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5. Rezeption und Wirkungsgeschichte

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Erste Spuren einer innerpolnischen Rezeption der Chronica Polonorum begegnen in den frühen 1240er Jahren. Zu diesem Zeitpunkt verfasste der Dominikaner Vincentius von Kielce eine Vita minor sancti Stanislai, die sich bei der Beschreibung des im Jahr 1079 ausgetragenen Konflikts zwischen dem Krakauer Bischof Stanisław und Herzog Bolesław II. auf die Chronik des Vincentius stützte.199 Ähnliches gilt für die entsprechenden, ins dritte Viertel des 13. Jahrhunderts datierten Einträge in den Annalen des Krakauer Domkapitels.200 In beiden Fällen könnten die Autoren auf ein Exemplar der Chronica Polonorum zurückgegriffen haben, dass sich damals vielleicht im Archiv des Krakauer Herzogs Bolesław des Schamhaften befand. Auf ein solches ‚Archivexemplar‘, bei dem es sich möglicherweise um das Original gehandelt hat, nimmt im Mai 1252 eine Bulle Papst Innozenz’ III. Bezug. Sie kam mit dem päpstlichen Legaten Jakob von Velletri nach Polen, der bestimmte Fragen der damals anstehenden Kanonisierung des hl. Stanisław klären sollte. Zu diesem Zweck sollte sich der Legat, wie es in der Urkunde heißt, auch mit einer Chronik vertraut machen, die ein einschlägiges Kapitel über Stanisław enthielt und ihm aus dem herzoglichen Archiv zugänglich gemacht wurde.201 Bei diesem Werk kann es sich, so die allgemeine Ansicht, nur um die Chronica Polonorum gehandelt haben.202

Im Kontext der Kanonisierung des hl. Stanisław muss eine Abschrift der Chronik auch nach Posen gelangt sein, wo sie in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts Eingang in eine dem Posener Kanoniker Mikołaj von Rogalin zugeschriebene, heute nicht mehr erhaltene Sammelhandschrift gefunden hat.203 Wie umfangreiche, wörtliche oder überarbeitete Auszüge aus der Chronica Polonorum in der im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts im franziskanischen Milieu verfassten Chronik des Dzierzwa204, in der um 1300 von schlesischen Zisterziensern zusammengestellten Schlesisch-Polnischen Chronik205 und der zwischen Ende des 13. und Ende des 14. Jahrhunderts entstandenen Großpolnischen Chronik206 belegen, war das Werk des Vincentius spätestens seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert in ganz Polen bekannt. Dass es bereits zu diesem Zeitpunkt auch im Schulunterricht verwendet wurde, kann nicht ausgeschlossen werden, erscheint aber weniger wahrscheinlich.207

Als Lehrmittel gewann die Chronica Polonorum erst im 15. Jahrhundert, nachdem die Wiederbelebung der Krakauer Universität (um 1400) und das Vordringen des Frühhumanismus dafür die entsprechenden Voraussetzungen geschaffen hatten, größere Verbreitung. Seit den 1430er Jahren wurde sie als Geschichts- und Rhetorik-Lehrbuch entsprechend oft kopiert und zudem mit einem ausführlichen Kommentar des Krakauer Universitätslehrers Jan von (1400–1472) versehen.208 Von der Krakauer Universität aus gelangte der Chroniktext auch in das Lehrprogramm einiger, vor allem kleinpolnischer Kathedral-, Kollegiats- und Pfarrschulen.209 Auch dort wurde das Werk „vel ob hystorie meritum, vel elegantiam scripcionis“ gelesen.210 Doch trat neben das allgemeine Lob bereits in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts auch erste Kritik. Jan Długosz zufolge wurde die Chronica Polonorum zwar „von vielen Polen gerne gelesen […], zumal sie auch durch Schönheit des Stils und Kraft des Ausdrucks in nicht gewöhnlicher Weise anzieht“, doch würde sie auch „von vielen wegen ihres Wortschwalls und darum getadelt […], weil sie mehr Sorge für fremde als einheimische Erzählungen“ trage.211 Andere wie Gregor von Sanok (1406–1477) stießen sich bereits an den „Fabeln“, „Ungeheuerlichkeiten“ und „Ammenmärchen“, die Vincentius über die Urgeschichte der Polen vorgebracht habe.212 Nach einer Curricularreform verschwand sein Werk seit den 1480er Jahren denn auch aus dem Lehrplan der Krakauer Universität und verlor – nach dem Ausbleiben weiterer Abschriften zu urteilen – rasch an Popularität. Daran änderte 1612 auch die erste gedruckte Ausgabe wenig, die erst hundert Jahre später einen unveränderten Nachdruck erfuhr.

Während sich in Polen die Erinnerung an Vincentius und sein Werk im Kontext der Bestrebungen um seine Seligsprechung zunächst eher auf eine religiöse Ebene verlagerte213, ließ das neue Interesse der Aufklärung an der Geschichte der Slawen die Chronica Polonorum im 18. Jahrhundert erstmals in den Blick nichtpolnischer Altertumsforscher und Universalhistoriker geraten. Allerdings stellte auch deren rationalerer Blick die Erzählungen des Vincentius zunehmend in Frage. So bemerkte August Ludwig Schlözer in den 1760er Jahren, dass die Chronica Polonorum die Anfänge des polnischen Volkes mit vielen lächerlichen Geschichten in Verbindung gebracht habe214, während František Palacký Vincentius 1836 zu jenem „fade[n] Kleeblatt historischer Romanschreiber“ zählte, das gewisse Zeitgenossen damals „aus falschem Nationalismus für die Geschichte zu retten sich bemüh[t]en“, was dem böhmischen Historiker als „wahrlich ein unerfreuliches Zeichen [sein]er Zeit“ erschien.215

Gegen solche Kritik, die Alfred von Gutschmid in den 1850er Jahren noch weiter zuspitzte216, erhob die zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstehende polnische Geschichtsschreibung naturgemäß Einwände. Joachim Lelewel bezeichnete die Kritik Schlözers nicht nur als eine boshafte Herabwürdigung und Verleumdung eines „ehrwürdige[n] Geschichtsschreiber[s]“, sondern sah in ihr mehr noch eine Schmähung der ganzen polnischen Nation.217 Diese schöpfte in ihrem Kampf um ‚Wiedergeburt‘ bzw. Rückgewinnung einer unabhängigen Staatlichkeit in der Tat aus einer romantischen Rückbesinnung auch auf die von Vincentius entworfenen Vergangenheitsbilder.218 Und so lagen den zwischen 1824 und 1872 gleich mehrfach unternommenen Versuchen, die Chronik in einer kritischen Ausgabe zugänglich zu machen, zweifellos auch nationalpatriotische Motive zugrunde. Die bestehenden Vorbehalte gegen Text und Autor konnten mit den Editionen und den ersten, sie begleitenden kritischen Studien219 freilich nicht ausgeräumt werden. Heinrich Zeissberg, der 1870 die erste umfassende Studie eines Nichtpolen über die Chronik und ihren Autor vorlegte, gestand dieser zwar zu, dass sie unter Berücksichtigung von Ort und Zeit ihrer Entstehung „hohes geleistet“ habe, betonte aber, dass sie nicht in der Lage gewesen sei, „der Form den Preis der Schönheit, dem Inhalte auch nur den Werth zuzugestehen, auf welchen die Leistungen anderer Völker in jener Zeit billigen Anspruch erheben“. Geprägt von einer „herrschenden Unklarheit über die Grenze von Dichtung und Wahrheit“ sei das Werk nur zu „verschrobenen Ergebnissen“ gelangt und als Chronik „völlig misslungen“.220

Aus einem solchen Urteil sprach bereits der Geist des historistischen Positivismus, der mittelalterliche Texte allein danach beurteilte, welchen faktographischen Beitrag sie zur Darstellung der ‚wirklichen Vergangenheit‘ zu leisten vermochten. Dieser Zugang und damit eine entsprechend negative Bewertung der Chronica Polonorum setzten sich im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert auch im geteilten Polen durch. Besonders wirkmächtig ist in diesem Sinn die scharfe Kritik des Lemberger Historikers Tadeusz Wojciechowski geworden. Er sprach der Chronica Polonorum jeden Quellenwert ab, da Vincentius keine einzige nüchtern mitgeteilte Nachricht über die vaterländische Geschichte biete, stattdessen aber hervorragend allerlei Geschichten erfunden habe, schlimmer noch, ihm an Dutzenden Beispielen nachgewiesen werden könne, „dass er bewusst und vorsätzlich gelogen hat“.221 Dieses Bild von Vincentius als Fabeldichter und Lügner, der sein Unwissen überdies mit einer aufgeblasenen und verschrobenen, pseudowissenschaftlichen Phraseologie zu bemänteln versucht habe, hat sich bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gehalten.222

Zwar belebten die 1918 und 1923 begangenen 700-Jahr-Feiern in der Zweiten Polnischen Republik das Interesse am ersten polnischen Chronisten und seinem Werk223, doch blieb die mediävistische Forschung unter dem Eindruck des strengen Urteils Wojciechowskis zunächst weiterhin überwiegend zurückhaltend. So wurden auch die tiefschürfenden Studien, die der 1933 verstorbene Lemberger Rechtshistoriker Oswald Balzer seit 1923 an der Chronica Polonorum vornahm und die bis heute einen der gewichtigsten Beiträge der polnischen Vincentius-Forschung darstellen, nicht primär aus einem Interesse an der Chronik und ihrem Autor begonnen. Sie stellten vielmehr ein Nebenprodukt von Forschungen über die Statuten Kasimirs des Großen bzw. die Verbreitung des römischen Rechts im mittelalterlichen Polen dar.224 Erst seit den 1950er Jahren wandelte sich das Urteil über die Chronica Polonorum allmählich zum Positiven, wenngleich Marian Plezia noch 1991 konstatierte, dass die Chronik – auch aufgrund ihres schweren Lateins – in hohem Maße eine terra incognita geblieben sei.225

Immerhin intensivierte sich die Forschung in den 1970er Jahren ganz erheblich, so dass geradezu von einer „Vincentius-Renaissance“ gesprochen wurde.226 Zu dieser trugen nicht zuletzt die 1973 begangene 750. Wiederkehr des Todestages des Chronisten227 und die 1974 erschienene erste moderne polnische Übersetzung seiner Chronik228 bei. Seither hat sich das Interesse der polnischen Mediävistik an Text und Autor weiter verstärkt. Wurden zwischen 1946 und 1972 im Durchschnitt jährlich vier, zwischen 1973 und 1984 bereits 9,5 wissenschaftliche Beiträge über die Chronica Polonorum und ihren Autor vorgelegt, so waren es zwischen 1993 und 2008 schon 16,5 und allein 2009 – nach dem 2008 begangenen 800. Jahrestag der Bischofsweihe des Vincentius – nicht weniger als 55.229 Dank der seit 1996 vorliegenden umfassend eingeleiteten und kommentierten, seither in zahlreichen Auflagen erschienenen Neuübersetzung von Brygida Kürbis ist die Chronica Polonorum heute nicht nur in der polnischen Forschung sehr präsent, sondern auch bei einem breiteren polnischen Publikum bekannt.

Die Chronik der Polen des Magisters Vincentius

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