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DER FLOHMARKT VON CLIGNANCOURT

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Der Flohmarkt? Also sozusagen: Schauspielerbörse der Flohtheater? Suchen hier Flöhe ein Engagement, Dompteure ihr Personal, Bühnenagenten Gelegenheit zur Vermittlung?

Nein! Niemals kam Fernando Méstèque de Podsqualle, der große Flohtheatermanager, zeit seines Lebens her, seine Protagonisten und Primadonnen anzuwerben, niemals einer seiner Kollegen.

Kämest du, veranlaßt vom Namen „marché aux puces“, am Sonntagmorgen zum Festungstore Clignancourt, nur um Flöhe zu erstehen, du müßtest unvollzogenen Kaufes wieder heimkehren. Allerdings ist die Möglichkeit durchaus zuzugeben, daß du in einem oder dem anderen Wäschestück, das hier feilgeboten wird, einen springlebendigen Floh finden könntest, auch in den Fetzen von Vorhängen, Teppichen und Tüchern, vor allem in den Decken, die der Verkäufer auf der Erde vor sich als Unterlage für seine Schätze, als Auslagsschrein, Verkaufstisch und Warenmagazin ausgebreitet hat. Sicherlich fändest du sie in den Kleidern der Händler und Händlerinnen, und davon hat wohl der Markt seinen beißenden Spitznamen, aber suche dort nicht nach, wenn dich nicht dein Fell juckt — die Chiffonniers sind ein bissiges Volk.

Weh dem, der den Pariser Lumpensammlern auf den Leib zu rücken wagt! Sie haben ihre eigene große Revolution hinter sich, fast eine so große wie die Damen der Halle, sie haben im Jahre 1852 Barrikaden gebaut, und viel fehlte nicht, so hätten sie den Bürgerthron Louis Philippes in den Müllkasten gestürzt. Damals hat die Cholera gewütet, und man wollte, sie einzudämmen, den Schmutz und Abfall, der sich tagsüber vor den Häusern ansammelte, unverzüglich von Amts wegen auf Karren verladen und vor die Stadt schaffen. Aber die Haderer haderten dagegen, wiesen darauf hin, daß jene Kehrichthaufen zwar vielleicht ein Choleraherd, für sie jedoch der Nährboden sei, den man ihnen nicht entziehen dürfe. Der Unrat der Straße sei ihr Servitut. „Es ist sonderbar“, berichtet Heine damals nach Deutschland, „daß die Beweistümer, die sie in dieser Richtung hervorbrachten, ganz dieselben sind, die auch unsere Krautjunker, Zunftherren, Gildemeister, Zehntenprediger, Fakultätsgenossen und sonstige Vorrechtsbeflissene vorzubringen pflegen, wenn die alten Mißbräuche, wovon sie Nutzen ziehen, der Kehricht des Mittelalters, endlich fortgeräumt werden sollen, damit durch den verjährten Moder und Dunst unser jetziges Leben nicht verpestet werde.“

Der Vergleich ist so blendend, daß man übersieht, wie er hinkt. Denn immerhin ist noch ein Unterschied zwischen dem Vorrecht vornehmer Nichtstuer und jenem arbeitender Menschen; das Tätigkeitsfeld der Chiffonniers barg für andere den Tod, aber für sie das Leben. Und es ging nicht an, ihnen dieses Leben zu nehmen, ohne ihnen die Möglichkeit eines anderen zu weisen. Man muß für die Beseitigung des Kehrichts mitsamt den Kehrichtsammlern sorgen — auch verhungerte Leichen sind ein Krankheitsherd. Halbe Maßnahmen sind schlechter als gar keine, und es ist gut, daß Heine nicht noch drei Menschenalter gelebt hat, sonst wäre er schaudernd Berichterstatter eines sozialistisch-kapitalistischen Koalitionszeitalters geworden, das den Chiffonniers recht gegeben und die Erhaltung der Choleraherde beschlossen hätte, so wie es von der Aufhebung der Spielklubs, Pferderennen, Champagnersalons, reaktionären Buchdruckereien, Börsen, Wucherbanken und ähnlichen gemeinschädlichen Unternehmungen mit der Begründung Abstand nimmt, daß dadurch Arbeiter brotlos werden könnten!

Aber Anno Louis Philippe waren die Lumpensammler noch Lumpenproletariat, und sie bildeten keine konservative Gewerkschaft, deren Oberbonzen im Ministerfauteuil saßen, man konnte sie also nicht beschwichtigen, und auf die Idee, ihnen einen anderen Broterwerb zu bieten, kam man damals ebensowenig wie heute. So gingen die Chiffonniers und die Revendeuses, die Verkäuferinnen der gesammelten Waren, auf die Straße, sie zerschlugen die Reinigungskarren, verbarrikadierten sich an der Porte St. Denis und fochten auf dem Chatelet. „Der Generalmarsch erscholl“, erzählt Heinrich Heine, „Casimir Périer ließ seine Myrmidonen aus ihren Butiken heraustrommeln, der Bürgerthron zitterte, die Rente fiel, die Karlisten jauchzten. Letztere hatten endlich ihre natürlichsten Alliierten gefunden: Lumpensammler und alte Trödelweiber, die sich jetzt mit denselben Prinzipien geltend machten, als Verfechter des Herkömmlichen, der überlieferten Erbkehrichtsinteressen, der Verfaultheiten aller Art.“

Die Zeiten ändern sich, an Stelle von Cholera und Monarchismus treten demokratische Republiken, aber noch immer gibt es Leute, die aus dem Kot der anderen ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen. Die Chiffonniers bilden nun eine Gilde, sie erfreuen sich der kommunalen Anerkennung, Blechnummern, wie sie Schutzleute, Bahnhofsträger oder Dienstmänner haben, geben ihnen die Legitimation, von acht Uhr abends bis Mitternacht und von fünf bis sieben Uhr früh, die in den Häusern zur Abholung durch den Mistbauer bereitgestellten Unratkisten und Ascheneimer nach Schätzen zu durchwühlen. Das Gesetz von der Erhaltung der Quantität der Materie, allnächtlich steigt es in verschiedener Gestalt aus den Staubwolken des häuslichen Abfalls in den Rückenkorb des Lumpensammlers: rien ne se perd! Der Haderngrossist zahlt für hundert Kilogramm schmutzigen Papiers oder hundert Kilo sackleinener Fetzen acht Franken, für hundert Kilo zerschlissenen Linnens vierunddreißig Franken, für feine weiße Leinwandlappen vierundvierzig; die reinwollenen Lumpen kaufen chemische Fabriken zentnerweise, um daraus Salmiaksalz zu erzeugen, sonst kehren die meisten der zu Ende gelebten Stücke wieder an ihren Ursprungsort zurück: zerbrochene Salben- und Konservenbüchsen in Metallwarenfabriken, Papierfetzen in Papiermühlen, Scherben in Glasbläsereien, Alteisen in Schmelzöfen, aus dem zerrissenen, vergilbten Wechselblankett wird wieder eine Banknote, aus dem abgenagten Knochen ein Hundekuchen, aus der verrosteten, verbogenen Ofentüre ein Offizierssäbel und aus dem Manuskript eines Dichters gar Klosettpapier.

Aber all das, was von der Beute des Chiffonniers eine noch so geringe Chance für individuellen Verkauf, die Möglichkeit der unmittelbaren Verwertbarkeit an sich trägt all das, was sich irgendwie unter den Sammelbegriff „Trödel“ subsumieren läßt, das taucht auf einem der Pariser Tandelmärkte auf, die Tabakreste und die Zigarrenstummel auf dem nächtlichen Mégotmarkt, die Bücherfragmente auf den Karren der Bouquinistes und alles andere, noch Schlimmere, auf dem marché pouilleux, dem „lausigen Markt“ von Bicêtre, oder auf dem marché aux puces.

Der „lausige Markt“ von Bicêtre und der „Flohmarkt“ von Saint-Ouen, sie weisen nicht soviel Unterschiede auf wie ihre beiden Paten aus dem Insektenreich. Da wie dort ist die bizarre Mischung der Armseligkeit, die Diskrepanz des Feilgebotenen das besondere Kennzeichen des Marktes. Auf dem Boden des umgestülpten Korbes, auf dem Glacis am Rande des Festungsgrabens und vor ihren Häusern, den mit Dachpappe gedeckten, unendlich wüsten Holzkabinen von schräger Basis, und auf den Bauplätzen an der Rue Michelet, deren Trottoirs für die Verkäufer von neufabriziertem Jahrmarktsschund reserviert sind, haben Hunderte von Chiffonniers ihr Vielerlei ausgebreitet, das Strandgut der Haushalte, das sie werktags gefischt haben, Hosenträger neben einem Damenhöschen, eine Grammophonplatte neben einem Kissen, ein Porträt Gambettas in Farbendruck neben einem Zahnbürstchen, einen Schlüssel neben einem Suspensorium, eine Kohlenschaufel neben einem Gummilutscher für Säuglinge, eine Kasserolle neben einem Katzenfell, einen zerbrochenen Spiegel neben einer Fußprothese, schweinische Ansichtskarten neben einem Stemmeisen.

An demselben Stand kauft ein Soldat eine Schnurrbartbinde, an dem eben ein fünfzehnjähriger Vorstadtfratz wegen des Preises eines Irrigators feilscht, dessen Blechgefäß eingetepscht und dessen Gummischlauch zerrissen ist. Pioupiou und Midinette kommen ins Gespräch und beraten einander beim Kauf ... Zerlumpt sind die Verkäufer und Verkäuferinnen, zerlumpt die meisten der Käufer und Käuferinnen, Familiarität vereinigt die Gruppen, man duzt einander, lockt den Vorübergehenden an:

„Eh, mon vieux, c’est-y des godasses, qu’ tu veux? Prends-en un pair; j’te les laisse à six sous!“

„Laisse-les moi pour vingt centimes“, erwidert der Angerufene nicht unbillig, denn er hat sich inzwischen die Schuhe gründlich angesehen, das durchbrochene Oberleder, die schiefe Ebene der Absätze, die Reste der Sohlen, die aufgerissenen Ösen, die fehlenden Senkel. Aber der Schuhwarenhändler würdigt ihn keiner Antwort, und so sucht der Käufer dreißig Centimes aus seinen Taschen zusammen.

Nicht jeder Schuhhandel kommt so glatt zustande: ein struppiger Rotbart hat ein Paar Zugstiefel ausgewählt, denen der Zug vollständig und die Stiefel fast vollständig fehlen. Sechzig Centimes will der Verkäufer. „Was? Sechzig Centimes? Du bist wohl toll? Für das Geld kriege ich sie in der Rue de la Paix!“ Es ist ein Gedanke nicht ohne Phantasie: sich die zerfetzten Stiefeletten in einem Schaufenster der Rue de la Paix vorzustellen!

Eine reinliche Arbeiterfrau wird von ihrem vierjährigen Sprößling zu einer Schachtel gezerrt, in der rote und gelbe Bausteine durcheinandergeworfen sind, damit man nicht auf den ersten Blick sähe, wieviel davon fehlen. Sie fragt nach dem Preis: „Combien ça?“ — Die Verkäuferin (nachdrücklich): „Cette boîte de construction? Quartre sous.“ Die Arbeiterin entfernt sich, die Hände ihres Buben sind in ihren Rock gekrallt, sein Köpfchen ist nach hinten gewendet, seine Augen sind, gefeuchtet, noch in die roten und gelben Würfel und Prismen gebohrt. „Dis ton prix alors!“ ruft die Händlerin der Frau nach. — „Deux sous.“ — „Emporte la, va!“ Glückstrahlend greift ein Kind aus Saint-Ouen nach einem Baukasten, den ein Pariser Kind weggeworfen hat.

Ein anderes Weib kann seinem Kind nur eine Puppe kaufen, der die Schädeldecke fehlt; mit einem Sous ist sie überzahlt. Man stelle sich die Eleganz eines Damenhutes vor, der bereits „an Asch’n“ war und und jetzt für fünf Sous zu haben ist! Dort, der Rosenkranz kostet bloß zwei Sous und findet keinen Liebhaber. Das Portemonnaie daneben — es ist zerrissen, zerschlissen — vier Sous, denn es trägt eine Freiherrnkrone. Für „Riflards“, alte, total unbrauchbar gewordene Regenschirme, gibt es eigene Käufer; sie zahlen einen Franken für je drei solcher stangenloser, durchlöcherter Schirmkrüppel auf dem Lausmarkt oder dem Flohmarkt und stellen sie in ihren Werkstätten zu unschönen, schäbigen Schirmen zusammen, die sie für anderthalb Franken immerhin noch verkaufen können. Der Nachttopf ohne Henkel, fünfundzwanzig Centimes sein Preis, ist schnell losgeschlagen. Der Vogel Phönix hat hier Konkurrenz: alles erwacht — so wie er — aus der Asche zu neuem Leben.

Streitigkeiten brechen los, ein betrunkener Mann will von seiner Frau einen Franken, den freien Sonntagvormittag weiterzechen zu können, die Gattin aber, wütend über den Lumpen von Lumpensammler, der von der Morgenernte noch nicht nach Hause gekommen ist, während sie sich mit dem Verkauf der „Brocante“ abrackern muß, schreit: „Sale cochon ivre, va!“ Als er bedrohlich auf sie zutorkelt, hebt sie den Hirschfänger, den er gestern im Kehricht aufgelesen hat, gegen ihn. Sie sind ein wüstes Volk, die Pariser Chiffonniers, und auch der gestern in den Müllkasten geworfene Hirschfänger kann heute wieder eine gefährliche Waffe sein. Deshalb flüchtet der besoffene Ehemann, so schnell er kann.

Heinrich Heine, der diese Zunft mitsamt den Großkopfeten aller Staaten in den Kehricht verdammen wollte, liegt nun nicht weit von der Porte Clignancourt. Oft hat er sich die Frage nach dem Ort seines Grabes vorgelegt:

Wo wird einst des Wandermüden

Letzte Ruhestätte sein?

Unter Palmen in dem Süden,

Unter Ulmen an dem Rhein?

Das aber hat er sich doch nicht gedacht, daß er sie ganz nahe von den Pariser Lumpensammlern finden werde, die er so beschimpft hat!

Der rasende Reporter

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