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Alles ist Wasser!

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Wenn man etwas verstehen will, muss man mit einer Frage anfangen. Die Frage braucht nicht besonders gescheit zu sein. Vieles von dem, was wir heute wissen, haben wir gelernt, weil Menschen vor langer Zeit Fragen gestellt haben, die anderen dumm vorkamen. Das hat sich zahllose Male wiederholt, seitdem es auf der Erde neugierige Menschen gibt. Bei der Jagd nach der Wahrheit sind alle Fragen erlaubt, ob sie nun schwieriger sind („Was war vor dem Universum?“) oder einfacher („Warum haben die Marienkäfer Pünktchen?“).

Ab und zu müssen wir auch unsere Forschungen hinterfragen. Eine solche Frage ist: „Was ist Wahrheit?“

Das ist eine einfache Frage. Mit der Antwort sieht es da schon ganz anders aus. Die Forscher sagen gern, in der Natur sei Wahrheit das, was wir mit unseren Sinnen beobachten können, also das, was sich sehen, hören, fühlen, riechen und schmecken lässt. Wenn jemand ein rotes Auto sieht, sagt er die Wahrheit, indem er erklärt, es sei rot. Aber viele Menschen sind farbenblind und sehen keinen Unterschied zwischen Rot und Grün. Wenn also ein Farbenblinder ein rotes Auto als grün bezeichnet, lügt er deshalb trotzdem nicht. Für ihn ist es die Wahrheit, dass Rot und Grün dasselbe sind – für jemand anderen nicht.

Ähnlich geht es auch mit unseren anderen Sinnen: Gehör, Geruchssinn, Tastsinn der Haut. Alle Sinne funktionieren so, dass die Menschen die Wirklichkeit auf ihre eigene Weise erleben. Dieses Buch erzählt von vielen unterschiedlichen Ansichten, was die Wahrheit über die Natur ist, und es zeigt sich, dass es auf die Frage nach der Wahrheit keine abschließende Antwort gibt. Vielleicht werden wir niemals eine solche Antwort finden.

Das Problem mit Wahrheit oder Unwahrheit gilt auch für das, was hier steht. Die Geschichte der Jagd nach der Wahrheit handelt davon, was die Menschen gedacht haben. Es ist für uns schwer zu verstehen, was in den Köpfen unserer Bekannten vor sich geht. Selbst bei nächsten Angehörigen ist es schwierig. Wie schwer ist es da erst, die Gedanken von Leuten zu verstehen, die vor mehreren Jahrtausenden in einem fremden Land gelebt haben.

So ein Fall ist Thales, der als der erste Forscher gilt. Er wurde um das Jahr 625 v. Chr. in der griechischen Stadt Milet geboren. Er soll ein berühmter Kaufmann und Politiker und außerdem ein fähiger Astronom und Mathematiker gewesen sein. Er sagte für das Jahr 585 v. Chr. eine Sonnenfinsternis voraus, und er riet den Seeleuten, sich am Sternbild des Kleinen Bären zu orientieren, das immer nach Norden weist und das auf hoher See als eine Art „Himmelskompass“ dienen kann. Thales hat noch viele andere wichtige Entdeckungen gemacht und gilt als einer der klügsten Griechen aller Zeiten.

Ihm werden viel mehr großartige Leistungen zugeschrieben, als ein einzelner Mensch überhaupt erbringen kann. Alles jedoch, was wir über ihn wissen, ist erst lange nach seinem Tod aufgeschrieben worden. Die Forscher wissen in Bezug auf Thales nur eins ganz sicher: Er hat die Antwort auf die Frage „Woraus ist alles in der Natur gemacht?“ gesucht.

Jeder weiß heute, dass die Erde und alles, was es darauf gibt, aus Stein, Metall, Erde, Wasser und Luft besteht und Menschen und Tiere aus Fleisch, Fett und Knochen. Das wusste Thales natürlich auch. Was er wissen wollte, war, ob alles, was wir sehen, wirklich aus einem einzigen Stoff besteht, der sich auf unterschiedliche Weise verhält. Und Thales fand eine Antwort: Alles ist Wasser!

Thales glaubte, dass Menschen, Tiere, Pflanzen und alles, was es in der Natur sonst noch gibt, aus Wasser besteht und dass die Erde eine flache Scheibe ist, die in einem riesigen Meer schwimmt. Er glaubte außerdem, dass es vor langer Zeit nur Wasser gegeben hat, aus dem dann alles andere entstanden ist. Deshalb hat er das Wasser als „Urstoff“ bezeichnet.

Es ist schon seltsam, dass Thales sich für das fließende, durchsichtige Wasser entschieden hat, das so wenig Ähnlichkeit mit Gegenständen wie Steinen oder Bäumen hat. Aber die Stadt Milet, in der Thales lebte, liegt am Mittelmeer, in warmem, trockenem Klima. Die meisten Menschen ernährten sich von der Landwirtschaft und vom Fischfang, für sie war das Wasser deshalb lebenswichtig. Thales war auch viel gereist, und er wusste, dass die größten Reiche seiner Zeit, Babylon und Ägypten, an großen Strömen lagen. Ohne Wasser können die Menschen sich nirgendwo ansiedeln, und ohne Wasser stirbt jegliches Leben. Das war einer der Gründe, weshalb Thales das Wasser für einzigartig hielt.

Eine andere Besonderheit des Wassers ist, dass es in drei unterschiedlichen Formen auftritt. Diese Formen kann man in der Küche sehen. Aus dem Wasserhahn kommt Wasser in flüssiger Form. Im Kühlschrank ist es als Eis vorhanden, also in fester Form. Und wenn man einen Topf Wasser zum Kochen bringt, dann bilden sich graue Wolken aus Wasserdampf.

Alles, was wir in der Natur sehen, tritt entweder in fester Form, als Flüssigkeit oder als Gas auf. Thales kannte nur einen Stoff, den es in allen drei Formen gibt und der sich aus einer Form in eine andere verwandeln kann: Wasser. Deshalb hielt er auch so unterschiedliche Dinge wie Bäume und Milch und Wolken nur für unterschiedliche Erscheinungsformen von Wasser.

Thales hatte eine gute Frage gestellt, spätere Forscher erkannten seine Antwort jedoch als falsch. Und dennoch: Das Wichtige an Thales ist, dass er wie ein Forscher dachte. Er hatte begriffen, dass hinter vielen komplizierten Erscheinungen in der Natur eine einfache Ursache stecken kann. Thales hatte außerdem begriffen, dass Religion unsere Fragen nach der Natur nicht beantwortet. Die Antworten liegen in der Natur selbst. Wie wir sie finden, das ist unsere Sache.

Thales behielt seine Überlegungen nicht für sich: Er fing an zu unterrichten, und nach und nach hatte er viele Schüler. Diese Schüler stellten ihrerseits Fragen, und einige gelangten zu anderen Antworten als ihr Lehrer. Zum Beispiel glaubte sein Schüler Anaximenes, alles bestehe aus Luft. Solche Meinungsverschiedenheiten waren auch etwas Neues.

Eine Religion fordert in der Regel, dass alle einer Meinung sind. Wenn jemand ein Christ sein möchte, muss er allem zustimmen, was Jesus gesagt hat. Er muss auch hinnehmen, was in der Bibel steht, obwohl ihm manches davon seltsam oder falsch vorkommt.

Wenn jemand wie ein Forscher denken will, liegt der Fall anders. Dann muss er alle möglichen Fragen stellen und seine eigenen Antworten finden. Er darf nichts nur deshalb für die Wahrheit halten, weil irgendwer es behauptet hat.

Als Thales dieses neue Denken erfunden hatte, war damit auch ein neuer Beruf entwickelt: Philosoph. Dieses griechische Wort bezeichnet jemanden, der „das Wissen liebt“. Es ist die Aufgabe der Philosophen, die Natur und die Menschen zu studieren, zu diskutieren und Bücher zu schreiben.

Einige Jahrhunderte nach dem Tod des Thales hatten sich die Philosophen spezialisiert. Die einen interessierten sich für die Natur, sie wurden „Naturphilosophen“ oder „Wissenschaftler“ genannt. Anderen ging es mehr um die Frage, wie die Menschen denken und leben. Heutzutage nennt man nur noch diese Leute „Philosoph“. Wenn dieses Buch von der Jagd nach der Wahrheit handelt, sind hier nur die Naturphilosophen gemeint.

Es war kein Zufall, dass die ersten Philosophen aus Griechenland stammten. Die alten Griechen waren tüchtige Kaufleute, kühne Seefahrer und Entdecker. Zur Zeit des Thales hatten sie rund um das Mittelmeer Kolonien gegründet. Die Griechen beschlossen auch als Erste, dass das Volk entscheiden sollte, wer regiert. Noch immer wird ein solches System mit dem griechischen Wort für „Volksregierung“ als „Demokratie“ bezeichnet.

In Griechenland fanden neue Gedanken leichter Gehör als anderswo. Das galt nicht nur für Philosophen, sondern auch für Schriftsteller, Dichter und Bildhauer. Da unsere moderne Gesellschaft weiterhin von den Gedanken der alten Griechen beeinflusst ist, nennen wir Griechenland auch „die Wiege unserer Kultur“.

Die Jagd nach der Wahrheit: Die unendliche Geschichte der Weltforschung

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