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II. Das Werk 1. Der politische Kontext

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Die Chronica Polonorum entstand in einer Zeit politischer Unruhen, in der die Einheit des „regnum Poloniae“ in heftigen inneren Fehden zerbrach und an die Stelle einer gemeinschaftlichen piastischen Patrimonialherrschaft souveräne Territorialherrschaften traten. Gleichzeitig verfolgten kirchliche und weltliche Große zunehmend selbstbewusst eigene Ziele und leiteten mit ihren Emanzipationsbestrebungen einen gesellschaftlichen Umbruch ein, der mit einem wirtschaftlichen Aufbruch einherging. Beides sollte das Land im Verlauf des 13. Jahrhunderts grundlegend verändern. Am Ende des 12. Jahrhunderts lag Polen gleichwohl noch an der wirtschaftlichen und politischen Peripherie Europas. Es war nur dünn besiedelt, zählte kaum mehr als 6–8 Einwohner pro km2 und besaß nur wenige Städte, von denen lediglich Krakau, Posen, Breslau, Sandomir und Płock auf einige Tausend Einwohner kamen.115 Überregional spielte das Piastenreich keine große politische Rolle, hatte vielmehr Mühe, sich gegen die mächtigeren Nachbarn – Brandenburg, Böhmen, Ungarn, die Rus’ – zu behaupten und der ständigen Übergriffe der Pruzzen, Jadwinger und Polovcer zu erwehren. Doch weit mehr als alle äußeren Gefährdungen und inneren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufbrüche erschütterten das Land die innerdynastischen Kämpfe der Piasten um das Krakauer Seniorat und die damit verbundene großfürstliche Vorherrschaft.

Das Problem der Sicherstellung einer möglichst friedlichen und effek tiven Herrschaftsnachfolge hatte die Piasten von Anfang an begleitet. In den 1130er Jahren war es angesichts von fünf zwischen 1105 und 1138 geborenen Herzogssöhnen und eines alternden Herzogs, der einst selbst einen langjährigen Bruderkampf um die Vorherrschaft geführt hatte, besonders akut geworden. Vor diesem Hintergrund griffen Herzog Bolesław III. und seine weltlichen und geistlichen Großen zu einer Lösung, auf die zuvor auch schon die böhmischen Premysliden und rus’ischen Rjurikiden gesetzt hatten: die sogenannte „Senioratsordnung“. Diese knüpfte an das archaische Prinzip der Vorherrschaft des Alters an, verband das für Großfamilien typische Gewohnheitsrecht aber mit einem neuen Element, nämlich einer verbindlichen Definition des Verhältnisses zwischen „Senior“ und „Junioren“.116

Nach der Senioratsordnung sollte dem ältesten männlichen Vertreter der Piasten – dem „maior natu“, wie Vincentius formulierte117 – jeweils die großfürstliche Oberherrschaft („principatus“) zufallen. Diese war territorial an das ostgroßpolnische und kleinpolnische Kerngebiet mit den Hauptorten Gnesen und Krakau und damit an die in materieller wie ideellsymbolischer Hinsicht bedeutsamsten Landesteile gebunden, später aber nur noch an Krakau und sein kleinpolnisches Umfeld geknüpft. Funktional umfasste die Oberherrschaft die Sorge um die politische Einheit des Gesamtreiches („regnum Poloniae“) und die Wahrnehmung der damit verbundenen zentralen Aufgaben (oberste Rechtsprechung, Kriegführung, Pflege der Außenbeziehungen, Investitur der [Erz-]Bischöfe und Einsetzung der wichtigsten weltlichen Amtsträger). Die Junioren wurden zwar der Oberherrschaft des Seniors, des alleinigen Monarchen, unterstellt, doch erhielten sie, sobald sie volljährig waren, in Gestalt klar umrissener, eigener Teilgebiete zugleich eine verlässliche politische und materielle Teilhabe an der Herrschaft. Darüber hinaus wurde ihnen die verbindliche Perspektive eröffnet, beim Tode des Seniors in einem geregelten Verfahren, nämlich gemäß der Reihenfolge ihres Alters, eines Tages selber in die großfürstliche Oberherrschaft aufzurücken.


Die Piasten im 12. bis frühen 13. Jahrhundert

Auf diese Weise sollte sichergestellt werden, dass das Reich beim Tod des Herrschers nicht mehr wie bisher entweder willkürlich als Ganzes einem vom Vorgänger designierten Nachfolger übertragen oder unter alle nach traditionellem Erbrecht legitime Anwärter aufgeteilt wurde – wobei die anschließende Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung der politischen Einheit in beiden Fällen jedes Mal der Macht des Stärkeren überlassen blieb. Vielmehr sollten die widerstreitenden Interessen fortan so ausgeglichen werden, dass die Erbfolge weder die Idee des gemeinschaftlichen Patrimoniums in Frage stellte noch die vom Senior aufrechtzuerhaltende politische Einheit des Reiches gefährdete.

Diese mit dem Tod Bolesławs III. 1138 in Kraft getretene Senioratsordnung hat tatsächlich eine gute Weile funktioniert. Zwar kam es schon in den 1140er Jahren zu neuerlichen innerdynastischen Auseinandersetzungen, zu Kompetenz- und Territorialkonflikten, doch wurde damit das Prinzip des Seniorats nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Funktion und Stellung des Seniors blieben – selbst wenn dieser wie im Fall Władysławs II., des ersten Nachfolgers Bolesławs III., von oppositionellen Kräften vertrieben wurde – strukturell unangefochten. So trat 1146 an Stelle des an den Kaiserhof geflohenen Władysław (des „Vertriebenen“) der zweitälteste Bolesław-Sohn, Bolesław IV., in das Seniorat ein, während seine jüngeren Brüder – Mieszko III., Heinrich (bis 1166) und Kasimir II. (seit 1166) – die ihnen übertragenen Provinzen auch weiterhin unter der Kontrolle ihres ältesten Bruders als nichterbliche Unter-Herzogtümer bzw. Versorgungsgebiete verwalteten. Daran änderte sich auch nichts, als 1173 beim Tod Bolesławs IV. das Seniorat mit dem unbestrittenen Senioratssitz Krakau an Mieszko III. überging.

Von den fünf Söhnen Bolesławs III. lebte zu diesem Zeitpunkt neben dem neuen Senior nur noch einer. Es war dieser jüngste Sohn, Kasimir II., der seit 1166/67 mit den Gebieten von Wiślica und Sandomir versorgt war, der die Senioratsordnung erstmals nachhaltig in Frage stellte. Denn Mieszko bzw. die von seinen in Krakau installierten großpolnischen Amtsträgern implementierten Maßnahmen118 erregten bei der kleinpolnischen Elite Widerstand und provozierten 1177 einen Aufruhr, in deren Verlauf Mieszkos Leute vertrieben wurden (Mieszko selbst residierte in Großpolen) und der Krakauer Senioratsthron Kasimir angeboten wurde. Dieser ließ sich auf den Coup gegen den älteren Bruder ein und übernahm in Krakau als neuer ‚Senior‘ die Herrschaft.


Polen um 1186

Der ‚Systembruch‘ dieses ‚Staatsstreichs‘ bestand dabei nicht in der Verdrängung des herrschenden Seniors, gegen dessen unbefriedigende Politik vorzugehen sich die von dem Krakauer Bischof Gedko und dem Pfalzgrafen Stefan angeführten kleinpolnischen Großen durchaus legitimiert sahen, sondern in der Übergehung des nächstältesten lebenden männlichen Vertreters der Dynastie. Denn unter den Söhnen der inzwischen verstorbenen älteren Brüder war zumindest der älteste Sohn Władysławs II. – Bolesław der Lange – älter als Kasimir II., womit er nach der Senioratsordnung vor diesem Anspruch auf die Oberherrschaft hatte. Bolesław der Lange war zu diesem Zeitpunkt in seinem Teilgebiet Schlesien allerdings in eigene Bruderkämpfe verstrickt. Er musste die Revolte seiner jüngeren Brüder Mieszko I. Humpelbein und Konrad abwehren, denen zudem sein eigener Sohn Jarosław zur Seite stand. Eine Beschwichtigung gelang ihm letztlich nur, indem er den unzufriedenen Junioren aus seinem schlesischen Herrschaftsbereich jeweils eigene Teilgebiete einräumte. So erhielt Mieszko Ratibor, Konrad Glogau und Jarosław Oppeln. Nach Jarosławs Tod (1201) schloss Mieszko dessen Gebiet seinem Teilgebiet an und begründete damit dauerhaft das Herzogtum Oppeln-Ratibor, während Konrads Glogauer Teilgebiet zunächst eine vorübergehende Erscheinung blieb.

Unterdessen vertrieb der älteste Sohn Mieszkos III., Odon, den Vater 1177–1179 aus seiner großpolnischen Herrschaft, so dass dieser Zuflucht an auswärtigen Höfen suchen musste. Mit Hilfe seines Schwiegersohnes, des westpommerschen Herzogs Bogislaw I., konnte er jedoch bereits 1181 nach Großpolen zurückkehren, wo ihm der Sohn den östlichen Landesteil mit dem Zentrum Gnesen überlassen musste. In Krakau begnügte sich der Usurpator Kasimir derweil nicht damit, dass eine 1180 in Lęczyca zusammengetretene Landesversammlung seine Oberherrschaft förmlich sanktionierte. Er strebte vielmehr danach, die Krakauer Oberherrschaft an seine engere Familie bzw. Nachkommen zu binden. Auf diese Weise sollte die Senioratsordnung dauerhaft durch eine Primogenitur ersetzt werden, das Großfürstentum nach seinem Tod also als erbliche Herrschaft an seinen erstgeborenen Sohn fallen.

Der legitime Senior, Mieszko III., gab sich mit dem Verlust Krakaus freilich nicht zufrieden. Als Anfang der 1190er Jahre Kasimirs auswärtige Politik in der benachbarten Rus’ und gegenüber Ungarn bei der kleinpolnischen Elite Unzufriedenheit erregte, ergriff der großpolnische Herzog die Gelegenheit und entriss dem gerade auf einem Feldzug weilenden Bruder 1191 Krakau. Allerdings konnte der umgehend heimeilende Kasimir Stadt und Elite rasch zurückgewinnen, doch verstarb er schon wenige Jahre später (1194) so plötzlich, dass sogleich Gerüchte aufkamen, er sei vergiftet worden. Mieszko III. zog daraufhin erneut gegen Krakau, wurde aber von den dortigen Großen zurückgeschlagen, die sich in der Zwischenzeit hinter Kasimirs Sohn Leszek gestellt hatten. Da dieser noch minderjährig war, wurde in seinem Namen eine Regentschaft eingerichtet, in die sich Kasimirs Witwe Helena, der Pfalzgraf Mikołaj und der Krakauer Bischof Pełka teilten. Doch gab Mieszko weiterhin so lange nicht auf, bis er 1196 oder 1197/98 einen Kompromiss erreichte, bei dem ihm Helena und die Krakauer Großen vertraglich die Oberherrschaft unter der Bedingung überließen, dass er diese an Leszek übergeben werde, sobald dieser volljährig sei, bzw. dass Krakau nach seinem eigenen Tod als erbliches Fürstentum an die Kasimir-Linie fallen werde.

Als Mieszko III. 1202 starb, zeigte sich jedoch, dass die Krakauer Großen ihr eigenes Spiel spielten und auf die Verständigung zwischen Mieszko und Leszek offenbar nur aus taktischen Gründen eingegangen waren. Denn sie akzeptierten die für Leszek vereinbarten Erbrechte nun ihrerseits nicht mehr, drängten stattdessen auf eine Wahl des neuen Krakauer Herzogs, die es ihnen ermöglichte, dem Thronkandidaten ihre eigenen Bedingungen zu diktieren. Vor allem der Führer der Krakauer politischen Elite, Mikołaj, fürchtete offenbar um seinen Einfluss, wenn Leszek, inzwischen Teilfürst von Sandomir, den Krakauer Thron übernehmen und von dort seine Gefolgsleute mitbringen würde. Folglich lautete eine der Forderungen der Krakauer Großen, dass Leszek als Senior seinen Pfalzgrafen, Goworek, fallen lassen sollte. Leszek verzichtete daraufhin lieber auf den Krakauer Thron als auf seinen Getreuen, woraufhin die Krakauer Großen den Krakauer Thron Władysław Dünnbein, dem ältesten Sohn Mieszkos III. aus dessen zweiter Ehe, anboten. Zweifellos werden die Krakauer Großen auch diesem ihre Bedingungen diktiert haben. Aufgrund der Spärlichkeit der überlieferten Quellen lässt sich nicht feststellen, wie lange Władysław in Krakau herrschte, ob er sich lediglich einige Monate oder knapp fünf Jahre dort halten konnte. Nach 1202 oder 1206 gelangte jedenfalls erneut der Sohn Kasimirs II., Leszek der Weiße, auf den Krakauer Thron, von dem er dann nur noch einmal kurzfristig – 1210–1211 von Mieszko I. Humpelbein – vertrieben wurde. Als er 1227 starb, war die Senioratsordnung schließlich endgültig ausgehebelt, war das einheitliche patrimoniale Reich der Piasten in fünf souveräne, gleichrangige Herzogtümer – Schlesien, Oppeln-Ratibor, Großpolen, Masowien und Kleinpolen – aufgeteilt, hatte Krakau seinen, die Oberherrschaft über die übrigen Landesteile implizierenden Rang als Senioratssitz eingebüßt.

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