Читать книгу Barackenkind - Edith Dühl - Страница 7
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ОглавлениеAls wüsste sie, dass sie die Jahre der Rast in Ostpreußen nutzen musste, band Leokadia sich ganz fest. Sie liebte die Bäuerin, den Bauern und deren Kinder, die nach und nach geboren wurden, arbeitete von morgens früh bis abends spät, bald schon nicht mehr nur als Hütemädchen, sondern überall im Haus und auf dem Feld, sie war geschickt, gefällig, und - Leokadia wurde hübsch. Der aufgedunsene Körper war schlank und fest geworden, das Stoppelhaar inzwischen lang gewachsen. Dunkelbraun und füllig umgab es den kugeligen Kopf, umrahmte eine hohe und doch runde Stirn, war als Knoten festgesteckt, wie es sich schickte, und die Augen aus dem von der ersten Frühjahrssonne bereits gebräunten, flächigen, trotz mancher deutscher Vorfahren slawischen Gesicht konnten verloren blicken, aber auch blitzblank und fröhlich strahlen. Es war nicht immer leicht, die Balance zu halten. Manchmal war sie plötzlich wieder die Fremde, dann waren ihr die vielen Toten, die in Sibirien oder auf dem Weg dorthin und von dort zurück geblieben waren, näher als alle Lebenden in der ostpreußischen Gegenwart.
Das alles wusste ich. Nicht nur Leokadia hatte davon erzählt, auch die wenigen Fotos, die es aus dieser Zeit gab, sprachen eine deutliche Sprache und Verwandte und Bekannte hatten Erinnerungen beigesteuert — es gab noch einige wenige Menschen, die Leokadia in diesen Jahren gekannt hatten.
Doppelt gebunden hielt besser. Außer der Bauernfamilie, bei der sie arbeitete, gab es die Pfingstgemeinde im Dorf. Eine mächtige Erweckungswelle rollte über das Land. Viele Jugendliche entschieden sich für ein Leben in den engen, streng bewachten Grenzen dieser pietistischen Gemeinschaft. „Ich ging dann auch fleißig zur Versammlung und an einem Sonnabend, es war in einer Gebetsstunde, hat Gott machtvoll zu meinem Herzen geredet. Es wurde es auf einmal so hell in dem kleinen Saal, ich sah mein ganzes Leben in dem Licht und dann hörte ich eine Stimme zu mir sagen: 'In diesem Licht sollst du bleiben.'“
Nun war nicht nur eine Gemeinschaft für die Arbeit, sondern auch eine für die wenigen freien Stunden gefunden. Gebetszeiten am Sonnabendabend, Gottesdienst am Sonntagmorgen, Jugendstunde am Nachmittag und vor allem wurde ein Chor gegründet und es gab Chorproben während der Woche.
Leokadia war glücklich, wenn sie abends nach dem Melken die letzten Handgriffe getan hatte und zum Singen laufen konnte. Sie wurde dem Alt zugeteilt, ihre Stimme gehörte eindeutig dorthin, tief und voll, tragend und weich auch noch in höheren Lagen, erstaunlich, dass dieser Klang aus einem so kleinen, zierlichen Körper strömte, der erst später, nachdem sie Kinder geboren hatte, Fülle gewann. Die Stimme besaß diese Fülligkeit von Anfang an.
„Ich habe mich immer gefreut, wenn ich singen konnte. Das habe ich für mein Leben gern getan. Aber für mich war es die erste Zeit sehr schwer, ich konnte ja nicht schreiben und nicht lesen und gedruckte Bücher kannte ich auch nicht. Aber ich habe sehr schnell auswendig gelernt; bis wir ein Lied vorsingen mussten, konnte ich es auswendig.“
„Meine liebste Freundin hat dann für mich die ganzen Lieder aufgeschrieben, ich konnte bald ihre Schrift lesen. O was habe ich mich da gefreut! Mit dem Schreiben war es nicht so leicht zu lernen, denn ich musste ja viel arbeiten und hatte keine Zeit für mich.“
Leokadias Stimme. Stimme, die erzählte, aber vor allem Stimme, die sang. Alle ihre Kinder trugen sie im Ohr, über die Jahre hin, auch als sie den vollen Klang verloren hatte und dann mit dem Verfall ihres Geistes ganz verstummte. Ich höre sie über ihren Tod hinaus, ebenso wie sie manchmal unverhofft vor mir auftaucht, in der blauen Schürze in der Küche hantiert und singt. Sie sang beim Geschirrwegstellen, beim Fegen, beim Abwaschen, ließ, aufgequollen und schweißtriefend, in der Waschküche ihre Stimme schallen, während sie auf dem Waschbrett die Wäschestücke rubbelte. Auch wenn sie strickte und stopfte, sang sie leise vor sich hin, aber meistens saßen dann andere bei ihr, um sie versammelten sich ja abends die Nachbarn zum Reden, Erzählen. Vielleicht kamen sie gerade deshalb, weil sie zu allen Abstand hielt, mit niemandem ganz nah sein wollte und konnte, schon gar nicht mit einem der Männer. Auch wenn es nicht allzu viele von ihnen in der Baracke gab, um Leokadia versammelten sie sich. Abends war Leokadias Mund mit Reden gefüllt, für mich hatte sie dann keine Zeit.
Aber es blieb ja ganz sicher der Abendtrost. Lauter Lieblingslieder sangen wir dann, selten fehlte jemand von den Geschwistern, auch die älteren versammelten sich nach dem Abendbrot zum Abschluss des Tages am Tisch. Wir sangen „Die Wellen kommen näher, mein Schifflein ist in Not“, mein Lieblingslied, oder „Wer zieht als Sieger durchs Perlentor, bald, ja bald“, oder „Denk, ich weiß ein Schäfelein, das wollt gar nicht folgsam sein“ oder
„Vöglein im hohen Baum,
klein ist’s, man sieht es kaum,
singt doch so schön,
dass wohl von nah und fern
alle die Leute gern
horchen und stehn,
horchen und stehn“,
das war Leokadias Lieblingslied. Selten sangen wir auch „Du großer Gott, wenn ich die Welt betrachte, die du geschaffen durch dein Allmachtswort“. Wenn meine Mutter die getragenen Töne dieses Liedes schweben ließ, kam sie mir wieder vor wie eine Predigerin.
Bei einer Chorprobe hörte einmal ein Musikprofessor aus Königsberg die siebzehnjährige Leokadia singen. Er war von ihrer Stimme beeindruckt und wollte ihr in seiner Stadt eine kostenlose Gesangsausbildung ermöglichen. Aber Leokadia hatte ja gerade erst begonnen, sich zu Hause zu fühlen, hatte sich so schwer an alles Fremde gewöhnt. Konnte auch niemanden um Rat fragen, auch ihre Schwester in Wolhynien war gestorben. Der Schwager hatte es geschrieben, er war mit zwei Kindern allein geblieben. Leokadia blieb als Magd im Dorf.
In den ersten Ehejahren lernte Leokadia bei ihrem Mann flüssiger lesen, sogar Gedrucktes gelang ihr allmählich zu entziffern. Und einigermaßen, wenn auch für andere nur schwer lesbar, schreiben lernte sie auch. An langen Winterabenden, wenn in seiner Schlosserei und auch auf den Feldern nichts mehr zu tun war, schrieb Rudolf in einer feinen Handschrift mit langen Ober- und Unterlängen alle Lieder ab, die sie im Laufe des Jahres im Chor gelernt und bei der Arbeit gesungen hatten. So wuchs eine ganze Reihe Liederbücher heran, allein für sie. Abends blätterte und las sie darin und dann begann sie zu singen und er begleitete sie auf seiner Geige oder auch auf der Mandoline oder der Gitarre. Er lernte jedes Instrument, das er in die Hand nahm, leicht.
Wie gut, dass ihr kleiner, nur allmählich nachreifender Körper nicht gleich, nachdem sie geheiratet hatte, Kinder empfangen konnte. Wären sie gleich gekommen, so wäre auch das bisschen, was sie neben der vielen Haus- und Feldarbeit lernte, nicht möglich gewesen. Und wie dringend nötig war es ihr später, als sie nach dem zweiten Krieg ohne ihren Mann die Kinder durchbringen musste, als sie Rente einreichen, Rentenbescheide entziffern, verlorene Geburtsurkunden nachfordern, Lehrverträge durchlesen und immer wieder viele, viele Papiere ausfüllen musste. Und wie viel bedeuteten ihr die Briefe, die sie in reicher Zahl erhielt und so recht und schlecht schrieb an die Verwandten ihres Mannes und an Freundinnen und Bekannte von Zuhause, die in der neu entstandenen Bundesrepublik verstreut lebten. Wenn Leokadia am Sonntagnachmittag am Küchentisch saß und auf der sonntäglichen Tischdecke Briefe schrieb, saß ich, seitdem ich zur Schule ging, neben ihr und buchstabierte ihr die besonders schweren Wörter, die beim Schreiben vorkamen.
In den letzten Jahren ihres Lebens, als sie nicht mehr singen, nicht mehr lesen und schreiben und auch nicht mehr sprechen konnte, waren ihr die Gesangbücher immer noch wichtig. Diesmal hatten die Trostquellen die Flucht überstanden, keine war verloren gegangen. Die alte Bibel war irgendwann neu eingebunden worden und hatte nun kaum noch einen Rand, er musste weggeschnitten werden, weil er so zerlesen war. Obwohl es inzwischen für sie, ganz für sie allein, ein Wohnzimmer mit bequemen Sesseln und einem Sofa gab, saß sie oft in der Küche am Resopaltisch und blätterte mit ihren verarbeiteten, schmächtigen Händen eins der von ihrem Mann geschriebenen Gesangbücher nach dem anderen durch. Die alten, vergilbten Seiten wurden immer brüchiger, manche Seiten rissen ein bei ihrem steiffingerigen, aber auch erregten Blättern. Die Lippen bewegten sich manchmal dazu, aber es war nicht zu entscheiden, bildeten sie noch Wörter oder berührte nur noch die Erinnerung ans Sprechen ihr Verstummen.
Mit neunzehn hatte Leokadia Rudolf geheiratet, der seit fünf Jahren darauf gewartet und zielstrebig darum geworben hatte. Für sie war die Entscheidung nicht so klar gewesen. Da hatte es außer ihm einen anderen gegeben. Der war viel größer gewesen als Rudolf und groß zu sein war für die 1, 49 kleine Leokadia die wichtigste Eigenschaft der Schönheit. Es hatte sie gelockt, den anderen zu nehmen, auch wenn man im Dorf sagte, dass er nicht viel taugte. Aber dann entschied sie sich doch für den zielstrebigen, klugen Rudolf, der sie liebte, seitdem er sie das erste Mal gesehen hatte, der ihr ein Zuhause schaffen wollte mit allen Kräften, die er einsetzen konnte.
Gemeinsam schufen sie es nach Art der Schwaben, von denen der auch in Wolhynien geborene, aber schon seit seiner Kindheit in Ostpreußen lebende Rudolf herstammte. Unermüdlich arbeiten, schaffen, schaffen, erst noch von einem Zimmer bei den Eltern aus, dann gab es ein eigenes Haus, nach Rudolfs Meisterprüfung auch eine eigene Schlosserwerkstatt, und Land, bald noch mehr Land. Und abends saß Leokadia neben Rudolf, auch wenn ihr die Augen manchmal zufielen, und lernte besser lesen, lernte schreiben, statt einen Säugling zu stillen, wie sie es so gerne gewollt hätte.
Beide warteten sie auf Kinder. Kinder waren ein Segen Gottes. Ohne Kinder war das Leben nichts. Fünf Jahre lebten sie beide in der Furcht, Leokadia könne unfruchtbar bleiben. Eines Sonnabendabends stand in der Gebetsstunde eine alte Frau auf, die die Gabe der Weissagung besaß. „Leokadia wird eine reiche Kindermutter sein und der Segen des Herrn wird in besonderem Maße auf allen ihren Kindern ruhen“, sagte sie. Beschämt darüber, der Gegenstand einer Weissagung und damit für eine Zeit der Mittelpunkt der Gemeinde zu sein, aber auch glücklich und voller Hoffnung ging Leokadia an diesem Abend eng neben Rudolf nach Hause.
Und wirklich war meine Mutter kurz darauf schwanger. Bald kam das erste Kind und bald gab es auch ein größeres Haus, die Zukunft gestaltete sich so, wie sie es sich gewünscht hatten. Rudolf war ein angesehener Mann.
Mitte der dreißiger Jahre machte sich dann auch in Ostpreußen der Nationalsozialismus breit. Anfangs bejahten Rudolf und Leokadia ihn als eine Macht, die dem Osten Deutschlands Bedeutung verschaffte, für alle verstreuten Deutschen in der Welt die Arme offen hielt, sogar Volksdeutsche konnte Leokadia werden, als ihr Mann in die Partei eintrat.
Bald aber wussten sie, was den Juden drohte. Leokadia packte Lebensmittelpakete für die jüdische Familie in der Mühle, bei der sie seit Jahren das Korn hatten mahlen lassen und der man nun die Mühle schloss und allen übrigen Besitz wegnahm. Rudolf schwamm nachts über den Fluss und brachte ihnen, was Leokadia für sie zusammengepackt hatte. Nicht einmal genug zu essen hatten sie jetzt. Aber eines Nachts lag die Mühle verlassen da, die Juden waren abgeholt worden.
Rudolf und Leokadia fuhren nicht mit den Nachbarn nach Litzmannstadt, wo man billig schönes Porzellan und Silber aus den aufgelösten jüdischen Haushalten kaufen konnte. Leokadia hielt auch später noch, im Westen, Abstand zu denen, die sich dort bereichert hatten und nun wieder ihre Nachbarn waren.
Ich brachte erst viel später zusammen, dass das, was ich von Litzmannstadt und das, was ich von Lodz erfahren hatte, sich auf die gleiche Stadt bezog.
Noch heute hängt eine weiße Batistgardine in meinem Zimmer vor dem Fenster. Eine Lyra spielende, griechisch gewandete Frau mit nackten Füßen ist in Lochstickerei in den hauchdünnen Stoff gezaubert, schönlinige Ranken umgeben die Griechin und duftige Rosen. Jedes Licht, das hindurch fällt, wird mild. Leokadia und Rudolf kauften die zarte Handarbeit der jüdischen Schneiderin ab, die jahrelang zu ihnen ins Haus kam und für die Erwachsenen und die Kinder Kleider nähte. Der hohe Preis, den sie dafür zahlten, verhalf ihr zur Flucht über Königsberg nach Dänemark. Sie ließen den russischen Arbeiter entgegen Führers Gebot mit am Tisch essen, obwohl Rudolf sich zur Leitung des Ortsbauernverbandes hatte erpressen lassen, die Alternative wäre der Fronteinsatz gewesen. Und sie wussten, was in den Lagern geschah, sie hatten zugehört, als der Freund ihres Dienstmädchens im Urlaub von seinem Lagerwachdienst erzählte. Sie hatten verstanden, was ihn freiwillig an die Front trieb statt dorthin zurück, wo der Dienst doch viel sicherer war. Sie wussten, was Giftgas, was Verbrennungsöfen waren. Ich wusste es auch von klein auf. Und Leokadia, als Rudolfs Rückstellung dann doch nichts nützte und er im letzten Kriegsjahr zum Volkssturm gezogen wurde, wusste, er würde nicht zurückkommen, denn sie hatten, was sie erst zu spät erkannten, mit dem Antichrist paktiert. „Das steht ja geschrieben, dass er wird kommen, der Antichrist. Und weißt, mein Kind, der Hitler, der war es und wir waren blind.“
Rudolf konnte in den ersten Kriegsjahren also zu Hause bleiben. Seine Schlosserei galt als kriegswichtiger Betrieb, bediente eine Instandsetzungskompanie, die im Dorf stationiert war. So war er doppelt unabkömmlich und ihr Leben schien nicht unmittelbar betroffen von all dem, was zu hören und mitzuerleben war. Immer mehr Todesnachrichten brachte der Briefträger ins Dorf. Auch die Söhne von Rudolfs älteren Brüdern fielen an der russischen Front.
Für Leokadia blieb, ob Frieden oder dann Krieg, das Leben vor allem das Austragen, Gebären, Aufziehen der Kinder und viel, viel Arbeit obendrein im Haus, im Garten, auf dem Feld. Es kamen Knechte und Mägde ins Haus, Scheune und Keller füllten sich. Endlich war Fülle, war Wohlstand da, wie sie ihn ersehnt hatte, seitdem sie ihn bei den Bauern kennen gelernt hatte. Wohlstand war Sicherheit, zusätzlich zu der, die der beständige und kinderliebe Rudolf ihr gab. Zu den Kindern, den Knechten und Mägden hinzu kam hin und wieder die Schneiderin, in Erntezeiten eine Köchin. Tanten und Onkel und der Großvater aus der Nachbarschaft waren oft zu Besuch, sie halfen bei der Arbeit und sie liebten die Kinder. Nicht selten saßen sechzehn Personen um den doppelt ausklappbaren Küchentisch.
Aber am liebsten wollte Leokadia immer noch alle Arbeit selber machen, schnell schnell, und einmal legte sie, abgerackert und schlafgierig, wie sie war, ihr zweites neugeborenes Kind nach dem nächtlichen Stillen im November auf den eisigen Fußboden statt in die Wiege neben ihrem Bett. Es wurde schwer krank und blieb jahrelang das Sorgenkind, rachitisch, langsam, erst spät entwickelte es sich zu dem klugen, ernsten ältesten Sohn. Da erst wurde ihr schuldbeladenes Herz leichter. Auch das erzählte sie mir, während ich im Bett hinter ihr lag und ihren Rücken kraulte.
Zuletzt waren es genug Kinder. Zwei Töchter und vor allem vier Söhne. Söhne waren ein besonderer Segen. Immer noch war Krieg. Die siebte Schwangerschaft bedeutete keine Freude mehr, war zu viel. Bei dieser Geburt verlor Leokadia so viel Blut, dass sie lange krank lag und sich nur schwer wieder erholen konnte. Eine Nierenerkrankung kam hinzu. Aber weil ich nun einmal ans Licht der Welt gekommen war, wurde ich auch versorgt, wurde einmal von dem, dann von jenem in dem menschenreichen Haus umhergetragen, von den älteren Geschwistern, dem Dienstmädchen, den Tanten, der Schneiderin. Sogar der Großvater, der als junger Soldat in der ungarisch-österreichischen Monarchie die Prinzessin auf einem Wagen begleitet hatte und deshalb mit „Ihr“ anzusprechen war, ließ sich das Bündel manchmal in den Arm legen. Zehn ein halb Monate meines Lebens umgab auch mich das menschenreiche Haus, wenn auch mein Vater zum Ende hin fehlte, weil er dem Krieg nicht länger ausweichen konnte.
Mein Vater nannte mich wegen meiner auffallend dunklen Hautfarbe den Murchel und er tröstete Leokadia wegen dieses letzten, ungewollten Kriegskindes und prophezeite: „Gerade an diesem Kind wirst du später eine Freude und eine Stütze haben.“ Auch dieser Satz ist tief eingeritzt. Wieder und wieder ließ ich ihn mir von Leokadia vorsagen.
Als Kind liebte ich meinem Vater dafür, so gut man jemanden lieben kann, den man nicht kennt. Dreizehn Monate alt war ich, als ihm im Krieg ein Bein abgeschossen wurde und er auf dem Weg ins Lazarett verblutete. Da war seine Familie schon seit ein paar Wochen im Westen. Ein Mitsoldat kam Jahre später und berichtete. Dankbar war ich für den Satz, der meine Existenz bejahte. Erst spät begriff ich, wie viel Verpflichtung, wie viel Schuldzuweisung er auch in mein Leben gebracht hatte. Ich sprach das Wort Papa zwischen meinen vom Vater schwärmenden Geschwistern nicht aus, vergaß aber nie die Einzelheiten, die ich ihnen abgelauscht hatte: dass er Tee am liebsten im Glas trank, dass er Geige spielte trotz der Arbeit in seiner Schlosserei, dass er an den Abenden nicht nur zur Gebets- oder Chorstunde ging, sondern auch Plato und andere Philosophen las oder den Schäferhund dressierte und seinen Söhnen Weitsprung beibrachte und mit dem Browning zu schießen. Ich hatte auch gehört, dass es immer er war, der bei Auseinandersetzungen um Verzeihung bat. „Die Sonne soll über keinem Streit untergehen!“ Das ist bis heute für mich eine Lehre meines Vaters.
Seit Oktober 1944 war Leokadia allein mit ihren sieben Kindern, Rudolf war Soldat. Der sichere Hafen war nicht sicher genug. Ende Januar 45 ließ sie das Dienstmädchen und die größeren Kinder den Wagen beladen, den die polnischen Knechte nach genauer Anweisung Rudolfs für sie mit einem Verdeck versehen hatten, die gleichen Männer, die sich ein paar Tage später beim Einzug der russischen Soldaten an den Racheakten gegen die zurück gebliebenen Deutschen beteiligten, bei denen auch Rudolfs Bruder Michel zu Tode kam. Den Frauen erging es schlimm. Es gab später ein Kind in der Familie, das ein russischer Soldat gezeugt hatte.
Leokadia, zu schwach und krank, um den Wagen auch nur beladen zu helfen, machte sich wieder auf den Weg. Diesmal war sie die Mutter, nicht eins der Kinder.
Sie fuhr über das schon brüchige Eis der Weichsel in Richtung Westen, traf, als ein Rad des Wagens brach, auf polnische Männer, die es reparierten, sah jeden Morgen nach, ob ihr todkrankes, knapp Einjähriges noch lebte, fürchtete, irgendwann das mager gewordene Körperchen in den Schnee des Straßenrands legen zu müssen. Manch anderen Frauen blieb nichts anderes übrig, eingereiht in die Kolonne des Trecks, konnte kein einzelner Wagen aus der festgefahrenen Spur im Schnee ausscheren. Verlor beinahe zwei Söhne, die Milch für das Kleine besorgen gegangen waren, während der Treck in einem Dorf zum Stehen kam, in dem Menschen noch ganz behaglich wohnten — und dann musste der Wagen plötzlich weiter, Männer vom Volkssturm trieben mit Peitschen die Pferde an und es gab kein Ausscheren. Aber dann kamen die Jungen doch noch hinterhergelaufen und hatten sie am Ortsende eingeholt.
Die älteste Tochter verlor Leokadia dann wirklich, als es wieder einmal Schwierigkeiten mit dem Wagen gab und sie sie losschickte, um Hilfe zu holen. Wieder konnte sie nicht auf die Rückkunft eines Kindes warten, wurde unbarmherzig in der Reihe anderer Gespanne in den vereisten Spuren zwischen Schneewällen weitergetrieben. Fand die Tochter dann nach Wochen in einem Auffanglager wieder, in dem der Treck für die Nacht untergebracht wurde.
Und dann, am Ende der Irrfahrt, musste sie noch einmal erleben, dass sie „übrig“ war, genauso übrig wie nach der Ankunft in Ostpreußen. Als Letzte stand sie noch auf dem Marktplatz des Ankunftsortes, wo die Bauern aus den angekommenen Flüchtlingen die arbeitsfähigsten ausgesucht hatten. Leokadia stand noch nachts in der Kälte, nicht mit kurz geschorenem Kopf und in alter Männerjacke und zu großen Schuhen, aber klein und von Krankheit geschwächt und mit sieben Kindern zwischen vierzehn und einem Jahr, stand im Dunkeln, bis sich jemand erbarmte. Allerdings wurden sie getrennt: die drei kleinen Kinder mit der Mutter zum einen, die vier großen zum anderen Bauern. Zwei Tage später wurde Leokadia achtunddreißig Jahre alt.