Читать книгу Die Chronik der Polen des Magisters Vincentius - Eduard Mühle - Страница 17
4. Stilistische und sprachliche Gestaltung
ОглавлениеWährend das Spätmittelalter Vincentius angesichts solcher Vielschichtigkeit noch als „rhetor mirificus“157 oder „sublimis et disertus“158 rühmte, mehrten sich in der Neuzeit die Klagen über ebendiese „erhabene und redegewandte“ Rhetorik. Schon Maciej von Miechów (1457–1523) nannte die Chronica Polonorum kompliziert und schwer verständlich („nodose et involute“).159 Der Herausgeber der ersten Druckfassung rügte 1612 ihr Latein160, das auch Józef Maksymilian Ossoliński als „verwildert“ und „barbarisch“ bezeichnete161 und viele nach ihm als so schwülstig und aufgeblasen empfanden, dass es den Text an vielen Stellen auf den ersten Blick kaum verständlich erscheinen lasse.162 Dass der Text so schwer verständlich ist, liegt allerdings nicht etwa an einer sprachlichen Unbeholfenheit oder gar Unzulänglichkeit des Verfassers. Im Gegenteil: Vincentius schrieb nicht nur ein korrektes Latein, sondern beherrschte es geradezu „meisterhaft“.163 Er verfügte über einen Wortschatz, der mit knapp 6000 Vokabeln (in einem mit ca. 42.500 lexikalischen Einheiten nicht übermäßig langen Text) fast muttersprachliches Niveau erreichte.164 Dass er sich im Latein überaus sicher fühlte, belegen seine zahlreichen Neologismen, verblüffenden Wortspiele, geschickten Alliterationen, innovativen Flexionen und überraschenden Synonyme. Sie kennzeichnen neben einer „unbändigen Syntax“165, einer prunkhaften Metaphorik, einer Vorliebe für tier- und naturkundliche Symbole, für seltene Ausdrücke und gelehrte Zitate sowie einer feinen Ironie den Stil und die Sprache der Chronica Polonorum.
Dieser Stil war keine verschrobene Eigentümlichkeit des polnischen Chronisten, sondern entsprach einer zeitgenössischen Mode, für die das Werk Alain de Lilles (1128–1202) ein französisches Parallelbeispiel darstellt und literaturtheoretische Schriften im Hochmittelalter die Bezeichnung „schwerer Schmuck “ (ornatus difficilis/gravis) entwickelt haben.166 Wie dieser Stil funktionierte, hat Albericus von Monte Cassino (ca. 1030–1098/99) schon in den 1080er und 1090er Jahren an konkreten Beispielen anschaulich vor Augen geführt. Gemäß seinem Breviarium de dictamine sollte ein einfacher Fragesatz wie „Hast du gegessen?“ („comedisti an non?“) in die gewundene Formulierung „Hat dein Steuereinnehmer heute schon die tägliche Steuer erhoben?“ („Percipitne die hodierna debitum cottidianum tuus exactor?“) gekleidet, aus dem klaren Rat „Verkehre nicht mit Schätzern“ („ne habites cum garrulis“) die verklausulierte Empfehlung gemacht werden: „Nimm nicht Schwalben ins Haus auf, so meint Pythagoras“ („Ne habeas hirundines domi, ut ait Pitagoras“).167 Galfred von Vinsauf, der englische Rhetoriker und Altersgenosse des Vincentius, benannte sieben Arten, einen ‚schweren Schmuck‘ zu kreieren: „Primum est ponere significans pro significato; secundum, ponere materiam pro materiato; tertium, ponere causam pro causato; quartum, proprietatem pro subjecto; quintum, ponere continens pro contento; sextum, ponere partem pro toto, vel totum pro parte; septimum, ponere consequens pro antecedenti.“168 Angestrebt war mithin eine Redeweise, die ihre eigentliche Aussage hinter dem Uneigentlichen oder Gegenteil bzw. einer Hülle von Zeichen, Symbolen und Allegorien versteckte und selbst über ganze Absätze und Erzählmotive hinweg ihre ‚Wahrheiten‘ hinter einem Mantel von Erdachtem und Fiktivem verhüllte. Ernst Robert Curtius nannte das einen „Manierismus“, der „die Dinge nicht normal, sondern anormal sagen“ wollte, „das Künstliche und Verkünstelte vor dem Natürlichen“ bevorzugte und zu „überraschen, in Erstaunen [zu] setzen, [zu] blenden“ beabsichtigte.169 Vincentius hat sich meisterlich solcher Blendung bedient, ja kann geradezu als ein Musterbeispiel für die Anwendung des ‚schweren Schmucks‘ und der (als „integumentum“ oder „involucrum“ bezeichneten) verhüllenden Redeweise angesehen werden.170
Zu diesem Stil gehörte auch ein ostentativer Rückbezug auf die Antike, dessen Funktion darin bestand, dem Leser einerseits die Gelehrsamkeit des Autors, andererseits die Geschichte Polens als integralen Bestandteil der Weltgeschichte vor Augen zu führen. Diese bewusste ‚Antikisierung‘ kommt nicht nur in den zahlreichen aus der Antike geschöpften Anekdoten, Geschichten und Sentenzen zum Ausdruck, die in die Erzählung eingebunden sind, sondern auch in der Sprache selbst. So bedient sich Vincentius einer differenzierten spätrömischen Begrifflichkeit sowie Gräzisismen auch da, wo er nicht antike, sondern zeitgenössische polnische Verhältnisse beschreibt. Das piastische Reich wird so zu einer „res publica“ oder „patria“, seine führende Elite zu „senatores“, die sich in einem „sacer senatus“ oder „consistorium“ beraten; die einzelnen Landesteile werden als „provinciae“, deren führende Amtsträger als „praesides“, Heeresabteilungen als „legiones“ oder „cohortes“, Kirchenführer als „praesules“, „antistites“ und „archipontifices“ bezeichnet. Slawische Namen werden romanisiert oder erhalten griechische Suffixe, so dass aus dem polnischen Krak Graccus, aus Popiel Pompilius, aus Sieciech Cethegus oder aus Jaxa Aiax wird und die Leute des Mieszko als Mesconnides begegnen. Gelegentlich wird auch ein slawischer Name ganz in griechischer Übersetzung geboten (Bogislaw – Theodoxos). Dass sich Vincentius griechischer Worte oder Teilelemente bediente, hat mitunter die Vermutung nahegelegt, dass er Griechisch beherrschte.171 Allerdings hat er seine Gräzisismen recht frei und oft in einer Weise verwendet, die dem Griechischen selbst fremd war, so dass wohl zu Recht darauf hingewiesen worden ist, dass seine „ganzen vermeintlichen Griechischkenntnisse einfach nur ein schmückendes Beiwerk [waren], das die Gelehrsamkeit des Autors bezeugen soll[te]“, aus dem aber nicht geschlossen werden kann, dass er Griechisch konnte.172
Als ein weiteres charakteristisches Stilmittel des Vincentius fällt seine Vorliebe für gelehrte Zitate und Entlehnungen auf. Die Frage, welche Formulierungen der Chronica Polonorum als wörtliche Zitate oder sinngemäße Entlehnungen angesehen werden können bzw. welchen – von Vincentius selbst nur in wenigen Ausnahmefällen genannten – Werken und Autoren diese zu verdanken sind, hat die Forschung seit dem 19. Jahrhundert besonders intensiv bewegt. Im Ergebnis ist nicht nur eine umfangreiche Forschungsliteratur zu dieser Frage vorgelegt, sondern auch eine (vermeintlich) „gewaltige Literatur“ ermittelt worden, „die den gelehrten Hintergrund der Chronik des Vincentius“ gebildet haben soll.173 Im Detail fallen die Einschätzungen dabei durchaus unterschiedlich aus, so dass keineswegs vollständige Einigkeit darüber besteht, aus wie vielen bzw. welchen Werken Vincentius wie intensiv geschöpft hat, welche Autoren er wie genau kannte und wie oft er sie an welchen Stellen seines Werkes direkt oder indirekt zitiert.
Neben der Bibel, auf die der Chronist als Geistlicher naheliegenderweise häufig Bezug nimmt174, hat die Forschung nicht weniger als 36 Werke von 20 antiken nichtchristlichen Historikern, Philosophen und Dichtern identifiziert, aus denen in der Chronica Polonorum – je nachdem, ob wir Heinrich Zeissberg, August Bielowski, Oswald Balzer, Brygida Kürbis, Marian Plezia oder Katarzyna Chmilewska folgen – zwischen 128 und 166 Mal direkt oder indirekt zitiert wird.175 Neuerdings wird zusätzlich auch auf sokratisch-platonische Texte, insbesondere den Timaios in der lateinischen Übersetzung des Calcidius, oder lateinische Aristoteles-Texte verwiesen, die Vincentius ebenfalls als Inspirationsquellen bzw. Vorlagen gedient haben sollen.176
Die zahlenmäßige Differenz bei den ermittelten Zitaten ergibt sich zum Teil aus einer mit der Zeit immer genaueren Kenntnis des Chroniktextes und seiner Quellen, geht aber zu einem Teil wohl auch auf eine gewisse Tendenz der polnischen Forschung zurück, Vincentius durch den Nachweis möglichst vieler gelehrter Zitate als besonders gebildet erscheinen zu lassen. Bei genauerer Betrachtung der reklamierten Zitate und Entlehnungen zeigt sich, dass manche lediglich in einer Übereinstimmung von wenigen Worten bestehen bzw. nur bei einem großzügigen Analogie-Verständnis als sinngemäße Übernahmen angesehen werden können. Zudem begegnen – legt man die Zahlen von Katarzyna Chmielewska zugrunde177 – fast zwei Drittel der Werke, die Vincentius vermeintlich als Vorlagen gedient haben, lediglich ein oder zwei Mal (in 16 von 39 Fällen ein einziges Mal, in sechs Fällen zweimal). Sechs Werke (drei von Cicero, je eines von Juvenal, Macrobius und Ovid) begegnen dreimal und fünf (die Metamorphosen und die Ars amandi von Ovid, die Ars Poetica von Horaz, die Satirae des Persius und Quintilians Institutio oratoria) viermal. Daneben sind lediglich vier Werke ermittelt worden, aus denen fünfmal (Pharsalia des Lucan), sechsmal (Vergils Aeneis178) bzw. achtmal (Res gestae Alexandri Magni des Iulius Valerius sowie die Commentarii in somnium Scipionis des Macrobius179) zitiert wird. Wirklich intensiv ausgeschöpft hat Vincentius dem gegenüber lediglich zwei antike Werke: Senecas Epistuale morales ad Lucilium, aus denen bis zu 14 Mal zitiert wird und die Epitoma Historiarum Phillippicarum Pompei Trogi des Justin, aus denen bis zu 64 Zitate bzw. Entlehnungen begegnen.180 Man wird mithin davon ausgehen können, dass Vincentius von den fraglichen 39 antiken Vorlagen nur einen kleinen Teil tatsächlich unmittelbar im Original gelesen haben wird. Den größeren Teil der von der Forschung ermittelten Zitate und Entlehnungen dürfte er eher zeitgenössischen Florilegien entnommen oder seinen memorierten Schullektüren verdankt haben.181
Ein erheblicher Teil der Zitate aus antiken Werken begegnet in Gestalt von Versen. Diese werden teils wörtlich, teils verkürzt oder paraphrasiert, zumeist in kurzen Fragmenten vor allem Horaz, Vergil und Ovid, daneben vereinzelt auch Juvenal, Lucanus, Persius, Stacius, Publilius Syrus, vielleicht auch Claudianus und Terencius entnommen.182 Auch hier verfährt Vincentius mit seinen Vorlagen häufig recht frei, verändert nicht selten ihren Sinnzusammenhang und ergänzt die zitierten Teile um eigene Verse. Tatsächlich bietet die Chronica Polonorum eine große Zahl von Einzel versen, (elegischen) Distichen, kleineren Gedichten bis hin zu einer mehrseitigen Versdichtung, die ganz offenbar von Vincentius selbst stammen.183 Sowohl die eigenen wie die entlehnten Verse hatten überwiegend ausschmückende Funktion. Sie sollten dem Werk einen besonderen literarisch-kunstvollen Charakter verleihen und den Autor als Meister des Wortes und der Dichtkunst erweisen. Doch konnten insbesondere die längeren Dichtungen in ihrem ornatus difficilis verschlüsselt („sub integumento“) auch heikle politische Inhalte vermitteln. So lässt sich der 58 Verse lange Dialog zwischen dem Frohsinn und der Trauer in Buch IV nicht nur als ein metaphorisches Klagelied auf den Tod Kasimirs lesen, sondern auch als eine gedankliche Auseinandersetzung mit zwei konträren Ordnungsvorstellungen, die in Gestalt des „alten“, von Mieszko III. repräsentierten, und des „neuen“, von Kasimir II. verkörperten „Rechts“ aufeinanderprallten und die Zeitgenossen vor die Wahl stellten, sich politisch für eine der beiden Seiten zu entscheiden. Auch der Chronist entschied sich – zugunsten Kasimirs und des neuen, die alte Senioratsord nung aushebelnden Rechts. Doch konnte er diese politische Stellungnahme auch in diesem Fall einmal mehr mit Hilfe seiner kunstvollen Rhetorik verschleiern.184
Nur selten hat sich der geistliche Chronist auf die Kirchenväter bezogen. Es finden sich lediglich sechs Bezugnahmen auf Ambrosius, Hieronymus, Isidor von Sevilla und Athanasius (jeweils einmal) bzw. Augustinus (zweimal). Die Entlehnungen stehen dabei keineswegs im Kontext theologischer Ausführungen, sondern werden primär zur Bekräftigung anekdotischer oder didaktisch-philosophischer Aussagen eingefügt.185 In ähnlicher Weise haben auch Vincentius’ vielfache Bezugnahmen auf das römische und kanonische Recht nicht einem genuin juristischen Anliegen gedient.186 Denn unabhängig davon, ob die – je nach Forschermeinung wiederum unterschiedlich zahl- und umfangreichen187 – wörtlichen Zitate, sinngemäßen Entlehnungen oder terminologischen Repliken aus dem Corpus Iuris Civilis und dem Decretum Gratiani lediglich eine oberflächliche Rechtskenntnis188 oder „in vollem Glanze die mächtige Gelehrsamkeit Kadłubeks“189 belegen, sie wurden in erster Linie als literarisches Stilmittel eingesetzt. Sie sollten dem Text eine weitere besondere rhetorische Note verleihen und dem Leser zugleich einmal mehr die Gelehrsamkeit seines Verfassers vor Augen führen.190 So hat Vincentius seinen Rechtsvorlagen denn auch zumeist „nur die rhetorische Färbung, nicht den Inhalt des Erzählten“ entnommen.191 Ob er sich dabei auf sein ausgezeichnetes Gedächtnis verlassen konnte, das ganze Partien des Codex Iustiniani, der Digesten und Institutionen sowie des Decretum Gratiani in wörtlichen Zitaten parat hielt, oder auf Handschriften zurückgreifen musste, die er vielleicht selber von seinem Auslandsstudium mit nach Polen gebracht hatte, ist in der Forschung umstritten und kaum eindeutig zu entscheiden.192
Auffällig selten, wenn überhaupt begegnen in der Chronica Polonorum Bezugnahmen auf zeitgenössische Autoren bzw. originäre Texte des 11.– 12. Jahrhunderts. Zwar hat die Forschung immer wieder einmal auf Parallelen zu zeitgenössischen Werken bzw. auf Analogien zu Zeitgenossen des Vincentius verwiesen, sei es auf Geoffrey von Monmouth193, Johannes von Salisbury194, Alain de Lille195, Bernhard von Clairvaux196 oder Saxo Grammaticus197. Doch ist bislang keine merkliche Zahl tatsächlicher Zitate oder sicherer Entlehnungen ermittelt bzw. ein fühlbarer inhaltlicher Niederschlag nachgewiesen worden, der dafür spräche, dass sich die Chronica Polonorum in größerem Maße an konkreten Parallelwerken der ‚Renaissance des 12. Jahrhunderts‘ orientiert hätte.198