Читать книгу Die Chronik der Polen des Magisters Vincentius - Eduard Mühle - Страница 19
III. Textüberlieferung und Texteditionen
ОглавлениеDas Original der Chronica Polonorum ist nicht erhalten geblieben und offenbar schon im Mittelalter verloren gegangen. Die beiden ältesten bekannten Abschriften des vollständigen Textes stammen aus dem 14. Jahrhundert. Die ältere von ihnen findet sich neben 17 anderen antiken und mittelalterlichen Werken in einer Pergamenthandschrift, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts von Prinz Eugen von Savoyen erworben wurde (daher als „Codex Eugenianus“ bezeichnet wird) und nach dessen Tod in die Kaiserliche Hofbibliothek zu Wien gelangte.230 Der in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in Posen entstandenen Handschrift lag – direkt oder indirekt – eine ähnliche, heute verlorene Posener Sammelhandschrift aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts zugrunde.231
Die zweite, in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts datierte Abschrift ist 1944 bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes verbrannt. Sie befand sich neben einem mittelalterlichen Formelbuch in einer Pergamenthandschrift, die einst dem Grafen Ewaryst Andrzej Kuropatnicki gehörte (daher „Codex Kuropatnicki“ genannt wurde) und zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den Besitz der Warschauer Gesellschaft der Freunde der Wissenschaft gelangte. Nach der Niederschlagung des November-Aufstandes wurde sie 1831 nach St. Petersburg verlagert, von dort nach 1921 zurückgeführt und bis 1944 in der Nationalbibliothek Warschau aufbewahrt.232
Die weitaus größte Zahl der bekannten Abschriften der Chronica Polonorum stammt aus dem 15. Jahrhundert. Die älteste Abschrift dieser Gruppe findet sich in einem Codex, der ins Jahr 1434 datiert und dem Krakauer Universitätslehrer Jan von Dąbrówka zugeschrieben wird.233 Dąbrówka kopierte den Chroniktext teils selbst, teils mit Hilfe von Kopisten aus einer heute unbekannten Vorlage, wobei er die Dialoge der Bücher I–III zu einem Briefwechsel umgestaltete (oder diese Form aus der Vorlage übernahm). Anschließend ergänzte er den Chroniktext auf den extra breiten Rändern seiner Abschrift bzw., wo erforderlich, auf zusätzlichen Blättern um ausführliche eigene Kommentare. Diese umfassten neben interpretierenden, auf die Großpolnische Chronik und andere historiographische Quellen gestützten Erläuterungen zu einzelnen Geschichten der Chronica Polonorum auch bereits zahlreiche Hinweise auf die von Vincentius verwendeten Quellen. Dąbrówkas Kommentar blieb in seinem eigenen Autographen unabgeschlossen und ungeordnet. Seine endgültige Form nahm er offenbar erst im Zuge von Dąbrówkas Universitätsvorlesungen oder in jenen weiteren Abschriften an, die er seinen Kopisten in die Feder diktierte.234 Wie viele Abschriften auf diese Weise in den 1430er Jahren in Krakau entstanden sind, lässt sich nicht mehr feststellen; bis heute erhalten geblieben sind vier von ihnen, die alle in die Jahre 1435/36 datiert werden.235 Auf ihrer Grundlage sowie der anderer, heute unbekannter Abschriften wurden Kommentar und Chroniktext in der Folge mehrfach weiter kopiert. Bis 1462 entstanden auf diese Weise allein in Krakau zwölf236, bis 1481 in Lublin237, Lowicz238, Opatów239, Sandomierz240 sowie an vier unbekannten Orten241 acht weitere, heute bekannte Abschriften der Chronica Polonorum. Insgesamt enthalten 25 der überlieferten Chronikfassungen zusätzlich den vollständigen oder auszugsweisen Kommentar des Jan von Dąbrówka. Lediglich eine der in Polen entstandenen Abschriften des 15. Jahrhunderts enthält keinen Dąbrówka-Kommentar242; eine weitere kommentarlose Abschrift, die sich in einem Codex findet, der einst dem Wiener Bischof Johannes Faber (1471–1541) gehörte, ist um 1480 nachweislich außerhalb Polens entstanden.243 Eine dritte wurde schließlich im 17. Jahrhundert zu Papier gebracht.244 Zu den insgesamt 29 vollständig erhaltenen Abschriften kommen schließlich zwei mehr oder weniger umfangreiche Exzerpte des Chroniktextes, die sich in Sammelhandschriften des zweiten Viertels des 15. Jahrhunderts finden245, sowie eine Zusammenstellung von rund 120 Sentenzen, die ein anonymer Autor im oberschlesischen Zisterzienserkloster Ruda in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts für ein Florilegium aus der Chronik extrahiert hat.246
Die überlieferten Abschriften bieten keinen einheitlichen Text der Chronica Polonorum, weichen vielmehr an vielen Stellen in so komplexer Weise voneinander ab, dass es der Forschung bislang nicht gelungen ist, die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den einzelnen Texten eindeutig aufzuklären oder ein klares Filiationsschema der Handschriften aufzustellen. Die uneinheitliche – mitunter stark fehler- und lückenhafte – Textgestalt der einzelnen Abschriften hat die Rekonstruktion eines dem verlorenen Original am nächsten kommenden Textes erheblich erschwert. Der entsprechend langwierige Forschungsprozess mündete erst 1994 in die heute gültige kritische Ausgabe. Ihr sind nicht weniger als sieben ältere Textausgaben vorausgegangen.247 Die älteste wurde bereits 1612 von Jan Szczęsny Herburt, einem Amateur-Verleger und Publizisten, im galizischen Dobromil veröffentlicht. Sie stützte sich auf eine heute unbekannte Handschrift des 15. Jahrhunderts, die Teile des Dąbrówka-Kommentars enthalten haben muss. Im Jahr 1712 wurde sie in Leipzig von Freiherr Heinrich von Huyssen, einem Berater Peters des Großen, als Anhang einer Ausgabe der Annales seu cronicae incliti regni Poloniae des Jan Długosz nachgedruckt. 1824 legte der Amateur-Historiker, Verleger und Übersetzer historischer Werke Hipolit Kownacki eine dritte Ausgabe vor, für die er fünf damals in Warschau verfügbare Handschriften heranzog, deren Text er aber in erster Linie auf den Codex Kuropatnicki stützte. Eine allein auf den Codex Eugenianus gestützte Ausgabe wurde 1862 von Graf Alexander Przeździecki publiziert, der diese Handschrift einige Jahre zuvor auf einer seiner Bibliotheksreisen für die Vincentius-Forschung in Wien entdeckt hatte. Seiner Ausgabe wurde in einem gesonderten Band eine erste vollständige polnische Übersetzung zur Seite gestellt. Bereits zwei Jahre später erschien eine weitere, von dem Krakauer Gymnasialprofessor Adolf Antoni Klemens Mułkowski verantwortete Ausgabe. Sie stützte sich vor allem auf acht seinerzeit in der Krakauer Jagiellonen-Bibliothek, in der Mułkowski auch als Bibliothekar tätig war, vorhandene Handschriften des 15. Jahrhunderts. Parallel zu Przeździecki und Mułkowski hatte seit den 1850er Jahren auch der Jurist August Bielowski eine Ausgabe der Chronica Polonorum vorbereitet. Sie erschien 1872 im zweiten Band der von ihm initiierten Monumenta Poloniae Historica. Der autodidaktische Philologe war der erste, der alle seinerzeit verfügbaren (30) vollständigen Abschriften und die beiden Exzerpte in Augenschein nahm, wenngleich er seine Edition in erster Linie auf den Codex Kuropatnicki und alternativ den Codex Eugenianus stützte. Sie blieb für über hundert Jahre die beste und vollständigste Ausgabe. Ihr entnahm auch Max Perlbach 1893 jene Auszüge der Chronica Polonorum, die er in Band 29 der MGH-Scriptores zusammenstellte. Perlbach war der erste wissenschaftlich geschulte Fachmann, der sich editorisch mit dem Chroniktext befasste, auch wenn er die Bielowski-Edition lediglich mit dem ihm zugänglichen Codex Eugenianus und der Breslauer Rhediger-Handschrift abgleichen konnte.
In der polnischen Forschung setzten zwar bald nach der Jahrhundertwende Vorarbeiten für eine neue, erstmals professionell erarbeitete, wissenschaftlich-kritische Edition ein248, doch dauerte es nach Perlbach noch einmal gut hundert Jahre, ehe der Krakauer Altphilologe und Mediävist Marian Plezia nach jahrzehntelanger Vorbereitung fast 80-jährig kurz vor seinem Tod die heute gültige Ausgabe publizieren konnte.249 Der von Plezia gebotenen Textgestalt liegt eine skrupulöse Analyse sämtlicher nach 1945 verfügbaren (29)250 Handschriften sowie der beiden Exzerpte zugrunde. Zudem wurden jüngere Abschriften aus den älteren gedruckten Ausgaben und Aufzeichnungen sowie Abschriften der Editoren des 19. Jahrhunderts herangezogen, auch umfassend die von Vincentius direkt oder indirekt verarbeiteten antiken und mittelalterlichen Vorlagen, schließlich die aus seinem Text schöpfende mittelalterliche polnische historiographische Überlieferung ausgewertet. Im Ergebnis liegt eine solide Ausgabe vor, deren Textgestalt und kritischer Apparat – auch wenn manche kleinere Fehler begegnen und die eine oder andere Rekonstruktion und Emendation auf Kritik stößt – seither die maßgebliche Grundlage für die Auseinandersetzung mit dem Chroniktext darstellt.