gelesen, heulend vor Erbarmen, in dem schneidenden Wissen, dass dieses Erbarmen zu spät kam, heulend wegen meiner Versäumnisse. Aber ich habe auch immer wieder gestaunt, dass meine Mutter sich von ihrer ungeschickten Hand, der Unsicherheit, wie die Wörter korrekt zu schreiben waren, nicht abhalten ließ aufzuschreiben, wie ihr zu Mute war.
An einem 18. April schrieb sie: „In der Nacht wurde ich sehr krank. Als ich schlafen ging, betete ich: Wenn dies meine letzte Nacht sein sollte, dann befehle ich mich in Gottes Hände und dass ich zu meiner Heimat kommen möchte, die der Vater im Himmel für mich bereitet hat. Als ich einschlief, da träumte ich, als ob der Tod zu mir käme und dann dachte ich an alle meine lieben Kinder. Weil es keines wusste, dass ich diese Erde verlassen musste, nahm ich einen Zettel und schrieb meine Nöte auf, weil ich mir die Schuld gab, dass ich ihnen zu wenig vom Heiland erzählt habe. Und ich schrieb: Wenn ich einmal plötzlich sollte von euch genommen werden, das wäre meine größte Freude, euch alle in der himmlischen Heimat zu treffen.“
Nein, da war niemand, der ihre Ischiasschmerzen bemerkte, der ihren Kummer bemerkte, dem sie sagen konnte, auch wenn es zum dreißigsten Mal das gleiche wäre, was sie bedrückte, niemand, der ihr wenigstens einmal über die abgemagerten Hände strich, wenn schon nicht den juckenden Rücken rieb, dazu waren wir Kinder alle zu erwachsen geworden. Kein Kind mehr auf ihrem Schoß. Kinder gehen ihre eigenen Wege. Kinder lösen sich ab. So muss es sein? Berührungen über die Hände hinaus gab es nicht mehr.
Auf einem der Zettel beschrieb sie die Wende in ihrem Befinden:
„An einem Abend war ich besonders schwermütig und konnte nicht einschlafen. Ich war so verzagt mit mir und fing an zu beten, dass der Heiland sich doch erbarmen soll und mir die Gewissheit schenken, dass er mir mein Zukurzkommen und meine Sünden nicht mehr anrechnet. Ich war so verzweifelt, dass ich Gott gebeten habe, mir noch in dieser Nacht die Gewissheit zu schenken, dass er mir vergeben hat. Denn ich konnte so nicht mehr weiterleben. Dann schlief ich ein.
Ich bekam dann einen Traum:
Ich wollte nach Argentinien auswandern zu meinem Vater und habe meine Koffer gepackt und mich für die Reise fertig gemacht. Ich hatte sehr, sehr schwer zu tragen, auf dem Rücken eine schwere Last und in jeder Hand einen Koffer. So ging ich los. Als ich am Meer ankam, wartete das Schiff ein Stück vom Ufer weg auf dem Wasser und es war ein Brett gelegt vom Ufer bis an das Schiff. Das Brett war sehr schmal. Ich sah schon Leute auf dem Schiff sitzen und einen Mann sah ich ganz vorn, der seine Hände ausgestreckt hielt, und so bin ich auf das Brett gestiegen. Und als ich beinah beim Schiff war, bewegte sich das Brett und mir fiel die Last vom Rücken und aus den Händen und ich sah, wie das Wasser über meinen Koffern zusammenschlug. Und der Mann ergriff meine Hand und zog mich ins Schiff und ich hörte eine Stimme sagen: 'Das sind deine Sünden, versenkt im Meer, wo es am tiefsten ist.'
Dann wurde ich wach. O wie mir’s zumute war, ich fühlte mich wie von Neuem geboren. Keine Sünde stand mir mehr vor Augen und ich war froh und glücklich.“
Aber wenn danach der Schmerz auch gemildert war, es blieb die Einsamkeit in dem kleinen Haus zwischen den grauen Lagerhallen, wo nach Feierabend nur noch ein Nachtwächter mit seinem Schäferhund patrouillierte, das kleine graue Haus mit den verlassenen Zimmern, den vielen Stühlen, die jetzt so selten besetzt waren.
Als die Stille und Leere sie zu sehr bedrängte, nahm meine älteste Schwester sie, nachdem in ihrem Haus die kleine Wohnung im Erdgeschoss frei geworden war, zu sich. Als das große Altersvergessen bei Leokadia einsetzte, wurde ihre älteste Tochter geduldig ihre Pflegerin.
Wie es Leokadia anfangs beschämte, dass sie vergesslich wurde, die Geburtstage ihrer Kinder vergaß und dann auch ihre Namen! Sie vergaß auch, wo sie ihr Geld hingelegt hatte, so dass die großherzige Leokadia mit den offenen Händen plötzlich misstrauisch wurde, die Enkelkinder beschuldigte, sie bestohlen zu haben. Wie geizig sie für sich selbst wurde! Möglichst viel von ihrer monatlichen Rente sparte sie zusammen, um es dann, wenn ein ansehnlicher Betrag beieinander war, einem ihrer Kinder zu schenken. Selbst am Essen sparte sie, kochte eine dünne Suppe, die für viele Tage reichte, und vergaß dann, wie lange Essen stehen bleiben durfte, ohne dass es verdarb.
Aber allmählich vergaß sie auch ihren Schmerz. Sie konnte nicht mehr sprechen, also auch nicht mehr beten, sie schien nicht mehr zu leiden. Aber wusste man es? Als ich in den Ferien meine Schwester vertrat, damit sie einmal im Jahr ein paar Tage verreisen konnte, saß meine kleine, schmal und gebrechlich gewordene Mutter neben mir auf dem Sofa. Der runde Kopf von dünnen Strähnen, die noch immer mehr braun als weiß waren, knapp bedeckt. Abgeschnitten hatte sie ihren langen Zopf, das war ein Schock gewesen. Die weiche, hängende Haut. Fasste ich sie am Arm, war es, als hielte ich mit Flaum umkleideten Knochen. Aber dann sah sie mich irgendwann sehr genau von der Seite an und ich war plötzlich ganz sicher, dass meine Mutter wie früher prüfte, ob ich, ihre jüngste Tochter, noch schön aussah. Wie wichtig es ihr immer gewesen war, dass sie schöne Kinder hatte! Und ich vergaß für eine Weile die lange Reihe der dahinter stehenden schmerzhaften Augenblicke, in denen ich mich verurteilt gefühlt hatte. Es gab Zeiten, da hatte sie mir laut und deutlich gesagt, dass ich kein schönes Kind war, alle ihre anderen Kinder seien schön, nur ich nicht. Erst als ich mit zwölf in einem Jahr dreizehn Zentimeter wuchs, wurde ich in ihren Augen auch hübsch. Unter ihrem prüfenden Blick wurde ich wieder das Kind. Auch wenn es eine Prüfung war, so zeigte sie doch: Meine Mutter war wieder, war noch immer da, irgendwo in der stummen Hülle war ihr Geist noch anwesend.
Oder sie legte plötzlich ihre Hand auf meine und lachte mich von der Seite an. Dann schossen mir Tränen in die Augen und ich konnte fast nicht schlucken, weil der alte Schmerz so unerwartet angerührt wurde — wie selten hatte sie mich gestreichelt, gewiegt, geküsst — aber auch, weil ich hilflos vor dem verschlossenen Geist meiner Mutter stand. Ausgeschlossen. Ich wollte so gerne mit ihr sprechen und sprach auch zu ihr, aber kein Satz erreichte sie mehr, oder wenn er sie vielleicht auch erreichte, ich konnte keine Resonanz spüren, es kam keine Antwort. Ich musste auf das warten, was von ihr kam. Ein gesprochener Satz kam nie mehr. Geschweige denn, dass sie die Strophe eines Liedes gesungen hätte.
So schwach saß sie abends auf dem Bettrand, konnte kaum noch die Beine anheben, fand beim Ausziehen allein nur aus einem Ärmel.
Angst hatte ich um sie, wenn sie allein steifbeinig die Treppe aus der Wohnung meiner Schwester in ihre Erdgeschosszimmer hinunter stieg, nachts war sie schon öfter gestürzt. Aber zu viel Hilfe nahm sie nicht an. Zornröte konnte ihr plötzlich ins Gesicht schießen, wenn ich sie stützen wollte oder sogar gegen die gewohnte Ordnung über sie verfügen, sie etwa zu einem Sessel führen, in dem sie nicht zu sitzen gewohnt war oder das Essen zu einer Zeit auf den Tisch stellte, die nicht die gewohnte war. Dann blitzten die Augen, sie waren immer noch blau, das vergaß sich sonst fast schon. Milchig blau zuletzt wie Kornblumen am Ende des Sommers.
Stumm saß ich neben ihr. Das war schwer. Das hatte ich noch mit niemandem geübt. In Leokadias Familie erzählte man sich etwas, wenn man zusammen saß, auch mit meinen Geschwistern gelang das noch immer leicht und ist bis heute selbstverständlich. Und in meiner eigenen Familie lag und liegt jederzeit ein Buch bereit für die Stunden, in denen man nicht in rege Unterhaltung verwickelt ist. Neben Leokadia griff ich nach keinem Buch. Wusste meine Mutter noch, dass ich ihr Kind war? Es musste reichen, dass sie zutraulich neben mir saß, dass ich für sie ein vertrauter Mensch geblieben war. Im Frühling war mein Bruder aus Spanien gekommen, um sie eine Woche zu betreuen und, wie ich im Sommer, unserer ältesten Schwester etwas Luft zu verschaffen. Leokadia wollte ihn ängstlich wegschicken. Sie erkannte ihn nicht mehr, er war in den letzten Jahren zu selten bei ihr gewesen. Vorsichtig hatte er sie daran gewöhnen müssen, dass sie dem „Fremden“ gestattete, für sie zu sorgen. Ruhelos war sie durch die Zimmer gewandert, hatte immer wieder am Fenster gestanden und auf die älteste Tochter gewartet. Ich wollte mit allen Sinnen wach neben ihr sitzen, solange ich ihr noch vertraut war.
Das Glück, das ich erlebte, als ich einmal morgens in ihre Küche kam, um sie zum Frühstück zu rufen! Sie saß im Nachthemd am Tisch und blätterte in den alten Gesangsbüchern. Das Kopftuch tief in die Stirn gezogen, mit östlichen Klappfalten, wie man sie hierzulande nicht trägt, saß sie am Tisch und blätterte und blätterte, schnell, schnell, manche Ecke der mürben Buchseiten riss. Manchmal hielt sie an, bewegte die Lippen, aber kein Ton kam aus ihrem Mund, nicht einmal ein Flüstern. Als habe sie nur noch eine vage Erinnerung an das Singen. Sie war verloren, ihre Stimme, einfach verschwunden.
Ich setzte mich neben sie und begann zu singen
„Weil ich Jesu Schäflein bin,
freu ich mich nun immerhin
über deine gute Weide,
dass ich keinen Hunger leide,
und sobald ich durstig bin,
führst du mich zur Quelle hin.“
Sie störte sich nicht daran, wie dünn meine Stimme klang und wie mühsam ich kämpfte, das Lied zu Ende zu bringen. Fasziniert schaute sie erst auf meinen Mund, dann in meinem ganzen Gesicht herum. Dann stand sie auf, ging nach nebenan ins Wohnzimmer, sah dabei über die Schulter zurück, um zu prüfen, ob ich nachkäme, und dann stand ich neben ihr vor dem großen, hinter Glas gehängten Foto, auf dem sie in der Mitte ihrer Kinder thronte, noch rundlich, noch sprachgewandt und stolz. Sie fasste, als ich da neben ihr stand, zu mir hoch und berührte meine Wange, dann klopfte sie mit dem Zeigefingerknöchel auf das Glas an der Stelle, hinter der sich, schwarzer Pferdeschwanz und weißes Krägelchen, das Bild von mir als Sechzehnjähriger befand. Mein Herz machte viele schnelle Schläge außer der Reihe, Tränen schossen hoch, ich nahm meine Mutter in den Arm und schaukelte mit ihr hin und her, ich lachte und weinte zugleich. Sie lachte auch, machte sich bald aber verschämt los und wir gingen frühstücken.
Ich wusste, nichts ließ sich mehr verschieben, es gab kein Vertrösten. Keine gemeinsame Zukunft lag mehr vor uns. Die vielen Worte, die wir gewechselt, die vielen Lieder, die Leokadia gesungen und die vielen Geschichten ihres Lebens, die sie mir erzählt hatte, waren schon jetzt unerreichbare Vergangenheit geworden. Die Gegenwart war auf das stumme, von seltensten Erinnerungsblitzen durchzuckte Nebeneinandersitzen geschrumpft.
Die letzten Silben, die sie manchmal flüsterte, bildeten ein Wort in einer Sprache, die niemand von uns Geschwistern kannte. Wir alle hatten es erlauscht und fühlten uns alle gleich hilflos vor diesem Flüsterwort. Vielleicht war es gar kein bekanntes Wort, vielleicht hatte meine Mutter „Karaschim“ erfunden, sich ausgedacht, vielleicht war es nur eine sinnlose Aneinanderreihung von Silben. Aber ich konnte es nicht einfach verklingen lassen, dieses letzte Flüsterwort der brüchig gewordenen, früher so klangvollen Stimme. Der Stimme, die mich mehr gewärmt hatte als alles, was es sonst in meiner Kindheit gegeben hatte. Ich fragte viele Menschen, aber ich fand niemanden, der „Karaschim“ übersetzen konnte. Es stammte anscheinend nicht aus dem Russischen, nicht aus dem Ukrainischen und auch nicht aus dem Polnischen. Jemanden, der Jiddisch sprach, kannte ich nicht. Dort, wo meine Mutter aufgewachsen war, lebte man in guter Nachbarschaft mit den Juden, jiddische Einsprengsel gehörten selbstverständlich zum Deutschen. Auch das hat Leokadia mir weitergegeben. Wenn ich mich über ein Kind ärgere, entlastet auch mich heute noch „dreibastiger Bocher“ mehr von meinem Zorn als wenn ich „freches Kind“ denke. In der Staatsbibliothek in einem Wörterbuch des Jiddischen nachzuforschen sträubte sich etwas in mir, da war eine Grenze, meine Mutter und dicke wissenschaftliche Bücher hatten nichts miteinander zu tun. Und was würde das mühsam eruierte Wissen auch ändern? Leokadia lebte jetzt in unzugänglicher Fremde.
Blind von Tränen flüchtete ich manchmal von ihr weg, wenigstens in ein anderes Zimmer. Wie weit reichte meine Vernunft? Jedenfalls nicht weit genug.
Und manchmal musste ich mein Kind gegen meine alt gewordene, verwirrte Mutter verteidigen. Leokadia hatte ihren Enkel gern gehabt, weil er ständig vor sich hinsang oder schnippte oder, nachdem er pfeifen gelernt hatte, pfiff. Und mein Sohn hatte die „kleine Oma“, wie er sie nannte, auch gemocht. Aber als wir sie das erste Mal nach seiner Gehirnoperation besuchten, saß der sonst so fröhliche Siebenjährige mit durchsichtigem Gesicht, blau geäderten Händchen, die langen Wimpern über die Augen gesenkt, die meiste Zeit still in einem Sessel. Er mochte noch nicht wieder reden und sich bewegen. Leokadia betrachtete von ihrem Sessel aus die lange Narbe, die sich durch die Jodbemalung auf seinem nackten Kopf zog. Härchen begannen eben erst wieder zu sprießen.
Wer weiß, welche Erinnerungen in ihr durch den kahl geschorenen Kopf geweckt werden, dachte ich, als ich ihre Faszination bemerkte. Kopftyphus hatte es auf dem Weg nach und von Sibirien gegeben und Leokadia hatte ihre Mutter an Kopfschmerzen sterben sehen. Wie oft hatte ich daran gedacht, wenn ich meinen kleinen schmerzbleichen Sohn auf dem Schoß gehalten, gestreichelt, beruhigt hatte. Leokadia konnte nichts mehr mitteilen und ich konnte ihr nichts mehr über seine Krankheit erklären, sie verstand es nicht.
Irgendwann wurde ihr Wunsch, die Narbe zu berühren, so stark, dass sie aufstand und meinem Sohn auf den Kopf patschte. Erschrocken duckte sich der Kleine und bedeckte instinktiv seinen Kopf mit beiden Händen. Sie ließ sich von seinem Zurückweichen nicht einschüchtern, näherte sich ihm, auch als er sich von ihr wegsetzte, immer wieder, versuchte seine Hände wegzuziehen und seinen Kopf zu betasten, sie wollte unbedingt die Narbe berühren. Auch ein irgendwann hervorgestoßenes „Lass das, Oma!“ bewirkte nichts, sie lachte, fasste seine Ablehnung als Spiel auf, so dass er sich schließlich unter dem Tisch verkroch. Prustend ließ sie sich auf die Knie nieder, um ihm auch dorthin zu folgen. Schließlich hielt ich sie hart am Arm zurück. Sie ließ sich wieder in ihren Sessel drücken, die wach blitzenden Augen erloschen.
Und dann ihr plötzlicher Tod.
Wir saßen zu dritt am Tisch: Vater, Mutter, Kind. In der dunklen Dämmerung des frühen norddeutschen Herbstes hörten wir Musik von einer Schallplatte, die mir eine Freundin mitgegeben hatte, weil sie sie doppelt besaß. Ein Sänger, den ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht kannte, sang ein Lied, das ich vorher noch nie gehört hatte, „Komm, großer schwarzer Vogel...“ Ich lauschte, als habe mir jemand eine persönliche Botschaft geschickt, ließ mich von den Klängen der Hammondorgel mitziehen in den Singsang der lockenden Stimme, die dann in den Jubel des „I werd lachen, i werd singen, i werd endlich glücklich sein“ ausbrach. Eine „neue Welt“, „endlich kapiern, worum sich alles dreht“, „singn, lachn, endlich glücklich sein“ versprach eine Stimme. Nur folgen musste man dem großen, schwarzen Vogel. „Wie lautlos du fliegst“, „wie schön du bist“. Eine merkwürdige Lockung ging aus von diesem zufällig bei mir gelandeten Lied. An anderen Tagen hätte ich es für schwülstig gehalten, jetzt zog es mich in seinen Bann. Und dann klingelte das Telefon und mein Bruder sagte mir, was auch er gerade erst erfahren hatte, dass unsere Mutter vor ein paar Minuten gestorben sei. „Sie saß beim Kaffee, da hat sie sich mit großen Augen aufgerichtet, ist nach hinten gesunken und hat nicht mehr geatmet.“ Meine älteste Schwester hatte dabeigesessen.
Ihr Geist hatte sich so allmählich zurückgezogen, dass ich mich langsam an seinen Verlust gewöhnen konnte, auch wenn bis zuletzt ein paar wenige Zeichen die Hoffnung zuließen, da irgendwo sei sie noch, Leokadia, mit allen Erinnerungen und dem Bewusstsein, wer sie war und wer ich war, auch wenn sie selbst sie nicht mehr erreichen konnte. Nun war ihr kleiner Körper ganz plötzlich, ganz auf einmal und eindeutig tot. War sofort von irgendwelchen Spezialisten für den Tod aus dem Haus meiner Schwester weggeholt worden, lag aufgebahrt in einem der Beerdigungsinstitute in der Stadt, wo sie die letzten Jahre gelebt hatte, weit von meiner entfernt. Als spräche ich mit Leokadias Mund, strömte mir, nachdem ich jahrelang nicht mehr gebetet hatte, ein inbrünstiges, mit allen inneren Kräften hochgestemmtes Gebet nach irgendwo dort oben: Nun sollte der Herr, Leokadias Vater im Himmel, sie auch freundlich empfangen, sollte sie willkommen heißen in der himmlischen Heimat. In Abrahams Schoß gehörte sie, halten sollte er sie, sie trösten für all die trostlosen Jahre des Lebens, in denen niemand sie hielt, da sein sollte sie, ohne jemals wieder übrig zu sein, gut genug für alles und jeden, ganz gleich, wie sie da säße in der hellblauen Kittelschürze, mit den wenigen Zähnen, weil das Gebiss drückte, mit der hängenden Haut und mit dem zersäbelten Haar der letzten Jahre. Gar nicht als Siegerin brauchte sie durchs Perlentor zu ziehen. Hadernd, unter Schuldgefühlen sich quälend, mit allem, allem sollte sie aufgenommen werden in der himmlischen Heimat. Seligkeit, Glück erbat ich für meine Mutter, für jetzt und alle Ewigkeit. In diesem Augenblick gab es für mich keinen Zweifel. Die alte christliche Gewissheit leitete alles, was ich dachte und fühlte. Wenigstens für ihre Seele sollte ihr himmlischer Vater sorgen, wenn schon ihr gebrechlicher Körper bald in die Erde müsste, verwesen die flaumweiche Haut, der Körper mit den Hüften, denen meine genau glichen.
Das hatte ich entdeckt, als ich sie in den Ferientagen wusch und anzog, als ich mich herantrauen musste an den immer verborgen gebliebenen Körper. Höchstens ihren Rücken hatte ich als Kind gerieben, aber dann fuhr meine Hand unter das Nachthemd. Dieser kleine fast haarlose Körper, ihr Gesicht mit dem zahnlosen Mund, der aber immer noch Leokadia war ebenso wie die immer noch schöne Stirn, die festen, hohen Wangenbögen, von den blauen Augen ganz zu schweigen — dies alles sollte freigegeben werden zur Verwesung, weg für immer aus der Welt.
Achtunddreißig Jahre hatte Leokadia im Osten gelebt, genau achtunddreißig Jahre auch im Westen. Ihre Ewigkeit begann jetzt.
Erst zwei Tage später stand ich kurz vor sechs Uhr abends vor dem Beerdigungsinstitut. Eine neu übernommene Arbeit und mein übertriebenes Pflichtbewusstsein hatten mich so lange festgehalten. Das Institut hatte schon geschlossen. Ich sah meine Mutter nie mehr.
Etwas später ging ich durch die verwaiste Wohnung, voll von ihrem Geruch, voll von Gegenständen, von denen manche lange nicht benutzt, aber von vergangenem Leben erfüllt waren. Im Schlafzimmer standen immer noch zwei Betten eng nebeneinander, als hätte meine Mutter bis zum Schluss darauf gewartet, dass ich wieder bei ihr schliefe wie früher, bevor ich fort ging, um zu studieren.
Ich schob die Scheiben des Wohnzimmerbufetts zur Seite und nahm die goldverzierten Sammeltassen in die Hand, die sie noch im Barackenlager vom ersten zwar nicht überschüssigen, aber doch nicht mehr allernötigsten Geld gekauft hatte, um wieder etwas Schönes zu besitzen. Strich über die tiefen Kerben im Bleikristall der hohen Vase, die auf den gestickten Tischdecken immer kippelig stand, die drei Cosmeen oder Georginen, die hineinpassten, waren immer vom Fallen bedroht gewesen. Ich las die Bibelsprüche auf den ovalen, dunkelrot gerahmten und mit gemalten Blumen geschmückten Pappschildern, die schon im Barackenlager die Wände geziert hatten: „Der Herr ist Deines Fußes Leuchte und ein Licht auf Deinen Wegen“ und „Er kann helfen“. Und ich fand einen alten Zettel, auf dem die Namen meiner Geschwister untereinander geschrieben standen, eine Liste in ihrer spitzigen, ungelenken Handschrift. Leokadia hatte unsere Namen aufgeschrieben, gegen das Vergessen. Mein Name stand als letzter ganz unten, wie es der Geschwisterreihe entsprach. Er war falsch geschrieben. Ich las ihn immer wieder, meinen fehlerhaft geschriebenen Namen.
Dann stand ich einen Tag später, zwischen meinem Mann und meinem Sohn, von meinen Geschwistern und ihren Familien umgeben, an ihrem offenen Grab. Wie viele es waren, die zu dieser kleinen Frau gehörten! Verwandte, Bekannte, ehemalige Nachbarn aus der Baracke, auch viele Gemeindemitglieder waren gekommen. Ich musste an mich halten, als es tatsächlich geschah, aber ich hielt still, wie konnte man es auch verhindern, dass sie ihn hinunterließen in das aufgeschaufelte Rechteck, den kleinen Körper in seiner hölzernen Kiste, warf sogar, wie es sich gehörte, ein Schäufelchen Erde hinterher und ließ dann, wie alle anderen auch, meine Mutter endgültig allein.
Hinterher saß ich bei Kaffee und Kuchen zwischen den Geschwistern und den übrigen Verwandten und unterhielt mich mit ihnen als Leokadias erwachsene, vernünftige, jüngste Tochter — die größte der drei. Aber das war jetzt für niemanden mehr wichtig.
Leokadias Grab mit dem Sanddornbäumchen, das sich über den Grabstein neigt, besuche ich nicht oft. Meine Schwester hat die Pflege übernommen. Ich lasse meine Mutter ruhen auf dem weitläufigen Friedhof mit den vielen Steinen, zwischen all den anderen in der Erde. Nichts als ihr Name steht auf dem grauen Stein.
Im Abstand von einigen Monaten träume ich davon, wie ich das Grab umgrabe, und wenn ich aufwache, fällt mir immer als erstes ein, dass ich die Inschrift ändern lassen müsste. Es sollte nicht nur ihr Name dort stehen, ich sollte ihrem Namen wenigstens zwei weitere, die allen Geschwistern vertrauten, verschliffenen zwei Wörter „unse Mutti“ hinzufügen lassen. Für uns, ihre Kinder, hat sie vor allem gelebt. Aber dann, ganz wach, weiß ich: Es ist zu spät.