Читать книгу Die Chronik der Polen des Magisters Vincentius - Eduard Mühle - Страница 15
2. Abfassungszeit
ОглавлениеWann und wo genau die in diesem politischen Kontext entstandene Chronica Polonorum zu Pergament gebracht worden ist, darüber gehen die Ansichten auseinander.119 Einhellig ausgeschlossen werden in der neueren Forschung die Jahre, in denen Vincentius als Bischof keine Zeit für die aufwändige Arbeit an einer Chronik gefunden haben dürfte.120 Gleichfalls seit langem verworfen ist die ältere Vorstellung Joachim Lelewels und Józef Maksymilian Ossolińkis, dass Vincentius lediglich Buch IV verfasst habe, die Bücher I–III aber von dem bereits 1166 gestorbenen Bischof Matthäus stammen.121 Schon Heinrich Zeissberg verwarf diese These mit dem Argument, dass die Chronik ein „Werk des Vincentius aus einem Gusse in Styl und Lebensanschauung“ und „die Anlage des vierten Buches […] jener der drei ersten Bücher so ähnlich [sei], dass es nicht schwer fiele, dasselbe auch jetzt noch zu dialogisieren“.122 Als Abfassungszeit stehen mithin der Zeitraum vor seiner Wahl zum Bischof (1207) oder die Zeit seines Aufenthalts im Kloster (1218–1223) zur Diskussion. Mitunter wird auch vermutet, dass das Werk in zwei deutlich getrennten Etappen entstanden sei bzw. zwischen dem Abschluss der Bücher I–III und der Abfassung von Buch IV eine Unterbrechung eingetreten sei. Dabei sind die Ansichten darüber geteilt, ob der zweite Anlauf noch vor der Bischofswahl oder erst nach 1218 im Kloster Jędrzejów erfolgte.
Die Anhänger einer frühen Abfassungszeit gehen davon aus, dass die Chronik ein Auftragswerk Herzog Kasimirs II. gewesen sei. Als Belege dafür dienen Bemerkungen im Prolog zum Gesamtwerk („strennuissimus principum“)123 sowie im Prolog zu Buch IV („preses epulantium“)124, überdies eine Wendung, in der Vincentius sich direkt an Herzog Kasimir II. zu wenden scheint („uides, igitur, Kazimire“)125 und die nicht nach einer rhetorischen, erst nach dem Tod des Herzogs verwendeten Figur aussehe. Für den delikaten geschichtspolitischen Auftrag, mit Hilfe einer Chronik seine usurpierte Senioratsherrschaft legitimieren zu lassen, habe der Herzog zweifellos auf einen erfahrenen Mann zurückgegriffen. Daher könne Vincentius erst als reifer Mann das Werk begonnen haben. Da Kasimir II. zudem wohl nicht gleich in den ersten Jahren seiner Herrschaft an einen solchen Auftrag gedacht haben dürfte, soll er den Auftrag dazu erst um 1190 erteilt haben.126 Im Übrigen würden die Lebendigkeit und Frische, in der das vierte Buch die Ereignisse der Jahre 1177 bis 1202 beschreibe, die Möglichkeit ausschließen, dass er es erst Jahre später in der Abgeschiedenheit des Kloster Jędrzejów geschrieben habe.127 Obwohl die Schilderung der Ereignisse im Jahr 1202 abbreche, enthalte Buch IV (24, 19) Hinweise darauf, dass Vincentius noch um bzw. nach 1205 an dem Werk gearbeitet habe. Doch dürfte er es in dem Moment – vielleicht recht abrupt – zur Seite gelegt haben, in dem er zum Bischof gewählt wurde; der letzte Satz des Werkes trage deutliche Züge einer Unabgeschlossenheit.128
Die Anhänger einer späten Abfassungszeit haben dagegen betont, dass die Chronica Polonorum (z.B. mit dem Hinweis auf „so oft kaum überstandene Schiffbrüche“129) eine besondere altersweise Bescheidenheit bzw. die Erfahrungen und Enttäuschungen eines langen Lebens widerspiegele, weshalb sie nur von einem Mann in hohem Alter verfasst worden sein könne. Zudem lasse das Werk eine gedankliche und stilistische Nähe zum geistigen Milieu der Zisterzienser (Schriften und Viten Bernhards von Clairvaux) erkennen, auf das Vincentius am ehesten in der Klosterbibliothek von Jędrzejów Zugriff gehabt haben könne.130 Schließlich verrate Buch IV eine Kenntnis der Verhältnisse im benachbarten Fürstentum Halic während des zweiten Jahrzehnts des 13. Jahrhunderts und lasse auch mit seiner politisch-ideologischen Tendenz erkennen, dass die Chronik insgesamt erst nach 1218 geschrieben worden sei.131
Eine weitere These vertritt neuerdings die Ansicht, dass Vincentius an dem Werk nicht nur sehr lange gearbeitet, sondern im Verlauf des Schreibprozesses auch eine wesentliche Umarbeitung bereits fertiggestellter älterer Textteile vorgenommen habe. Erst die überarbeitete Fassung habe die Person Herzog Kasimirs II. in den Vordergrund gerückt, während zuvor dessen älterer Bruder und Konkurrent Mieszko III. im Mittelpunkt der Erzählung gestanden habe. Daher könne Kasimir auch nicht als Initiator der Chronik angesehen werden, obgleich er später das Protektorat über den entstehenden Text übernommen haben dürfte (weshalb er im Prolog als „der tüchtigste der Fürsten“ bezeichnet werde). Der ursprüngliche Anstoß zur Abfassung des Werkes sei vielmehr von Bischof Matthäus ausgegangen, dem zu Beginn von Buch IV genannten „Vorsteher des Gastmahls“. Ihm habe Vincentius, wie er an der gleichen Stelle selber andeutet, als ein „das Tintenfass mit dem Federkiel“ tragender, „die rauchende Lampe“ reinigender „Diener“ zur Seite gestanden, weshalb es naheliege, dass er in dessen Umfeld bereits in den 1160er Jahren begonnen habe, Material für das spätere Werk zu sammeln. Dessen einzelne Teile müsse er zunächst nicht notwendig in chronologischer Reihenfolge verfasst haben, sondern könne sie zu unterschiedlichen Zeiten auf einzelnen Blättern notiert haben, die er später zu einem chronologischen Text anordnete. Dabei habe Vincentius sicher zuerst mit der Beschreibung der Ereignisse der 1160er und 1170er Jahre begonnen, und zwar unabhängig davon, wer als Senior in Krakau herrschte. In der heute vorliegenden Form sei die Chronik dann erst während der Herrschaftszeit Kasimirs II. und Leszeks entstanden, wobei der Autor seinen Text an die veränderten politischen Verhältnisse angepasst habe, d.h. auf die politische Linie Kasimirs eingeschwenkt sei, aus deren Perspektive heraus er in den Büchern I–III anschließend auch die legendäre Vorgeschichte Polens sowie die ältere Geschichte der Piasten dargestellt habe.132
Die Vagheit aller vorgebrachten Argumente macht deutlich, dass die Frage, wann genau die Chronica Polonorum verfasst wurde, nicht abschließend beantwortet werden kann. Ob sie in einem längeren Kompilationsprozess entstand, der konzeptionelle Änderungen einschloss, oder in einer eher kurzen, konzentrierten Schreibphase, vielleicht aber auch in mehreren, von Unterbrechungen getrennten Etappen, bleibt letztlich offen. Fest steht nur, dass sie als ein Werk des ausgehenden 12. bzw. beginnenden 13. Jahrhunderts betrachtet werden kann.