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DIE WELTUMSEGELUNG DES „A. LANNA 6“ I. VON PRAG NACH PRESSBURG ÜBER DIE NORDSEE

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An Bord des „A. Lanna 6“, auf hoher See, 8° 30’ ö. L.; 43° 58’ n. B.; 6. Okt. 1920.

Preßburg liegt südöstlich von Prag. Also muß man, wenn man von Prag nach Preßburg will, zuerst nördlich fahren, immer nördlich, bis dorthin, wo der europäische Kontinent aufhört, Kontinent zu sein, hinter Hamburg, hinter Cuxhaven, noch immer nördlicher bis in die Nordsee. Und dann nach Westen, auf Kanälen und Flüssen unausgesetzt nach Westen, über die Weser, bis zur deutsch-holländischen Grenze, und weiter bis zum Rhein ... Das ist so die Logik der Wasserstraßen ...

Preßburg liegt 350 Kilometer von Prag entfernt, etwa 250 von Budweis. Die Moldau hat (bei Hohenfurt) einen Abstand von bloß 35 Kilometern von der Donau (bei Linz). Aber will man von der Moldau auf die Donau, so muß man 2170 Kilometer fahren, „bis Babitz“, sechs Wochen lang, acht Wochen lang, — ich weiß noch selbst nicht, wie das alles werden soll. Morizl, wo hast du dein linkes Ohr?

Der Tender „A. Lanna 6“, der bisher beschaulich im Holleschowitzer Hafen oder am Frantischek lag oder Elbkähne für die Moldauregulierung schleppte oder Kohlenkähne aus Aussig am Gängelband schleifte, ward plötzlich zu Höherem ausersehen: zu Baggerungsarbeiten muß er nach Bratislawa. Dort soll ein Hafen für zwei Millionen Tonnen ausgebaut werden, und für die Arbeiten braucht man die Moldauflottille. Wie sie hinkommt? Die tschechoslowakischen Eisenbahnbehörden gaben die Auskunft: „Per Bahn geht das nicht.“ So fuhr „A. Lanna 6“ — als erstes Schiff der Republik, das von Prag nach Preßburg auf dem Wasserwege abgeht — am Donnerstag, dem 23. September 1920, um sieben Uhr früh, vom Holleschowitzer Hafen mit sechs Tonnen Kohle ab. Es ging bis Mirschowitz, dann Lobositz und weiter nach Aussig, wo vier Tage Aufenthalt war, bis wir endlich am 30. einen Waggon Kohle von Petschek nehmen konnten. Auch ein Haupter kam hier an Bord, der um 1400 Mark unser Schiff nach Dresden, Koswig, Werben, Lauenburg führte. Am 4. Oktober, um zehn Uhr vormittags, legten wir in Hamburg am Zollkanal an.

Vom Kai bis Dowenfleth und von der Wandrahmbrücke schauten die Mädchen in kurzen Röcken interessiert auf den niedrigen Dampfer mit den neuen Farben. Und wir, wir schauten vom niedrigen Dampfer mit den neuen Farben nicht minder interessiert zu den Mädchen in kurzen Röcken auf dem Kai des Dowenfleth und auf der Wandrahmbrücke hinauf.

Ein neuer Lotse kam an Bord, der uns für 1300 Mark über das Wattenmeer nach Wilhelmshaven führen soll, und an der Landungsbrücke stand wieder ein Flußlotse, der uns in Wilhelmshaven erwarten und durch die Kanäle und über Rhein und Main auf die Donau bringen wird; der kriegt 8000 Mark. Der Seelotse besah unsern Kasten mit unverhohlenem Mißtrauen. Aber schließlich (1300 Mark sind viel Geld!) sagte er, es werde schon gehen, und traf einige Sicherheitsmaßnahmen. Eine Abflußgatte für Meerwasser, das bei Seegang auf Deck schlagen könnte, müsse hergerichtet werden; der herbeigeholte Schlosser verlangte dafür 300 Mark, woraufhin wir uns die Abflußgatte selbst in die Bordwand hackten. Das Rettungsboot, bisher frei auf den Klampen ruhend, wurde mit Ketten seefest gemacht. Der Kamin wird durch Trossen gestützt werden müssen, aber vorläufig schieben wir diese Arbeit noch auf, da wir Elbbrücken zu passieren haben. Wir nahmen vier Tonnen Steinkohle, ein Kompaß wurde eingeschifft, die große Seekarte auf dem Kapitänsstand aufgespannt.

Mittwoch, den 6. Oktober, 10 Uhr 35 Minuten vormittags, stachen wir, erstes Schiff tschechoslowakischer Flagge, von Hamburg aus in See. Durch den Binnenhafen und den Niederhafen fuhren wir, rechts Sankt Pauli-Landungsbrücken, die Hallen des Elbtunnels, der Riesen-Bismarck schaut vom Postament auf den Tender mit der rot-blau-weißen Flagge, dann sind wir en face der Davidstraße, Altona, gestern abends waren wir darin, in ihren Seitenstraßen, Heinrichstraße, Marienstraße, Friedrichstraße bis zur Reeperbahn, Lupanar an Lupanar, eine Welt, in der sich unter dem Schreien von Musikautomaten in Riesenschaukeln und Karussellen und Kinos und Hippodromen und Schenken und Schaubuden und Tanzrädern der tollste Weltgroßhandel der Sexualität vollzieht. Steuerbords bleibt hinter unserem Schiff der Steinwärder zurück mit dem verödeten Hapaghafen, die Schiffe sind abgeliefert, davor aber sehen wir gleichzeitig ein eisernes Firmament von tausendfach ineinandergeschobenen Gerüsten und Gestängen, die Werft „Blohm und Voß“, Hellinge und Docks sind besetzt, Krane fahren aufwärts und seitwärts, Hämmer dröhnen, und auf der Vulkanwerft ist es nicht anders.

An Heringsloggern aus Rügen fahren wir vorüber, an Islandfischern von Cuxhaven, an Segelschiffen, die das weiße Kreuz auf rotem Grund tragen, wenn sie aus Dänemark, und das gelbe Kreuz auf blauem Feld, wenn sie aus Schweden sind, ein amerikanischer Kargodampfer überholt uns bei Blankenese, fast immer eilen die Matrosen an die Reeling, rufen ihre Offiziere herbei, und zerbrechen sich sichtlich die Köpfe über das Liliputanerschiff mit unbekannten Farben.

Von einem deutschen Dreimastschoner werden wir durch das Sprachrohr angepreit: „Halloh! Was habens da für Flaggen?“

Wir haben leider kein Sprachrohr an Bord, können keine Antwort geben, und der Dreimaster fährt mit unbefriedigter Neugier von dannen.

Auf Finkenwärder arbeitet die Deutsche Werft, weit rückwärts ist ein Komma auf dem Horizont: der Kirchturm von Buxtehude; dort übt ein Schmied von alters her sein Gewerbe aus und ist so populär, daß temperamentvolle Frauen ihren schlappschwänzigen Ehegatten die Verwünschung zuzurufen pflegten, sie mögen sich vom Buxtehuder Schmied eine Eisenstütze zur Stärkung ihrer Energie anschmieden lassen. Aus dieser ehelichen Verwünschung ist dann die Redensart „Geh nach Buxtehude“ geworden und in Gegenden gedrungen, von wo der Weg in dieses „Eisenach“ (dieses Wort ist in Analogie zu „Steinach“ gebildet) zu weit wäre! Backbords und steuerbords wird das Land immer kahler und flacher, es paßt sich gleichsam in seiner Form dem Meere an, und schließlich sieht die Heide nicht bloß wie erstarrte See aus, sondern sie ist noch wellenloser als diese. Nur hie und da dreht eine Windmühle ihr Hakenkreuz, als winke sie uns zu, „hier ist noch deutscher Boden“. Punktiert sind schmale Sandbänke von rastenden Möwen. Unsere Straße ist von roten und schwarzen Bojen markiert, — wir brauchen den Kompaß nicht zur Steuerung.

Hinter den Kegelschloten der Brunsbütteler Zementfabrik („hier sieht’s wie in Podol aus“, sagt Struha, der alte Maschinist), fahren wir an der Mündung des Kaiser-Wilhelm-Kanals vorüber, er führt nach Kiel, in die Ostsee. Links Hannover. Rechts rückt die schleswig-holsteinische Küste immer weiter und weiter. Mit dem Glas luge ich nach den Helgoländer Felsen aus. Aber ein Moldautender ist kein Aussichtspunkt.

Die Elbe ist hier schon meerhaft. So weit sind die Ufer! Grünlich wird das Wasser. Der Nordwestwind läßt das Schiff rollen. Der Tag macht seine Polster zurecht und blinzelt schläfrig.

Gasflammen auf Leuchtbojen, die auch tagsüber brennen, werden sichtbar. Die Flut schlägt uns entgegen, verzögert das Tempo des „A. Lanna 6“. Salzig und naß ist die Kälte, die sich uns in Mund und Poren drängt. Manche Leuchttürme sind ruhigen Blicks, andere zucken ununterbrochen mit den Wimpern. Um sechs Uhr fahren wir den großen Kai von Cuxhaven entlang. Vor sechs Jahren habe ich ihn auch gesehen, den großen Kai von Cuxhaven. Da war er schwarz von Menschen, von jubelnden Zehntausenden, die den größten Dampfer der Welt sehen wollten. Ich stand oben auf dem Promenadendeck, elf Stockwerk hoch, und nur durch den Zeiß konnte ich die Gesichter da unten unterscheiden. Die Bordkapelle spielte: „Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus ...“, unsere schwimmende Stadt fuhr ab, Tücherschwenken.

Wehmütiger als damals die Abfahrt muß mich heute die Ankunft stimmen. Von unten blicke ich zum Molo empor. Und kein Mensch ist auf dem herbstabendlichen Steinwall zu sehen. Nein, es ist nicht mehr das größte Schiff der größten Flotte, auf dem ich da bin. 8 Tonnen hat „A. Lanna 6“, 55 000 hatte die „Vaterland“. Keines ihrer Rettungsboote war so klein wie unser heutiges Vehikel. 12 000 Mann Besatzung und 4080 Passagiere, — unser Dampfboot hat 3 Mann Besatzung für seine Seefahrt, und nur einen Passagier, mich.

Und für den Zeugen dieser beiden Ereignisse von gleicher Begriffskategorie und ungeheurem Dimensionsunterschied ergibt sich bei den Vergleichen, die er unsinnigerweise anstellt, nichts anderes als das, was jedem Menschen unserer Zeit überall und stündlich einfällt: daß es nie einen größeren Divisor gegeben hat, als diese sechs Jahre.

Der rasende Reporter

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