Читать книгу Second Horizon - E.F. v. Hainwald - Страница 14

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»Wird er kommen?«, fragte das magische Abbild.

Babe blickte nicht auf, sondern musterte weiterhin die Umgebung. Die Kopfhörer hingen ihr locker um den Hals. Ihr Fuß wippte im Takt zur kratzigen Musik, welche bis zu ihren Ohren drang. Schließlich zuckte sie mit den Schultern und antwortete knapp:

»Wolf ist verlässlich.«

Tonies Projektion schürzte missbilligend die Lippen. Die Gesichtszüge waren starr und verrieten nichts. Das erste Zusammentreffen von Wolf und dem Schwärmer war scheinbar nicht besonders herzlich gewesen – dennoch war sich Babe sicher, dass die beiden gut zusammenarbeiten würden. Ihre Ziele waren unterschiedlich, ihre Charaktere noch viel mehr. Was sie vereinte, waren persönliche Beweggründe – das war ihrer Meinung nach mehr wert, als irgendein leeres Geschwafel von Loyalität.

Abgesehen davon, war Tonie herausragend. Der Schwärmer schaffte es unbemerkt eine arkane Kopie zu transferieren – und er saß dabei mitten im Herzen Neo-Lhasas! Die Schutzmechanismen des Schwarms waren technisch und magisch auf dem höchsten Stand. Babe vermutete, dass er irgendwie die Leylinien der Erde anzapfte, um die erforderliche Kraft zu fokussieren. Diese natürlichen Energiemeridiane waren schon seit vielen Zivilisationen die Grundlage für Magie und Kultur. Wenn jemand die Systeme hacken konnte, dann Tonie.

Doch noch war es nicht soweit.

Daher trafen sie sich hier im Industriesektor der Stadt. Die klare Abtrennung von Wohnungsgebiet, Gewerbe, Industrie, Forschung und Magiekanalisierung sorgte in Neo-Lhasa für Effizienz und Komfort. Es gab hier nur eine prall gefüllte, monumentale Hülle aus Beton, Carbon und Metalllegierungen.

Er lag genau zwischen der Stadt und diente zur Hälfte als Fundament der Indie-Siedlung. Hier unten gab es so gut wie keine Menschen auf den Straßen. Wobei das eher eine dürftige Umschreibung für die breiten Flächen war, welche die wuchtigen, kubischen Produktionsgebäude durchschnitten.

Babe und Tonie liefen zum vereinbarten Treffpunkt. Der Keramikbetonboden unter ihren Füßen war rissig, dennoch so glatt wie der Hintern eines Neugeborenen. Tonnenschwere Transportfahrzeuge mit automatischen Lenksystemen rollten an ihnen vorbei. Das Vibrieren ließ Babes Beine so heftig schlottern, als stünde sie ihrem schlimmsten Albtraum gegenüber. Ihre magische Begleitung bemerkte das natürlich nicht. Vermutlich saß Tonie bequem zuhause auf dem Sofa und genehmigte sich genüsslich einen eiskalten Drink, während das Abbild hier verweilte.

Als sich hinter einem Wust aus Rohren der Umriss eines monströsen Wesens herausschälte, flackerte die Illusion.

»Verdammtes Ding«, zischte Tonie. »Ich muss mich kurz neu anpassen.«

Damit war Babe wieder allein.

Die Kreatur glänzte fahl im Sonnenlicht. Gigantische Gliedmaßen waren in einer Laufbewegung eingefroren. Der schuppenbedeckte Körper wirkte jedoch so lebendig wie eh und je. Ein einzelnes Horn ragte aus der Stirn des breiten Schädels. Wut war für alle Zeiten in dessen faltiges Antlitz eingebrannt und schwarze Augen schimmerten vor wilder Raserei.

Dieses Vieh war eines der Resultate vorheriger Zivilisationen – zumindest vermutete man das. Es könnte genauso gut natürlichen Ursprungs sein. Allerdings wagte niemand, es genauer herauszufinden – auch nicht, wenn die Magie, welche es im Zaum hielt, atemberaubende Macht versprach.

Die Stasis des Kolosses war Magiern und Forschern ein Rätsel. Es gab Theorien, welche besagten, dass dieses Wesen in der Zeit eingefroren wäre. Manche vermuteten, man hätte seine Seele in eine Parallelwelt gesperrt. Andere wiederum mutmaßten, dass die Engel ihm schlicht befohlen hatten hier zu verharren, bis sie es riefen, um erneut Tod und Zerstörung über die Welt zu bringen.

Babe hielt Abstand. Sie konnte die Macht in ihren magiedurchdrungenen Knochen fühlen. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie manchmal nebelhaft Zeichen aufflackern sehen. Sie waren keinesfalls die bekannten, scharfgeschnittenen Runen. Ihre Formen waren organisch, kannten keine gerade Linie oder Trennung voneinander.

»So, das wär‘s«, vernahm sie erneut Tonies Stimme. »Die Fluktuationen in der Materie sind verdammt anstrengend.«

»Ein guter Ort für einen Plausch, oder?«, merkte Babe an und breitete die Arme aus, als würde das Monstrum zum Verkauf stehen. »Nervig, hier zu überwachen, weil man ständig neu kalibrieren muss.«

»Deswegen stehen hier drumherum auch keine Fertigungsanlagen. Trotzdem will man das Ding im Auge haben, also wurde es in Neo-Lhasa eben integriert«, erklärte Tonie. »Abgesehen davon, ist das Ding eben sehr ... faszinierend.«

»Eher sehr gefährlich«, seufzte Babe und schnalzte mit der Zunge. »Ich bin dafür, dass sie das Ding in handliche Bröckchen zertrümmern. Könnte man dann noch an Labore verscheppern – oder Touristen. Ja, Touristen kaufen jeden Mist.«

»Haben sie versucht«, entgegnete Tonie naserümpfend.

»Ach?« Babe hob eine Augenbraue. »Das mit den Touristen?«

»Sollte gesprengt werden. War 'ne blöde Idee«, erhielt sie zur Antwort, jedoch keinerlei Erklärung dazu. »Magie macht die Welt nicht zu einem besseren Ort.«

»Was sollte denn dieser theatralische Spruch?«, fragte Babe kichernd. »Du wirst doch jetzt nicht etwa tiefsinnig?«

»Magie ist nur ein Werkzeug wie Technik und Wissen. Sie ist weder gut noch schlecht«, fuhr die Projektion unbeirrt fort, während sie das eingefrorene Wesen musterte.

Babe zuckte nur mit den Schultern und fuhr sich mit der Hand durch ihr Haar. Tonies rundes Gesicht zeigte plötzlich echte Heiterkeit.

»Sie macht die Welt aber aufregend!«, ergänzte sie.

»Hah!«, rief Babe lachend aus. »Das Leben macht die Welt aufregend.«

Und wo wir gerade beim Thema sind, da kommt das Paradebeispiel dafür, stellte sie gedanklich fest, als sie die Straße hinabblickte.

Dort schoss Wolf auf einem Slide-Board mit halsbrecherischer Geschwindigkeit an einem Transporter vorbei. Er hielt das fliegende Brettchen eisern in der Spur. Die automatische Steuerung des entgegenkommenden Fahrzeugs war jedoch zu träge, um ihm rechtzeitig auszuweichen. Also beugte er sich zur Seite, packte sein Board am Rand und zog es im rechten Winkel an die Wand. Haarscharf raste der Transporter an ihm vorbei. Breit grinsend, sodass seine spitzen Reißzähne im Sonnenlicht aufblitzten wie eine Perlenkette, schlitterte er so noch ein Stück weiter, ehe die abebbende Fliehkraft sein Board wieder auf die Straße zwang.

Wolf ging in die Knie und zog einen höllisch scharfen Bogen um Babe und Tonie, sodass seine Schulter fast den Straßenbelag berührte. Dadurch bremste das Board hart ab. Er packte es lässig mit einer Pranke, während er absprang.

Babe pfiff anerkennend. Wolf war immer auf der Suche nach einem Moment aufregender Freiheit. Sie mochte diese Seite an ihm besonders – gleich nach seinem weichen Fell, verstand sich.

»Hübsches Manöver«, lobte sie ihn und zog ihre Sonnenbrille von der Nase. »Wenn ich‘s nicht besser wüsste, würde ich glatt behaupten, du wolltest uns beeindrucken, wie ein halb nackter Beachboy mit tief sitzender Hose.«

Wolf legte sich das Board hinter den Nacken, hakte seine Unterarme dahinter ein und zuckte mit den Schultern.

»Weiß nicht«, erwiderte er schmunzelnd und nickte Tonie zu. »Kann sein, sie will mich wieder nackt sehen.«

»Nein, er will das nicht«, antwortete Tonie, das Pronomen betonend. »Frag gefälligst vorher, wie du mich nennen darfst.«

»'tschuldigung«, murmelte Wolf und verzog das Gesicht. »Letztes Mal…«

»Frag«, schnitt er ihm das Wort ab und rollte mit den Augen. »Abgesehen davon glaube ich, dass du dich vor unserem Einsatz gern umbringen möchtest, damit du dich drücken kannst. Kein Wunder, dass ihr Indies vom Schwarm als destabilisierend betrachtet werdet. Minimale Effizienz bei maximalem Risiko.«

»Also ich fand, ich war höchst effizient dabei, meinen Spaß zu haben«, entgegnete Wolf amüsiert und bleckte die Zähne. Sein Schwanz schwenkte gelassen hin und her.

»Wo er recht hat …«, stimmte Babe zu, hob ihre schmale Hand und Wolf klatschte mit seiner breiten Pranke mit ihr ab.

»Perspektive«, entgegnete Tonie knapp und rückte mit beiden Händen den breiten Kragen seines Anzugs zurecht.

»Außerdem – was war das mit dem nackt? Also dem wieder? Hab ich was verpasst?« Babe wackelte frivol mit den Augenbrauen.

Wolf leckte sich über seine Nase und zwinkerte Tonie zu. Der Hacker hob eine Augenbraue gleichsam mit seiner Hand und hielt Zeigefinger und Daumen, wie schon in der Umkleide, sehr nah aneinander. Wolf schnaubte. Babe lachte lauthals. Dann verschwand Tonie einfach und beide glotzten ins Leere.

»Wenn er mich nicht im falschen Moment erwischt, ist er zumindest aushaltbar«, erklärte Wolf, zuckte mit den Schultern und wandte sich Babe zu. »Und nun? Er ist wohl weg.«

»Wir brauchen ihn hier nicht unbedingt«, antwortete sie und winkte ab. »Wollte nur eure Situation entschärfen. Warst am Kommunikator ein bisschen zickig.«

»Hat ja hervorragend geklappt«, brummte Wolf und schniefte laut. »Was wollen wir hier? Gibt doch nur totes Material an diesem Ort.«

»Das ist das Stichwort. Folge mir«, antwortete Babe, wandte sich um und lief voraus.

Wolf tippte auf ein Symbol an der Unterseite des Boards, woraufhin es sich auf die Größe einer Handfläche zusammenfaltete, und steckte es in seine Hosentasche. Das strapazierfähige Keramikmaterial war sehr leicht. Er verschränkte seine Arme vor der Brust und machte keine Anstalten Babe zu folgen. Sie hielt inne, wandte sich um und stopfte ihre Hände in die Hosentaschen.

»Habe ich dich je beschissen?«, fragte sie ernster, als Wolf es erwartet hatte.

Nein, niemals, gab Wolf gedanklich zu und schüttelte langsam seinen Kopf. Du bist die einzige Person, welche in mir nie nur den eigenen Nutzen sieht.

»Du wirst meinen Vorschlag nicht mögen«, sprach sie weiter und trat gegen einen kleinen Stein.

Wolf fuhr sich entnervt mit der Pranke über sein Gesicht. Er fühlte eine gewisse Art von Treue und Verbundenheit zu ihr.

Bei den Engeln, ich hoffe, das ist nicht der Köter in mir, dachte er frustriert. Manche Tiere vertrauen Menschen viel zu lang, selbst wenn, sie von ihnen misshandelt werden.

Er schloss seine Finger um den Kristall, der stets vor seiner Brust baumelte, seufzte und trottete ihr entgegen. Sie lächelte ihn an und stieß spielerisch mit der Schulter gegen seine Brust, als er neben ihr war. Seite an Seite liefen die beiden unter dem wilden Blick des Monstrums die Straße hinab.

Die Gebäude wurden flacher und bald liefen sie über offenes Land. Geschwungene, silbern glänzende Siliziumplatten bedeckten den Boden, soweit das Auge reichte. Ein paar schlanke, schwarze Obelisken streckten sich dem Himmel wie verkohlte Nadeln entgegen. Der Wind rauschte ungebremst über die Ebene, zerwühlte Wolfs dunkles Fell und ließ Babes Haar wild umherflattern.

»Lange halte ich das hier nicht aus«, japste Wolf nach kurzer Zeit und atmete schwer durch das offene Maul. »Diese Platten sind wie Spiegel. Wir laufen zwischen zwei Himmeln und braten unter zwei Sonnen.«

»Ungemütlich hier, gebe ich zu«, erwiderte Babe und schob sich ihre Sonnenbrille die schweißnasse Nase nach oben. »Da vorne ist es.«

Wolf hob den Blick und blinzelte gegen die Helligkeit der Reflexionen an. Zwischen mehreren, unterschiedlich hohen Obelisken türmte sich eine große Pyramide auf.

»Gibt hier offensichtlich nicht viele andere Ziele«, murmelte er und begann schneller zu laufen, denn der Schatten des wuchtigen Gebäudes versprach Kühlung. »Warum laufen wir eigentlich, statt einen fahrbaren Untersatz bei den Fabriken … auszuleihen?«

»Der Energiefluss macht hier Zicken«, antwortete Babe.

»Nervt«, grunzte Wolf und deutete mit dem Daumen über seine Schulter nach hinten. »Liegt's an dem riesigen, erstarrten Vieh?«

Babe drehte sich zu ihm um, ohne anzuhalten, und grinste breit. Sie schüttelte ihren Kopf, warf ihm über die Kante ihrer Sonnenbrille einen wissenden Blick zu und tippte sich an die eigene Nasenspitze.

»Immer diese Geheimniskrämerei«, grollte Wolf.

Die weiße Pyramide hatte seltsame Proportionen. Ihre Kanten waren steil und die gesamte Struktur war verdreht, wie ein überdimensionales Schneckenhaus. Wolf trat in ihren Schatten und seufzte erleichtert, als die Sonne endlich nicht mehr direkt auf seinen Pelz brannte.

Plötzlich wurde ihm schwindelig. Er presste die Lider fest zusammen und schüttelte den Kopf. Doch das Gefühl wollte nicht verschwinden. In der Schwärze rotierte die Umgebung weiter. Seine Ohren drehten sich wie verirrte Satelliten immer wieder in verschiedene Richtungen. Sein Magen schien Anlauf für einen perfekten Rückwärtssalto zu nehmen. Er öffnete die Augen, blinzelte ein paar Mal und rieb sich würgend den Bauch. Babe spazierte unbeeindruckt weiter. Wolf schluckte die Übelkeit hinunter und schlich ihr vorsichtig hinterher.

Je näher er dem Gebäude kam, desto mehr stellte sich der Haarkamm in seinem Nacken auf. Sein Schweif peitschte aufgeregt hin und her. Die Luft konnte gar nicht schnell genug in seine Lungen gesaugt werden und sein Herz raste, als würde er sprinten.

Wolf hatte ... Angst? Aber wovor?

Reiß dich zusammen, ermahnte er sich in Gedanken, ballte seine Hände zu Fäusten und straffte die Schultern. Du bist schließlich kein Welpe mehr. Halt, nein, kein Baby mehr – kein Baby mehr!

Seine Begleiterin schien nicht im Geringsten beeinträchtigt zu sein. Schützten sie ihre Runen oder war es nur die Bestie in Wolf, welche sich hier so fürchtete? Sie stoppte und er schaute über ihre Schulter auf den Eingang der Pyramide.

Ein großer Rundbogen ragte vor ihnen auf. Er war mehrere Mann hoch und breit. Verschlungene Muster zierten seinen Rahmen, welche sich um eine komplizierte Kette aus Runen wanden. Dazwischen versperrte eine Wand aus Skeletten und konservierten Leibern den Weg. Ihre Körper waren abweisend nach innen gewandt. Die fahle Haut auf ihren knochigen, gebogenen Rücken glänzte kränklich. Die Arme und Beine waren undefinierbar obszön miteinander verschlungen und versperrten komplett die Sicht auf das, was dahinter lag.

»Wir sind hier ganz offensichtlich nicht erwünscht«, stellte Wolf voller Unbehagen fest. »Das Ding ist so voller Bio-Magie, dass ich fast einen Knoten im Darm bekomme, wenn ich es nur anschaue – von dem überzogen nekrophilen Stil mal abgesehen. Nebenbei bemerkt, bin ich der festen Überzeugung, dass du nun völlig übergeschnappt bist – nicht, dass dich das besonders interessieren würde.«

»Ach, komm schon – jedes Mal, wenn ich eine total geile Idee habe, ziehst du den Wahnsinn-Joker, um mir das madig zu machen«, erwiderte Babe vorwurfsvoll und wedelte wie eine Lehrerin mit ihrem Zeigefinger in der Luft herum.

»Muss ich nicht – das Ding ist vermutlich bereits voller Maden«, knurrte Wolf, trat an die Leichenmauer, packte die Rippe eines Skeletts und rüttelte daran.

Sofort zogen sich die Rippen zusammen und drohten seine Finger einzuklemmen. Hastig zog er die Hand zurück. Die toten Körper rutschten näher aneinander, pressten sich Schulter an Schulter, Knochen an Knochen. Ein widerliches Knacken und Schmatzen, durchzogen von einem seltsamen Rascheln, war zu vernehmen.

»Wie sollen wir da durchkommen? Das hier ist keine einfache Sicherheitstür, die wir mit Gewalt öffnen können«, überlegte Wolf laut, verschränkte die Arme vor der Brust und kratzte sich nachdenklich am Kinn.

Babe zog ihre Sonnenbrille von der Nase und hängte sie an den Kragen ihres Shirts. Ihr Blick wanderte die Umrisse des Tores ab.

»Durch diese Barriere dringt kein lebendes Wesen, nur den Jenseitigen ist es gestattet, hier ohne Weiteres hindurchzuschreiten«, sinnierte sie mit leiser Stimme.

Ihre wohlklingende Wortwahl irritierte Wolf und er schielte argwöhnisch zu ihr hinüber.

Babe trat näher an die Tür und streichelte mit den Fingerspitzen über die gewundenen Formen. Dann kniff sie ihre Augen zusammen, winkelte ihre Arme an und hob ihre Handflächen. Runen flammten unter der Haut auf. Sie rammte beide Hände in die Tür hinein. Die Leichen rückten erneut eng zusammen. Das Knacken wurde lauter, manche der Brustkörper zerbrachen unter dem Drängen, wie faulige Eier, und geleeartige Säfte quollen hervor. Knochen und altes Fleisch umschlossen ihre Finger.

Babes Gesichtszüge waren angespannt. Die Wangenmuskulatur mahlte und ihr Blick war starr. Wolf erinnerte sich an ihre erste Begegnung, bei der sie den Süßigkeiten-Automaten manipuliert hatte. Sie konnte gut mit biomagischen Komponenten umgehen. Sobald ein Gerät biologische Teile hatte – was eigentlich immer der Fall war, weil diese die Bindeglieder zwischen kalter Technik und magischen Energien waren – konnte sie daran herumpfuschen.

Wolf wusste nicht was Babe da genau tat, aber was auch immer es war, es funktionierte.

Die Muskeln der Leichen entspannten sich, richteten sich auf und die Gliedmaßen lockerten sich. Einige Tote verbogen knirschend ihre Gelenke in unmöglichen Winkeln und wandten sich Babe zu. Leere Höhlen in kahlen Schädeln schienen den Eindringling zu mustern.

Plötzlich drehten sie sich zur Seite, drückten ihre Nachbarn nach hinten und es öffnete sich ein schmaler Spalt. Babe zog ihre Hände zurück, formte sie zu einer Schale und hielt sie vor ihre Nase.

»Stinkt ein bisschen«, urteilte sie trocken, zuckte mit den Schultern und stemmte die Hände in die Hüften. »Na dann mal los, wer weiß, wie lange die Onkelchen uns reinlassen. Du zuerst, ich halte den Spalt offen, falls sie es sich anders überlegen.«

Wolf musterte skeptisch die schmale Öffnung. Seine Augenbrauen zuckten missmutig.

»Das ist echt … eng«, gab er zu bedenken und rieb sich unwohl mit einer Pranke den Oberarm.

»Erst wirfst du mir Wahnsinn vor und wenn ich die Situation rette, meckerst du auch noch, dass du zu fett bist«, seufzte Babe und warf die Hände in die Luft.

Wolf legte resigniert stöhnend den Kopf in den Nacken. Er trat zu dem Portal, warf ihr nochmals einen genervten Blick zu und presste seine Schulter in den Durchgang. Er schob sich vorwärts und die Geruchsmischung aus Erde, Metall und der seltsam süßlichen Flüssigkeiten trieb ihm die Tränen in die Augen. Schnell schlug er mit der Hand gegen seine empfindliche Nase. Der Ring darin drückte schmerzhaft gegen seine Nerven und hielt den Gestank erträglich.

Es war eng. Wolf war komplett von den stinkenden Leibern umgeben. Herausstehende Knochen schabten über sein Fell und die Morbidität der Situation ließ sein Herz rasen.

Glücklicherweise hielt der schmale Gang stand. Als seine Pranke endlich die Kante des Ausgangs zu packen bekam, atmete er hörbar auf. Kräftig zog er sich hinaus und stolperte schließlich in einen breiten Gang.

»Bin drin!«, brüllte Wolf und schüttelte den Kopf, um den Geruch irgendwie aus seiner Nase zu bekommen.

Während sich Babe ebenfalls durch den Spalt quetschte, schaute er sich um.

Der Gang war nicht übermäßig breit und mit Kenaz-Lichtern beleuchtet. Im Gegensatz zu den fliegenden Fleischkugeln, waren hier die Runen in keramikgefasstes Kristallglas eingebettet. Die schlichten Wände waren glatt poliert. Der Boden bestand ebenfalls aus Stein und Wolf grübelte einen Moment darüber nach, warum dieser Ort komplett aus dem Naturmaterial gebaut war, und nicht aus modernen Komponenten.

»Hoffe, der Gestank geht wieder raus«, hörte er Babe hinter sich schnaufen, als diese ebenfalls den Gang erreichte. »Ist meine Lieblingshose.«

»Die ist beinahe angewachsen«, entgegnete Wolf grinsend.

»Quatsch, die anderen zieh ich nur selten an. Daheim, beim Rumliegen und so«, erwiderte sie und schob sich ihr Haar aus dem Gesicht. »Kann ja nicht jeder so ein Modejunkie sein wie du.«

»Der Kram geht halt so schnell kaputt«, rechtfertigte er sich, an seinem Achselshirt zupfend. »Brauch ständig Ersatz.«

»Deine Nähkünste sind halt nicht die einer begabten Großmama«, meinte Babe, trat zu ihm und zog einen losen Faden aus dem ausgefransten Armloch.

»Ist eben billiger. Finger weg, du ribbelst es auf!«, murrte Wolf und schlug ihre Hand beiseite.

Das sinnleere Gespräch plätscherte weiter vor sich hin, als die beiden ins Innere der Pyramide vordrangen. Die Gänge machten mehrfach, ohne erkennbaren Grund, einen scharfen Knick. Kreuzungen gab es kaum, sodass sich Wolf den Weg gut einprägen konnte. Babe verneinte seine Frage danach, ob sie den Weg kannte – sie versuchte schlicht mit Orientierungssinn die Mitte des Gebäudes zu erreichen.

»Ich habe den Kerl vor Jahren über einen Info-Hack mit den Eremiten gefunden. Also, wir haben ein paar ziemlich würzige Informationen über einen der Kombinatsvorstände hervorgezaubert und eine der Akten führte uns zu ihm«, erklärte Babe nebenher und wirkte nun ganz bei der Sache.

Sie lief mit scharfem Schritt voran, ihre Uzi hatte sie griffbereit im Gürtel zurechtgerückt und ihr Gesicht zeigte professionelle Ausdruckslosigkeit.

»Was hat er für den Vorstand gemacht? Muss ja einen ziemlich hohen Rang haben, wenn er von denen angeheuert wird«, erkundigte sich Wolf genauer.

»Er hat keinen wirklichen Rang«, antwortete Babe und stieß lautstark die Luft aus. »Er ist relativ einzigartig und kann Situationen auf eine recht unkonventionelle Weise lösen. Das Praktische daran ist vor allem die fehlende Nachweisbarkeit seines Handelns.«

»Klingt, als wäre er genau der Richtige für unser Unternehmen«, grinste Wolf und schlug Babe anerkennend auf den Rücken.

»Ich habe ihn nur kurz gesehen, als Wania ihm noch ein paar Informationen abknöpfen wollte. Bin mir aber ziemlich sicher, dass du ihn nicht leiden können wirst«, erwiderte sie und stieß ihm freundschaftlich den Ellbogen zwischen die Rippen.

»Muss ihn ja nicht gleich heiraten«, meinte Wolf und zuckte mit den Schultern. »Tonie ist auch 'n Kotzbrocken, aber wird seinen Job vermutlich gut machen. Auch, wenn ich keine Ahnung habe, wie mich jemand vor den sensiblen Überprüfungsmechanismen des Schwarms verstecken soll.«

Er hat ebenfalls schnell erkannt, dass eine magische Projektion aus dem Schwarm nicht ohne Weiteres möglich ist, stellte Babe in Gedanken fest. Trotzdem ...

»Reiß dich einfach zusammen, okay?« Sie kratzte sich unsicher den Hinterkopf.

Wolf stutzte, nickte dann jedoch. Schließlich wollte er nun ebenfalls den Job erfolgreich hinter sich bringen – für eine Menge Creds und brauchbare Informationen über seinen Zustand.

Schließlich erreichten die beiden eine große Halle. Breite Säulen trugen ein anmutig geschwungenes Gewölbe und die schrägen Wände waren derart mit Runen übersät, dass es so wirkte, dass sie mit einer besonders kitschigen Tapete zugekleistert wirkten. An den Seiten befanden sich wuchtige Steinkästen mit abgerundeten Kanten. Sie waren offenbar massiv und die Deckel mussten Tonnen wiegen.

Als Wolf hinter Babe den Raum betrat, war es, als würde er gegen eine Wand laufen. Die Magie an diesem Ort rammte mit Wucht gegen seine Sinne. Der Stein unter seinen Füßen pulsierte regelrecht, die Wände schienen zu atmen und die Säulen stetig emporzuwachsen, obwohl sie starr auf der Stelle standen. Die Luft knisterte zwischen seinen Zähnen und vor seinen Augen flirrte alles ein wenig, als läge ein Störrauschen auf der Realität.

»Bei den verdammten Engeln«, keuchte Wolf und beugte unwillkürlich seinen Rücken, als würde ein Gewicht auf seinen Schultern lasten. »Dieser Ort ist durchzogen von Magie – ich bin mir nicht mal sicher, ob er nicht schlicht aus reiner Magie besteht!«

»Ziemlich krasser Scheiß, oder?«, meinte Babe, legte eine Hand auf ihre Schulter und ließ ihr Genick knacken. »Hab nicht erwartet, dass es so derb ist. Aber keine Sorge, das liegt an dem, was man hier tut. Es ist nicht gefährlich.«

»Okay, jetzt reichts. Entweder, du sagst es mir jetzt endlich oder …«, begann Wolf, zornig knurrend.

»Heyyyyy!«, rief Babe mit der Hand an ihrem Mund. »Komm schon raus, ich weiß, dass du heute Dienst hast!«

Wolf zuckte zusammen und seine Ohren legte sich an. Die Worte hallten nicht nur an den Wänden wider, sondern schienen sich durch die Raumakustik noch zu verstärken.

»Eigentlich hat er jeden Tag Dienst – zumindest laut den Akten«, raunte Babe und zwinkerte Wolf verschwörerisch zu.

Der öffnete bereits sein Maul, um sein völliges Desinteresse an dem Schichtplan eines schrulligen Pyramidenbewohners zu bekunden, doch plötzlich stellten sich seine Ohren auf.

Er hörte etwas.

Schritte.

Sie waren leicht und federnd, beinahe beschwingt. Derjenige machte sich keine Gedanken darüber, ungehört zu bleiben. Harte Absätze klackten auf dem steinernen Fußboden und ein leises Klimpern hallte durch die Gänge.

Babe lehnte sich mit der Schulter gegen eine Säule und verschränkte lässig ihre Füße, steckte jedoch einen Daumen in ihren Gürtel, nahe der halbautomatischen Pistole. Wolf presste seine Kiefer aufeinander und starrte auf den Eingang.

Eine Person trat um die Ecke.

Es war ein Mann, kaum größer als Wolf.

Er hatte dunkelblondes Haar – farblich irgendetwas zwischen Straßenköter und angelaufener Messingtürklinke. Auf der einen Seite waren sie bis auf wenige Millimeter abrasiert. Dort war eine angeschwärzte Eihwaz-Rune in den Schädelknochen gehämmert worden. Ihre zerbeulten Kanten waren von verästeltem Narbengewebe gesäumt und dünne, golden glänzende Kabellagen drangen von dessen Enden unter die Haut. Auf der anderen Kopfseite reichten die wirren Haare bis zu seinen Schlüsselbeinen. Einige Strähnen fielen in sein schmales Gesicht, was mit dem rauen Drei-Tage-Bart beinahe hager wirkte, jedoch verlieh ihm der caramelfarbene Teint eine gewisse Aristokratie.

Aus zwei schmalen Augen blickten ihnen braune Iriden überraschend lebhaft entgegen. Kleine Lachfalten an ihren Seiten zeugte von einem offenbar sonnigen Gemüt.

Der Kerl schien nicht im Geringsten über den unangemeldeten Besuch überrascht zu sein. Er trat selbstsicher in den Raum und lächelte so herzlich, als würde er alte Freunde zu einem gemütlichen Plausch erwarten.

In seine schweren, schwarzen Stiefel war eine ebenso schwarze, enge Hose gestopft. Sie hatte an den Seiten unzählige Schlaufen, in denen Kristalle, Metallplättchen, Glasphiolen, Skalpelle und andere alchemistische Handwerkszeuge hingen. Der Oberkörper war in breite, dunkle Stoffbahnen gewickelt. Ein ärmelloser, tiefroter Mantel flatterte hinter ihm her und reichte ihm bis zu den Knöcheln. Seine nackten Arme waren unter unzähligen Armbändern, Riemen, Stofffetzen und Ketten verborgen. Seine Silhouette wirkte dadurch seltsam deformiert, obwohl sich darunter ein schlanker Körper verbergen musste.

Jede Bewegung wurde von einem mehrstimmigen Klimpern begleitet, denn um seinen Hals hing eine unmöglich zu erfassende Menge von Amuletten. Manche von ihnen lagen eng an, andere baumelten ihm bis zum Nabel. Sie waren aus Leder, Silber, Gold, Kupfer, Holz und anderen Materialien. Keines glich dem anderen – und ihre Formen waren so fremdartig, dass Wolf nichts mit ihnen anzufangen wusste. Das Licht glänzte und flimmerte auf der Masse dieser seltsamen Schmuckstücke wie Sonnenlicht auf dem Ozean.

Schon ein kurzer Blick hätte Wolf gereicht, obwohl er noch nie so jemanden gesehen hatte.

Jeder kannte die Geschichten über Menschen wie diesen. Man erzählte sie sich im Rausch von Drogen, wenn das Herz voll trügerischen Mutes war. Man fürchtete sich bei solchen Worten in Momenten einsamer Dunkelheit in den Straßen.

Wolf fletschte sofort die Zähne und ging in Angriffsstellung. Seine Pranke legte sich auf den Griff seines Schwertes.

Trotz der Magie an diesem Ort und des furchterregenden Gefühls außerhalb der Pyramide, verstörte ihn dieser Mann noch viel mehr.

Er schien ihm leer. Es gab keinerlei Ausstrahlung, keine Magie, nichts. Es war, als existiere dort ein Loch in der Lebendigkeit der Schöpfung.

Wolf war sich ganz sicher. Er öffnete die Lippen und presste halb aggressiv, halb ängstlich das Wort hervor, was jedermann fürchtete – gleich nach den niemals gesehenen Engeln:

»Exorzist.«

Der Kopf des Mannes neigte sich zur Seite und ein warmes Lächeln zeigte sich auf seinem Antlitz. Er schloss kurz die Augen und nickte zustimmend.

Nekromanten waren schon nicht besonders beliebt, denn sie befassten sich mit dem Wesen des Lebens und des Todes. Dennoch waren ihre Künste eine Bereicherung, wenn sie wohldosiert angewendet wurden. Exorzisten arbeiteten mit der gleichen Magie, doch ihre Begabung war eine gänzlich andere. Weder gaben, noch nahmen sie – Exorzisten wischten hinfort. Der Unterschied war so subtil wie außerordentlich mächtig.

Es gab nur wenige dieser Begabten und der Schwarm hütete sie wie einen unliebsamen Schatz. Sie setzen diese Fähigkeiten vor allem zur Eindämmung von Magie ein. Das war ein wichtiger Punkt, vor allem bei Forschung und Energieerzeugung in den Megacitys der Welt. Ihre Kräfte waren der natürliche Feind aller Wissenschaft, Magie und des Lebens – und einem Halbwolf ging dieser Umstand selbstverständlich durch Mark und Bein.

Babe seufzte laut auf.

»Hab doch gewusst, dass du ihn nicht leiden kannst«, meinte sie, rührte sich jedoch auch nicht von der Stelle.

»Bist du völlig übergeschnappt?!«, bellte Wolf außer sich. »Ein engelsverdammter Exorzist? Kein Wunder, dass der Typ hinter einer Mauer aus Leichen eingesperrt ist! In einer verschissenen Pyramide! In einer engelverlassenen Ebene aus Silizium!«

»Tief durchatmen, Wolf«, sprach Babe ruhig und hob eine Hand. »Jetzt werd nicht gleich eine hysterische Dramaqueen.«

Wolf schnappte nach Luft und seine Augen glühten vor Zorn … und Furcht.

»Jetzt mal ganz entspannt«, mischte sich die weiche Stimme des Exorzisten ein. »Verratet mir doch bitte, wie ihr hier hereingekommen seid. Besuch habe ich äußerst selten und wenn ihr euch angekündigt hättet, wäre eventuell sogar etwas Staub gewischt.«

Wolfs Kopf ruckte zu ihm, Babes Blick ruhte ebenfalls auf dem Exorzisten. Er stand in gelassener Körperhaltung da, tippte sich neugierig mit dem Daumen gegen das stoppelige Kinn und … lächelte weiterhin entwaffnend herzlich. Sein Gesicht zeigte Heiterkeit und passte nicht im Geringsten zu der Umgebung, seinem düsteren Äußeren oder gar den nachgesagten Fertigkeiten.

»Wir haben so unsere Möglichkeiten«, erwiderte Babe und grinste süffisant. »Ah ja, Grüße von Wania.«

»Lebt der alte Geizknochen noch?«, fragte er amüsiert und lachte auf. »Die alte Krähe ist ganz schön zäh. Hätte nicht gedacht, dass sie sich mit dem Kombinat anlegen kann und das überlebt.«

»Sie hat so ihre Kniffe«, meinte Babe, schulterzuckend. »Hätte nicht vermutet, dass du mit ihr so eng warst.«

»Ach, als ob bei der noch irgendwas ...«, er winkte ab, die Armkettchen schepperten und Babe prustete vor Lachen. »Ich mag halt Enthusiasmus. Du bist also auch ein Eremit? Und dein Begleiter ist scheinbar ein Wandler, mh? Warum bist du hier in Tiergestalt? Wolltest du die Säulen markieren? Ich habe zuerst vermutet, dass ihr vom Schwarm seid, aber dafür seht ihr zu … interessant aus.«

Er musterte zuerst Babe, dann glitt sein Blick Wolfs Körper hinab. Der Exorzist legte den Kopf schräg, sagte jedoch nichts weiter.

»Was macht ein Exorzist an diesem Ort? Ist das ein Gefängnis?«, fragte Wolf und schluckte den bissigen Kommentar bezüglich des Markierens hinunter – man sollte es sich mit so jemandem schließlich nicht gleich völlig verscherzen.

»Ach was, ich kann hier kommen und gehen, wie ich will. Das ist nur mein Job«, antwortete er und nickte zu den Steinkästen. »Ich bin für das Recycling zuständig. Der Schwarm kümmert sich stets um seinen Abfall.«

»Nette Umschreibung«, murmelte Babe und schnalzte mit der Zunge.

Da steckt doch mehr dahinter, dachte Wolf. Babe hat mehr Informationen zu ihm.

»Wollt ihr den doofen Wolf nicht aufklären?«, murrte er.

»Ach, dazu gibt es nicht viel zu sagen«, begann der Exorzist, schlug seine Hände zusammen und lächelte breit. »Wie gesagt, ich recycle. Aus Alt mach Neu – na ja, aus nutzlos mach nützlich, wäre wohl besser ausgedrückt. Ich kümmere mich um die Verstorbenen. Die Überreste brauchen viel zu viel Platz, natürliche Verwesung zu viel Zeit, den Kram zu verbrennen zu viel Energie und so weiter. Absolut ineffizient und ein Dorn im Nagelbett, sozusagen.«

»Du … recycelst … Tote?«, ächzte Wolf und glotzte Babe völlig fassungslos von der Seite an.

Was hat sie sich dabei gedacht, fragte er sich und zweifelte nun ernsthaft ihren Verstand an.

»Exakt! Also nicht der Nekromantenkram – was will man auch mit wandelnden Toten? Die stinken, sind strunzdumm und brauchen eine stetige biomagische Energieversorgung … von der Widernatürlichkeit des Umstandes mal abgesehen. Hier geben die Menschen das zurück, was sie einst nahmen«, erklärte er, legte die Handflächen vor seinem Gesicht aneinander und seine dunklen Augen blickten fürsorglich. »Ein Leben lang floss Energie mittels Nahrung und Erfahrungen durch den Körper. Das eine verbrauchte sich, das andere reicherte sich an. Hier werden die angehäuften Zellerinnerungen in Energie umgewandelt, welche dann dem Schwarm erneut zur Verfügung steht.«

»Sozusagen ein Toten-Kraftwerk«, warf Babe nachdenklich ein.

»So könnte man es nennen – in Fachkreisen ist es ein nekrobetriebenes Energieumwandlungssystem. Es bedarf einer gewissen Ausrichtung des Gebäudes, einer Geometrie und Konstruktionsmathematik. Man kombiniert Geomantie, planetare Energiematrix, alchemistisches Grundwissen und spirituelle Techniken. Am Anfang steht die Leiche«, er deutete auf die Steinsärge am Rand des Raumes, »und am Ende hat man universell einsetzbare Energiekerne.«

»Das ist … widerlich«, knurrte Wolf, sein Schweif war buschig vor Ekel.

»Warum?«, fragte der Exorzist und in seiner Stimme schwang echte Enttäuschung mit. »Das Kraftwerk des Lebens war schon immer der Tod. Das ist die Natur der Schöpfung. Hier ist es nur optimiert. Es ist ja nicht so, als würden die Verstorbenen davon etwas mitbekommen, oder?«

Er trat zu einem der Sarkophage, legte eine Hand auf dessen Deckel und lächelte selig. Dann tippte er flink auf ein paar Stellen. Runen flammten auf und der Deckel glitt mit einem leisen Schaben beiseite. Ein Geruch nach staubiger Feuchtigkeit hing plötzlich in der Luft. Der Exorzist griff hinein, packte einen Arm und zog erstaunlich kräftig eine klapperdürre Leiche empor. Ihre dünne Haut schimmerte, als flatterten darunter Hunderte Glühwürmchen. Zärtlich strich er über die eingefallene Wange des Toten.

»Schön, dass man im Tode noch die Lebenden so bereichern kann, oder?«, wisperte er nachdenklich. »Manche sind so sogar hilfreicher, als sie es in ihrem Leben waren.«

»Du … hast die Frage nicht beantwortet«, presste Wolf hervor, trat einen Schritt zurück und hielt sich seine Pranke vor die Nase.

»Das stimmt wohl«, flüstert der Exorzist, legte den Körper behutsam zurück, schloss den Sarkophag und wandte sich Wolf zu.

Er verschränkte die Arme vor der Brust, mahlte mit den Zähnen und schien verunsichert. Im Allgemeinen war er viel zu leicht zu lesen, so gar nicht gefährlich, wie es sich Wolf immer vorgestellt hatte. Dennoch fühlte er sich in seiner Gegenwart unsicher. In einem Moment wirkte er sanftmütig und unsicher, im nächsten bestimmend und stark.

»Nun sag es ihm schon, Elian«, mischte sich Babe augenrollend ein. »Ich weiß es doch aus den Akten – ich kann das auch übernehmen, wenn du zu schüchtern bist.«

Sein Name schien etwas in ihm anzustoßen. Er nickte.

»Nun … Exorzisten werden eigentlich in der Sozialbefriedung, Magiedämmung und manchmal im Kampf eingesetzt …« Er zögerte, legte eine Hand in den Nacken und grinste dann schief. »Ich bin jedoch zu individuell von meinen Lebensansprüchen her. Ich wäre gern angepasster, um im Schwarm zu leben – ich wäre vermutlich glücklicher in einem sicheren Einerlei und einer wohlgesonnenen Gesellschaft. Na ja, es ist wie es ist. Ich überwache hier die Arbeit und schubs die eine oder andere Seele aus ihrem Körper, falls sie nicht loslassen will.«

»Hä?!«, fuhr Wolf auf. »Du bringst sie also um, damit sie hier verbraten werden können?«

»Aber nein«, entgegnete er, nun sichtlich verärgert, und schnitt mit der Handfläche durch die Luft. »Manche Verstorbene können nicht loslassen und hängen noch an ihrem Körper, Orten oder Gegenständen. Ich trenne sie davon, bevor ihre Überreste in den Reaktorzellen landen.«

Wolfs Ohren senkten sich und das Maul stand ihm offen. Das war sogar irgendwie ehrenhaft – er erleichterte den Seelen sozusagen den Übergang.

Irgendwie. Hoffentlich.

»Womit wir wieder beim Thema wären«, sprach er dann mit schneidender Stimme, seine Unsicherheit war wie weggeblasen und sein Gesicht zeigte plötzlich einen gefährlichen Zug.

Wolf presste die Lippen zusammen. Er hatte keine Ahnung. Er warf Babe einen hilfesuchenden Blick zu. Die löste sich endlich von der Säule und schlenderte gelangweilt umher. Das war jedoch nur Tarnung. Innerlich war sie zum Zerreißen angespannt – jetzt galt es!

In diesem Moment musste sie nicht nur den Exorzisten davon überzeugen mit ihr zusammenarbeiten.

Nein, viel komplizierter!

Sie musste Wolf davon überzeugen.

Babe atmete tief ein, suchte nach den richtigen Worten und entschied sich dann für nervenbetäubende Klarheit. Sie wirbelte herum, blickte die beiden fest an und sprach:

»Elian, du sollst diesen Wolf zu einem Menschen machen.«

Wolf riss die Augen auf. Er blickte zwischen den beiden hin und her. Dann stolperte er ein paar Schritte rückwärts, den Schwanz zwischen seine Beine eingeklemmt. Fassungslos schüttelte er seinen Kopf.

»Okay, das war vielleicht ungenau ausgedrückt. Er ist ja ein Mensch – also auch – aber er muss zeitweise auch so aussehen. Illusionsmagie kann man aufdecken, allerdings …«, versuchte es Babe nochmals und ließ eine Hand in der Luft kreisen, wie einen Propeller.

»Ich verstehe.« Die Worte des Exorzisten hallten von den Wänden wider. Das Lächeln war auf seine Lippen zurückgekehrt. »Du möchtest, dass ich den Wolf abtrenne und austreibe. Wenn etwas nicht da ist, kann man es nicht aufdecken.«

»Du bist wirklich so clever, wie Wania erzählte. Kein folgsamer Schwärmer, sondern ein mutiger Mann«, umgarnte Babe ihn weiter, stemmte ihre Hände in die Hüften und lachte.

»Tja, nun verrate mir mal, warum ich das tun sollte«, erwiderte Elian amüsiert und tätschelte den Sarkophag.

»Aus dem gleichen Grund, aus dem du damals Wania geholfen hast«, erklärte Babe mit einem triumphierenden Lächeln. »Es ist eine Herausforderung.«

Der Exorzist schmunzelte und tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn.

»Du hast deine Hausaufgaben gemacht, Mädchen. Du bist aber ziemlich dumm, wenn du glaubst, dass es eine Herausforderung wäre, einem Wandler das Tier auszutreiben«, entgegnete Elian und warf Wolf einen abschätzigen Blick zu. »Es ist geradezu lächerlich einfach. Das ist wie einen Kaugummi von einer Tischplatte zu ziehen – nervig, aber nicht besonders aufregend.«

Wolf knurrte ihn rauflustig an. Sollte er es nur versuchen. Dieser Kaugummi würde ihm mit bloßen Krallen die Haut von den Knochen schaben, wenn es sein musste.

»Urteile nicht auf den ersten Blick«, gab Babe zu bedenken. »Wolf ist ein kein Wandler. Den Menschen von der Bestie zu trennen, ist schwierig. Es ist gefährlich.«

Die Augen des Exorzisten verengten sich und musterten Wolf nun genauer. Der richtete sich vollends auf und drückte die Brust nach vorne. Er spannte alle Muskeln an und starrte ihm mit unverhohlener Geringschätzung entgegen. Die Züge des Exorzisten wandelten sich. Etwas Böses schlich sich in sie hinein, doch zusätzlich etwas noch wesentlich Schlimmeres: Interesse.

»Hast du Angst, dass es deine Fähigkeiten übersteigt?«, stichelte Babe in einem verniedlichen Tonfall weiter. »Oder hast du Bammel vor dem Schwarm? Armer Junge, weggesperrt inmitten von stummen Leichen, die nur abgenutzte Erinnerungen aus zweiter Hand bieten können – und dabei wenigstens ihr Leben gelebt haben.«

Elian lächelte grausam und drehte den Kopf zu Babe, ließ Wolf jedoch nicht aus den Augen. Er strich sich schweigend das Haar zurück. Nur das Klimpern der Ketten zerschnitt die Stille, während er seine Gedanken hin und her wälzte.

»Du manipulierst mich. Schlau. Du weißt genau, was du sagen musst – wo meine Schwächen zu finden sind«, ergriff er schließlich das Wort und seine warme, sanfte Stimme passte so gar nicht zu seinen Worten. »Beeindruckend. Ich mache es.«

Babe stieß ihre Fäuste in die Hosentaschen und grinste breit.

Na also, dachte sie. Das war so einfach, wie ich es vermutet hatte. Jetzt kommt allerdings der schwierigere Teil.

»Hmmm, Wolf?«, fragte sie und lächelte traurig.

Der Angesprochene zuckte zusammen, verschränkte die Arme vor der Brust und brummte missmutig.

»Jetzt mach bitte nicht so ein Gesicht«, bat sie ihn und ging langsam auf ihn zu. »Du bist doch ein ziemlich gefährlicher Kerl. Schnell, wendig und verdammt tödlich mit dem Krummschwert.«

Wolf schüttelte vehement seinen Kopf. Statt einer Antwort zog er nur die Lefzen hoch und zeigte seine Zähne.

»Hey, Wolf. Jetzt denk doch mal nach. Nichts ändert sich an unserem Plan – eher im Gegenteil: Du bekommst einen Bonus! Neben den Creds und den Informationen der Wandler wirst du als Mensch herumlaufen können. Du kannst diesen Zustand wieder fühlen. Vielleicht kannst du dich dadurch später selbst verwandeln – die Bestie im Zaum halten. Wäre das nicht scheiße geil?«, argumentierte Babe und blickte ihn ernst an.

Natürlich hatte sie recht. Doch Wolfs Inneres war hin und her gerissen. Während seinem Verstand absolut klar war, dass die Bestie zu vertreiben und das Menschsein erneut zu erfahren – wenn auch nur temporär – ein großartiges Geschenk war, stemmte sich sein Bauchgefühl vehement dagegen. Das war Unsinn, aber wann waren Emotionen schon einmal logisch?

Es wäre schön, sich wieder wie ein ganzer Mensch zu fühlen, dachte er wehmütig. Mich wieder wie ich selbst zu fühlen … nicht mehr ein einsames Monstrum zu sein.

Plötzlich stieg Traurigkeit in ihm auf. Sie war so massiv, dass er ein Schluchzen unterdrücken musste. Er schluckte schwer. Mit einem Mal zog sich die Bestie in ihm zurück und überließ dem Menschen das Feld. Wolf atmete tief durch. Es war eine Gelegenheit, die es zu packen galt.

»Nichts an diesem Ort und an diesem Kerl scheint mir richtig zu sein – aber vermutlich bin ich selbst nicht richtig.« Seine Stimme klang kratzig.

Er wandte sich dem Exorzisten zu, trat entschlossen vor ihn und blickte ihm fest in die Augen, als er seinen Entschluss fasste:

»Mach mich wieder zu einem Menschen.«

Second Horizon

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