Читать книгу Maestro sieht blau - Elena Jedaite - Страница 10
ОглавлениеUngewollte Publicity
und zwei Geschenke mit Ohren
Ich fragte mich immer, wie Leute von Svens Format es im Schein des Rampenlichts aushielten, ohne sich dabei eine Lichtallergie einzuhandeln. Sven hatte zwar eine Assistentin, die für ihn die Post erledigte und all seine Fans mit freundlicher Geduld abspeiste, um dem Maestro den Rücken freizuhalten, aber … Den Rest musste er immerhin selbst bewältigen, und er kam damit zurecht, ohne daran Schaden zu nehmen. War es möglich, dass man sich im Laufe der Zeit an die Strahlen der klickenden Kameras gewöhnte und die neugierigen Blicke, die einen Schritt für Schritt durch den Tag stachelten, ignorieren lernte? „Ich verschanze mich doch tagsüber in dem Atelier von ‚Pygmalion’ “, meinte er und versicherte mir, dass er nicht einmal zusammenzuckte, wenn ihn einer seiner Fans mit intensiven Blicken durchspießte.
Ich fand diese Lebensweise wahnsinnig anstrengend, aber ich war - im Gegensatz zu den strahlenden Persönlichkeiten wie mein schöner Bruder und das Objekt meiner heimlichen Träume - eher ein etwas schüchterner Typ.
Ich war zu sehr irritiert, um mich geschmeichelt zu fühlen, als ich einen Stapel Post für mich vor der Praxistür vorfand. Ich glaubte sogar, ich war auf dem besten Weg dazu, eine Phobie in Bezug auf Überraschungen zu entwickeln. Besonders unheimlich kamen mir die Überraschungen vor, die mir vor der Praxis auflauerten.
„Oh, dem angeblichen Geschwürträger ist es doch gelungen, für dich einen Fanclub zusammenzutrommeln“, grinste Tony und hob die unzähligen Briefumschläge für mich auf. „Willst du vielleicht zuerst deine Fanpost durchsehen, um dich für unsere Spezialaktion in Stimmung zu bringen? Wir wollen doch die Kunst der Diplomatie um eine neue Dimension bereichern. Wenn wir unsere Patienten weiterhin pflegen wollen, müssen wir darauf achten, dass unsere heutigen Telefonate als ein Meilenstein der diplomatischen Finesse in die Geschichte eingehen.“
Na, danke, Dr. Brigg, diese Herausforderung spornte einen wirklich an! Ironisch gemeint, wohlgemerkt. Ich fühlte meine Knie zittern, denn ich erfasste plötzlich die Tragweite eines eventuellen Missgeschicks. Warum hatte mich der coole Doktor bloß mit seiner Nonchalance in Sicherheit gewiegt, wenn er vorhatte, mich gleich danach mit einem Kinnhaken gegen die Mauer der Realität zu schleudern?
„Mandy, ich wollte dich nur ein wenig aufziehen. Mach nicht so ein Gesicht! Du bist ja ganz bleich geworden. Es ist alles halb so wild. Wir müssen aber tatsächlich elegant vorgehen, um es hinzukriegen. Ich koche einen Kaffee, damit du ein wenig Farbe bekommst und zu zittern aufhörst. Du könntest dich währenddessen deiner Post widmen. Scherz beiseite, öffne wenigstens einen Brief, vielleicht kommst du so auf andere Gedanken und gehst dann die Sache etwas entspannter an. Ein wenig Inspiration würde dir nicht schaden“, meinte er dann doch augenzwinkernd und goss Wasser in die Kanne.
Ich seufzte und riss einen Briefumschlag auf. Vielleicht hatte Tony Recht, und ich brauchte tatsächlich ein wenig Unterhaltung, um vom Ernst der Sache abgelenkt zu werden. Ich habe schon vor Jahrzehnten festgestellt, dass ich wesentlich besser dran war, wenn ich an die wirklich wichtigen Sachen mit vermindertem Eifer ranging. Dann war ich weniger verkrampft und weniger darauf versessen, alles goldrichtig zu machen. Manchmal drängte sich einem der Eindruck auf, die Sache mit dem Eifer liefe nach einer schrägen Logik ab: Je mehr man sich anstrengte, desto miserabler war das Ergebnis. Man könnte fast meinen, ein böser Geist hätte seinen Spaß daran, die Bestrebungen der Emsigen zu sabotieren, um ihre eifrigsten Bemühungen zunichte zu machen. Lahme Aktionen schienen dagegen dieses Sabotagenetz zu umgehen. Man konnte ja sehen, was man davon hatte, wenn man sich an einem nicht identifizierten Magengeschwür festbiss und alles in Bewegung setzte, um einen Hochstapler vor einem nicht vorhandenen Übel zu retten.
Also hörte ich auf Tony und beschloss, mich von den „Fans“ zerstreuen zu lassen.
„Liebe Mandy Pat, … ich darf Sie doch so nennen? Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, denn Sie sind unserer ganzen Familie ans Herz gewachsen. Mein kleiner Neffe lässt Ihnen ausrichten, Sie sollen cool bleiben, was auch immer das heißen mag. Ich sag dazu: Halte die Ohren steif, junge Dame! Die Polizei ist manchmal taub und blind, wenn’s darum geht, einen schlauen Mörder zu fassen, aber auch die Polizisten erleben ab und zu Lichtblicke. Es ist grauenhaft, was Ihnen da zugestoßen ist, Kindchen! Sie haben unser aufrichtigstes Mitgefühl. Und Sie haben uns auf Ihrer Seite. Mein Mann meinte dazu, man sollte zu Ihrem Schutz eine Wache aufstellen. Er und seine Kumpels sind Schichtarbeiter, unsere Nachbarn auch. Verstehen Sie, was ich damit andeuten will? Man könnte Sie rund um die Uhr beschützen, denn wenn ich’s mir richtig überlege, ist auf die Polizei doch kein Verlass. Die schüchtern so ein Mädchen nur ein, malen den Teufel an die Wand und lassen es dann hängen. Weil es ja nicht sicher ist, dass tatsächlich jemand hinter ihm her ist. Und wenn es dann zu spät ist, sind es gewiss nicht die Rechtshüter, die sich aus Reue Asche aufs Haupt streuen. Nicht auszudenken, wenn die Vermutung des rüden Oberkommissars letztendlich doch noch zutrifft und der Mörder sich tatsächlich vertan hat, indem er eine andere blonde Frau umgebracht hat. Mittlerweile wird er seinen Fehler bereits eingesehen haben, und liegt vielleicht schon auf der Lauer, um den richtigen Augenblick abzupassen …“
Ich musste das Blatt weglegen. „Tony, sag mir bitte etwas Stinknormales!“
„Etwas Stinknormales? Oh, Mandy, kannst du so was überhaupt verkraften?“
Oje, ich hatte mich anscheinend über Nacht in eine Schießbudenfigur verwandelt. Zugegeben, ich hatte mich im Augenblick vorübergehender geistiger Unzurechnungsfähigkeit als solche präsentiert. Aber jetzt war ich wieder klar im Kopf, wachsam und vernünftig. Und wie wurde ich dabei unterstützt?
Tony grinste immer noch und stellte eine Tasse Kaffee vor mich hin. „Komm, lass sehen, was die schreiben! Mit einem Psychotherapeuten an deiner Seite hältst du das schon durch.“ In meiner Umgebung wimmelte es nur so von Witzbolden.
„Ich will dir den Spaß gönnen“, meinte ich und öffnete den nächsten Brief. Mitgefühl, Anteilnahme, Sympathie. „Mandy Pat, ich finde es sehr anständig von Ihnen, dass Sie es der Polizei nicht nachmachen und uns nicht im Dunkeln tappen lassen. Da liegt eine verschneite Leiche herum, und keiner macht sich die Mühe, uns darüber aufzuklären. Bis auf Sie. Danke! Was ich noch bemerkenswerter finde, ist Ihre Bereitschaft, Ihre Patienten vernünftig aufzuklären. Ich frag mich, ob es der Standesdünkel ist, der die Ärzte daran hindert, uns klipp und klar zu sagen, was mit uns eigentlich los ist. Da müht man sich ab, geht von einem zum anderen und ist keinen Deut klüger als zuvor. Weil man uns schlicht und einfach die Wahrheit verschweigt. Als wäre es nicht unser Körper, der leidet. Das mit diesem ‚Stramonium’ finde ich höchstinteressant. Kann ich mir diese Tropfen einfach in der Apotheke kaufen und meinem Mann in die Suppe träufeln, oder sollte ich lieber bei Ihnen vorbeischauen? Das habe ich nämlich sowieso vor. Mein Frauenarzt sagt zwar, an Hitzewallungen stirbt man nicht, aber ich bin mir da nicht so sicher. Sie scheinen eine sehr ehrliche und zuverlässige Person zu sein, Ihnen könnte ich sogar ohne Bedenken meine Leber anvertrauen. Das heißt natürlich - die Behandlung von derjenigen. Sie tut mir nämlich weh, obwohl es angeblich keinen Grund dafür gibt. Als ob ich nicht wüsste, dass es auf dieser Welt so einiges gibt, das es nicht geben dürfte …“ Nein, nein, nein, wenn es um die Schulmedizin geht, schimpfen wir nicht mit. Jedem das Seine. Wir behandeln die uns anvertrauten Wehwehchen, die Allopathen jäten das Unkraut an ihrer Gartenecke und schnipseln die ihnen zufallenden Auswüchse weg.
„Eine neue Patientin, Tony“, lachte ich und griff nach dem nächsten Brief. „Die Leber im Angebot“ hat es tatsächlich geschafft, mich aufzuheitern. Nur dass mir gleich darauf das Lachen verging. Der nächste Brief stammte angeblich vom Mörder persönlich. Keinen Augenblick lang glaubte ich, dass ich die Zeilen des wahren Mörders vor mir hatte. Aber mir stellten sich trotz gesunder Skepsis die Nackenhaare auf. Auch Tony fand den Text kein bisschen amüsant. Nach der letzten Zeile legte er seine Stirn in Falten, wie er das immer tat, wenn er etwas missbilligte oder besorgniserregend fand. Oder wenn er sich einfach nur auf ein Problem konzentrierte.
„Komm, Tony, du glaubst doch nicht etwa, der stammt tatsächlich von der Person, die bei uns die Leiche abgelegt hat? Wer ist denn so bescheuert und entschuldigt sich dafür, dass er keinen besseren Ort gefunden hat, um seine Leiche zu entsorgen?“ Ich verdrehte die Augen und signalisierte damit gesunden Menschenverstand.
Tony zuckte mit den Schultern und meinte, wir könnten das Gekritzel leider nicht völlig ignorieren: „Gewiss ist der Brief nicht von dem Mörder. Was denkst du, wie viele Verrückte sich nach einem Verbrechen melden und sich zu der Tat bekennen. Wenn sich jemand selbst bezichtigt, der Täter zu sein, kannst du davon ausgehen, dass er es nicht ist. Aber du musst den Brief an den Oberkommissar weitergeben. Wenn du es nicht tust, kann man dir vorwerfen, du hättest der Polizei Beweismaterial vorenthalten. Du weißt schon, die wollen ja entscheiden, was für die Ermittlungen von Bedeutung ist und was im Papierkorb landet.“ Die Aussicht, mit dem obskuren Schreiben beim Oberkommissar aufzukreuzen, war alles andere als angenehm. Ich konnte mir bildhaft vorstellen, wie unser Gespräch verlaufen würde: „Frau Fox? Sie schon wieder? Oh, Sie haben wichtiges Beweismaterial? Wie reizend! Haben Sie mittlerweile auch eine neue, dazu passende Theorie? Darf ich davon ausgehen, dass ich die Ehre habe, sie als erster zu erfahren? Oder haben Sie Ihre Erwägungen bereits an die Presse weitergegeben? Nein? Oh, danke, das war sehr freundlich von Ihnen.“
Ich konnte von Glück sagen, wenn er mir nicht unterstellte, den Brief selbst geschrieben zu haben, um noch mehr Aufmerksamkeit zu bekommen. Oder würde er das etwa tun? Jetzt hatte mich auch noch ein Spinner im Visier, ärgerte ich mich. Was hatte ich da gerade gesagt? - Jemand soll mich im Visier haben? Quatsch! Er behauptete doch, bereits weit weg zu sein. Wenn er aber nicht derjenige war, für den er sich ausgab, dann war er auch logischerweise nicht weit weg, und ich hatte es mit einem harmlosen Spinner zu tun. In diesem Fall sollte es mir eigentlich egal sein, was mit ihm los war. Es war mir aber nicht egal, weil ich befürchtete, dass dieser unheimliche Brief sich unvorteilhaft auf mein Nervenkostüm auswirken würde. Würde ich nun schreckhaft zusammenzucken, wenn ich ein ungewöhnliches Geräusch vernahm oder wenn ein Schatten vorbeihuschte? Würde ich mich dauernd zwanghaft umdrehen müssen, um sicher zu gehen, dass mir keiner hinterher schlich?
Tony legte mir die Hand auf die Schulter und redete beschwichtigend auf mich ein: „Mach dich jetzt nicht verrückt, Amanda, das bringt nichts. Ich weiß, wie es dir zumute ist. Jemand spielt mit dir ein Spielchen, das du ganz und gar nicht magst. Warte ein paar Tage ab, und der Rummel legt sich wieder. Morgen passiert etwas Neues und alle stürzen sich auf die Hauptfigur der aktuellen Sensation. Dann hast du wieder deine Ruhe.“
Ich nickte, aber ich war nicht davon überzeugt, dass ich mich hier, in diesem freundlichen Raum, je sicher fühlen würde. Müsste ich mich nicht dauernd fragen, ob der Patient, der mir gegenüber saß, nicht eventuell der Autor des makabren Briefes war?
„Tony, ich will den Brief noch einmal lesen.“
„In Ordnung“, meinte er, und wir gingen den Brief noch einmal Zeile für Zeile durch.
Der Typ duzte mich sogar. „Hallo! Du bist diejenige, die meine Lieferung gefunden hat. Tut mir leid für dich. Ob du es glaubst oder nicht, ich bin kein Monster. Du scheinst noch ein ziemlich junges Ding zu sein und glaubst bestimmt, dass jeder, der einen anderen ermordet, zwangsläufig ein grausamer Mensch sein muss. Falsch! Grausam sind diejenigen, die einen dazu bringen, einen Mord zu begehen. Aber es geht hier nicht um meine Moral, sondern um dich, Kleine. Hör auf zu zittern. Ich kenne dich gar nicht, hab nur in der Zeitung über dich gelesen. Der Oberkommissar soll aufhören, solchen Unsinn zu verzapfen. Von wegen eine Verwechslungstat! Es gibt eine Leiche. Und es ist gut so. Richte ihm von mir aus, er soll sich die Mühe sparen, nach mir zu fahnden. Ich habe das Weite gesucht und werde ihm bestimmt nicht über den Weg laufen. Manche Leichen verdienen es, Leichen zu sein. Und man soll daran nicht rütteln. Sonst fällt einem selbst ein Ziegelstein auf den Kopf. Und es gibt eine Leiche mehr. Eine bisher ungeplante Leiche, wohlgemerkt. Ja, solltest du mit diesem ‚Stramonium’ gegen seelische Grausamkeit mich gemeint haben, so kannst du es gleich wieder vergessen. Ich bin eher der freundliche Typ, sonst würde ich mir nicht die Mühe machen, dich, Süße, zu beruhigen. Ich mag eben keine irren Spekulationen über meine Person und mir liegt was daran, alles richtig zu stellen. Außerdem mag ich es nicht, wenn unschuldige Mädchen unnötig Angst haben müssen. Schlaf gut, Mandy Pat. Deine Eltern müssen einen Schlag haben, dich so genannt zu haben. Aber was soll's - ist nicht mein Bier.
Mit freundlichen Grüßen - der Mörder
P. S. Du fragst dich bestimmt, wieso ich die Leiche ausgerechnet bei euch deponiert habe. Leute, ihr müsst euer Tor schließen! Sonst findet ihr noch sonst was unter dem Fenster.
Mach’s noch einmal gut, und halte die Ohren steif!“
Sonst findet ihr noch sonst was unter dem Fenster! - Was könnte es denn sonst noch sein, das schlimmer war als eine Leiche, du Schlaumeier?! Wir sollten also unser Tor abschließen. Wer sagt’s denn! Hatte ich denn was anderes behauptet? Aber wer hörte schon auf mich. In meinem Anflug von Selbstbestätigung vergaß ich doch glatt, dass ich mich gerade mit dem angeblichen Mörder solidarisiert hatte. Und wenn er es gar nicht war, dann freute ich mich eben darüber, dass ein Spinner mir Recht gab. Es war ein Jammer! Ich griff mir an die Stirn, sie fühlte sich heiß an.
„Tony, ich glaube, ich bekomme Fieber.“ Mir war wieder ganz elend zumute. Tony seufzte und ließ mich meine Sachen einsammeln. „So wie du drauf bist, kann ich dich hier nicht gebrauchen. Ich mach das schon allein. Du bist entlassen. Heimgehen, heißen Tee trinken und ab ins Bett mir dir!“
Ich schaufelte meine „Fanpost“ in eine Plastiktüte und war Tony richtig dankbar dafür, dass er mich wegschickte, denn ich hätte mich kaum auf ein ordentliches Gespräch mit einem geknickten Patienten konzentrieren können. Ich war daher wirklich nicht zu gebrauchen. Tony war mit seinen Gedanken schon bei der unerfreulichen Aufgabe, ein paar Stunden ununterbrochen in den Hörer lächeln zu müssen, und starrte aufs Telefon. Es klingelte an der Haustür, und ich wunderte mich, dass es noch jemanden in der Stadt gab, der nicht wusste, dass die Praxis immer noch geschlossen war. Als ich die Tür öffnete, stand ich einem Mann mit einer karierten Mütze gegenüber. Er grinste mich breit an und streckte mir einen Rosenstrauß entgegen. Rote Rosen? Hinter dem Tor erspähte ich einen Lieferwagen. Ein Bote also. „Eine Lieferung für Sie.“ Sein Grinsen wurde noch breiter. Ich griff nach dem Kärtchen und überflog die in verschnörkelter Handschrift geschriebene Zeile: „Von einem heimlichen Verehrer. Ich mag dich, Mandy Pat.“ Dann hob der Mann vom Boden einen großen, in pinkfarbenem Papier verpackten Kasten und drückte ihn mir in die Hand: „Auch für Sie.“ Er schaute mich neugierig an und ließ den Blick über den Hof schweifen. Hier ist es also passiert. Und du bist diejenige, die diese Leiche gefunden hat. Aus diesem Grunde musste ich dir doch diese Geschenke liefern? Ich nickte und grinste zurück: Ja, ich bin es, und das ist der ominöse Hof - der Ort des unheimlichen Fundes. „Danke“, sagte ich laut und holte das pink verkleidete Paket herein in die Wärme. Der Mann mit der Mütze stand immer noch reglos da, als könnte er sich nicht dazu bewegen, aus eigenen Stücken diesen faszinierenden Ort zu verlassen. So musste ich nach einem ausgiebigen Dankeschön doch noch unhöflich sein und ihm die Tür vor der Nase schließen. Tony wurde wieder mal von seinem Vorhaben abgelenkt und näherte sich stirnrunzelnd dem pinkfarbenen Kasten. Ich holte aus dem Schrank eine Vase und stellte die Rosen ins Wasser. Meine Mutter bekam oft Blumen von dankbaren Patienten, deshalb hatten wir sogar drei Vasen in verschiedener Größe. Tony runzelte immer noch die Stirn: Ein sicheres Zeichen, dass ihm der gelieferte Kasten in Pink ungeheuer war. Jetzt wurde auch ich etwas nervös: „Tony, sag bloß, du vermutest bei dem Ding so etwas wie eine Bombe? Das kann doch nicht dein Ernst sein!“ - „So was wie eine Bombe? Du bist gut! Was es auch immer sein mag, die Lieferungen, mit denen wir seit ein paar Tagen überrascht werden, sind mir zugegebenermaßen unheimlich.“ Er stellte den Kasten vorsichtig auf den Stuhl und hielt sein Ohr dran. Ich machte es ihm nach. Ein paar Sekunden später brachen wir in ein gemeinsames Lachen aus. Das gelieferte Etwas rührte sich und gab einen Laut von sich. Zuerst leise, dann lauter. Das dritte Miaaauuu war kräftig, gedehnt und ärgerlich. Eine Katze! Jemand hatte mir eine Katze geschenkt! War denn so etwas überhaupt möglich? Wieso eigentlich nicht, unser zitronengelbes Häuschen verwandelte sich allmählich in ein echtes Märchenhaus. Mal schlenderte ein böser Geist vorbei, um uns das Gruseln zu lehren, mal schwirrte ein guter Geist vorbei, um ein drolliges Geschenk abzuliefern. Dieser spendable Geist muss meine Träume angezapft und herausgefunden haben, dass ich mir seit je her ein Kätzchen gewünscht hatte. Ich wusste doch, dass man nie zu reif war, um sich für so ein flauschiges, niedliches und zappliges Wesen zu begeistern. Der kleine Kerl sprang uns freudig entgegen, als wir ihn endlich aus dem Käfig befreiten. Der „Tiger“ war ein wahrer Wonneproppen!
„Tony, ist der süß!“, jubelte ich und ließ mich von dem winzigen Knäuel ausgiebig beschnuppern. „Der Kleine dürfte etwa sechs Wochen alt sein“, meinte Tony und fügte nüchtern hinzu: „Hoffentlich ist er stubenrein.“
„Ich behalte ihn!“, verkündete ich.
Wieso hatte ich so lange freiwillig darauf verzichtet?! Dabei meinte ich ja gar nicht den kleinen Kater. Es war übrigens tatsächlich ein Männchen, wie Tony mit seinem Expertenauge festgestellt hatte. Ich meinte eher ganz allgemein all die guten Dinge, nach denen man sich sehnte, während man sich nicht die geringste Mühe machte, sie herbeizuschaffen. Dabei stammte der schlaue Spruch „Man soll nicht auf ein Wunder warten, sondern versuchen, ein Wunder zu bewirken“ von niemand anderem als Mandy Pat, es sei denn, noch jemand hatte lange genug den immer runder werdenden Mond angestarrt und war unter dem Eindruck der unbeweglichen Stille der Nacht zu dem gleichen Schluss gekommen.
„Ich nenne ihn Pinky“, entschied ich und fragte mich, wem ich unseren Familienzuwachs eigentlich zu verdanken hatte. Ich spähte in den Transporter und ertastete einen Briefumschlag, der nach hinten gerutscht war.
„Du, kleiner Häftling, musst tüchtig gestrampelt haben“, sagte ich zu dem Tiger und streichelte ihn ausgiebig, bevor ich mich mit voller Aufmerksamkeit dem Brief widmete.
„Hallo, liebe Frau Fox, genannt Mandy Pat! Wir haben über Sie in der Zeitung gelesen und sind einträchtig zu dem Entschluss gekommen, dass Sie dringend Aufmunterung benötigen. Da wir gerade einen Wurf von drei herrlichen Kätzchen hatten, haben wir für Sie den vierfarbigen Tiger ausgewählt, der ein sehr temperamentvoller und zugleich ein sehr anschmiegsamer kleiner Kater ist. Es soll ja heißen, vierfarbige Katzen bringen einem Glück. Das können Sie gewiss gut gebrauchen. Machen Sie sich keine Sorgen, er ist bereits sechs Wochen alt, stubenrein und pflegeleicht, denn er kann sich wunderbar selbst beschäftigen. Das werden Sie bald merken, wenn Sie sich dafür entscheiden, ihn zu behalten. Wir hoffen, dass Sie sich über unser Geschenk freuen und uns unsere Freizügigkeit nicht übel nehmen. Sollte dies nicht der Fall sein, werden wir nicht beleidigt sein, wenn Sie den Kleinen zurückschicken. Unsere Adresse finden Sie auf dem Briefumschlag. Mit freundlichen Grüßen - Emily Forst.“
Vielen Dank, liebe Emily Forst! Der Tiger, genannt Pinky, wird es bei mir gut haben. Serena, unsere kleine Schwester, wird beim Anblick dieses Prachtkerls in Ekstase geraten. Sie sollte bereits zu Hause eingetroffen sein, nachdem wir sie für etliche Tage „in Verbannung“ geschickt hatten, um sie von den Verwirrungen, denen wir selbst kaum gewachsen waren, fernzuhalten. Wir brauchten einfach freie Bahn für all die Gespräche, die sich um nichts anderes als eine Leiche drehten, was kaum ein geeignetes Thema für einen stets aufgeregten Teenager mit lebhafter Phantasie darstellte. So bekam die junge Dame endlich ihr Recht: Mama spendierte ihr das „Paradies mit Pferden“ - einen Aufenthalt auf dem Lande. Reitstunden, frische Luft, Biokost und die Gesellschaft von drei anderen Pferdenärrinnen, die sie aus der Schule kannte. Das Auftauchen einer Leiche in unserer heilen Welt hatte zumindest Serenas Träume ein Stück weiterbewegt. Am Vorabend ihrer Abreise hatte sie noch schmollend in ihrem Zimmer gesessen und sich über die Ungerechtigkeit der Welt und die Insensibilität ihrer eigenen Familie beschwert. Am nächsten Tag wurde sie von Ally direkt vor der Schule abgefangen und mit dem eilig gepackten Koffer in den Bus verfrachtet, der sie in das Paradies ihrer Wahl bringen sollte. „Wieso darf ich jetzt doch noch fahren?“, staunte sie. „Die Mama hat sich das anders überlegt. Du weißt doch, sie muss das Bett hüten, um ihre Grippe auszubrüten. Deshalb habe ich mich angeboten, dir die frohe Botschaft zu überbringen und dich mit einem dicken Kuss zu verabschieden. Hab viel Spaß, Kleines.“ Sie war außer sich vor Freude, erzählte Ally, als sie Serenas Rucksack mit den Schulsachen bei uns ablieferte. Jetzt waren die Tage im Pferdeparadies um, und wir durften mit dem Zorn des Jahres rechnen, denn die Verbannte-Abgeschobene-Ausgesetzte würde mit Sicherheit ungehalten sein, wenn sie die Hintergründe ihres unerwarteten Glücks erfuhr. Die Unterschlagung einer echten Leiche, die man auch noch dazu auf unserem Grund und Boden gefunden hatte, dürfte nach dem Maßstab eines Teenagers der Höhepunkt der Unverschämtheit sein und war kaum durch etwas zu überbieten. Pferde im Tausch gegen die erste Welle der Aufregung, der wir in ihrer Abwesenheit zweifelsohne gefrönt hatten, bis wir uns die „tollsten Gänsehäute“ angedeihen ließen! Der Genuss prickelnder Gefahr, all die Spekulationen, die man hinter ihrem Rücken tückisch und heimlich abgehandelt hatte, während sie ahnungslos in den Sonnenuntergang geritten war, um danach vor dem Schlafengehen ein Glas frische Biomilch zu trinken. Ein Prost auf sauruhige, stinkgesunde und verdammt langweilige Träume! Ich wiegte mich in egoistischer Hoffnung, nur die sekundäre Welle der Entrüstung erleben zu müssen. Wenn sie bereits einige Stunden daheim war, so hatte sie sich bestimmt einigermaßen abreagiert. Die mir zugedachte Portion wüster Beschimpfungen würde ich mit Pinkys Hilfe locker einstecken können. Ich fühlte mich plötzlich erschöpft und emotional überfordert. Als Mitagentin der Telefonaktion war ich ja bereits entlassen, aber der Brief, den ich noch notgedrungen bei dem Oberkommissar abliefern musste, wollte nicht so richtig in meine Tasche schlüpfen.
„Zuerst wird Pinky in sein neues Zuhause gebracht, dann muss ich Katzenstreu besorgen und eine Kiste dazu. Oh, ja, Katzenfutter und Näpfchen. Kurz und gut, Tony, du hast gesagt, du würdest ohne mich zurechtkommen. Was ist aber mit dem Brief, den ich …?“
„Hab’ verstanden. Das Polizeipräsidium liegt auf meiner Strecke. Ich muss sowieso dahin, um mir die tote Frau anzusehen, obwohl ich absolut sicher bin, dass es sich dabei um keine meiner Patientinnen handelt. Auch um keine, die ich angeblich zu Schrott therapiert habe …“
Ich stöhnte: „Tony, bitte! Ich werde das irgendwie wieder gutmachen. Ich meinte nur: Der Oberkommissar hat keinen Grund, dich zur Schnecke zu machen. Wenn ich bei ihm auftauche, dann ist die ganze gute Stimmung, die Pinky erzeugt hat, wieder dahin. Tu es für mich. Und für Pinky.“ Tony verdrehte die Augen: „In Ordnung. Ich tue es für Pinky.“
Im Taxi stellte ich den Transporter neben mir auf den Sitz und steckte den Zeigefinger durch die Gitterstäbchen. Pinky leckte zufrieden meinen Finger und hob das Kinn, um gestreichelt zu werden.
„Pass auf, Pinky, vergiss nicht, dass du mein Kater bist. Serena wird bestimmt versuchen, dich einzuwickeln, aber du musst standhaft bleiben. Du sollst lieb zu ihr sein und darfst mit ihr spielen, aber beim Einbruch der Dunkelheit darfst du nicht vergessen, zu wem du gehörst. Ich ernenne dich somit zum Wächter meiner Träume. Du wirst sehen, Pinky, das ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Meine Traumlandschaft ist mit Stolpersteinen übersät. Wer durch meinen Traum hetzt, tut sich beim Träumen weh. Ich wüsste zu gern, was passieren würde, wenn mein Inneres wie der Panzer einer Schildkröte die Vollzahl von Ausbuchtungen erreicht hätte und nicht mehr aufnahmefähig wäre für die anfallenden Beulen, die ich mir mit Sicherheit noch zuziehen würde. Wo sollten dann die überschüssigen Kummerportionen hin, wenn es kein freies Plätzchen mehr gab, um sie unterzubringen? Wäre dann jeder vorletzte Tropfen der letzte und brächte das Glas zum Überlaufen?“
Zum Glück war Pinky für meine morbiden Überlegungen völlig unempfänglich und ließ sich genüsslich unter dem Kinn kraulen. Sein zufriedenes Schnurren war wie Labsal für mein aufgewühltes Gemüt. Das war eine wahre Entdeckung, denn es war gut zu wissen, dass das Schnurren einer zufriedenen Katze einem die Seele glättet. Ganz besonders interessant war, dass diese Therapie auch in akuten Fällen wirksam war. Auch nachdem man sein Inneres wegen Überforderungsgefahr zu einem Schutzgebiet erklärt hatte. Wie kommt dein Frauchen dazu, die Schildkröte zu ihrem seelischen Sinnbild zu ernennen, Pinky? Das war nicht unbedingt schmeichelhaft. Eine Schildkröte würde bestimmt keinen Beifall für Anmut und Esprit ernten, dafür symbolisierte sie Sicherheit und Schutz. Genau, einen Panzer müsste man haben, Pinky! Du wirst ja in Zukunft von mir beschützt. Ich aber muss aufpassen, dass ich trotz gegenwärtiger und zukünftiger Beulen der Welt immer ein tapferes und heiteres Gesicht biete. Das ist eine Kunst, Pinky, eine verdammt schwierige Kunst.
Noch bevor ich aus dem Taxi stieg, entdeckte ich Svens weinroten Porsche in der Ausfahrt. Sven war zu Besuch! Und da kam schon Serena angerannt und sah mit zusammengekniffenen Augen zu, wie ich mit einem Rosenstrauß in einer Hand und mit dem Kasten in der anderen aus dem Taxi stieg. Ich stellte den Transportbehälter ab und griff nach der Tüte mit der Fanpost, während Serena sich mit aufhellender Miene dem Gehäuse näherte, in dem meine Überraschung ungeduldig gegen die Gitterstäbchen trommelte. Pinky, der sich während der Fahrt vorbildlich verhalten hatte, witterte die Freiheit und miaute ihr vehement entgegen. Ich bezahlte den Fahrer und nahm mir ein paar Minuten Zeit, um die gelungene Überraschung auszukosten. Serenas Augen leuchteten wie zwei Weihnachtskugeln. „Ich bringe ihn ins Haus“, verlautete sie und schnappte sich den Käfig. „Er heißt Pinky“, erklärte ich unterwegs. „Pinky, Pinky“, hauchte sie beschwichtigend, denn Pinky drohte jeden Augenblick das Gitter zu durchbrechen. Aus dem Wohnzimmer tönten mir die Stimmen der gemütlichen Runde entgegen, heiter und unbeschwert. Der unverkennbare, tiefe, sonore Sound - Svens Stimme - drang im Bruchteil einer Sekunde zum Zentrum meines Gehirns durch, das für Kontrolle und Selbstbeherrschung zuständig war. Ich straffte die Schultern und … meine Stimmbänder. Es gab für meine Begriffe kalte Stimmen, lauwarme Stimmen und Stimmen, die vor Überschuss an Glutstoffen vibrierten. Die Luft, die Sven atmete, war ein einziger Energiesmog. Ich bildete mir sogar ein, diesen Phosphorwirbel mit bloßem Auge sehen zu können. Wenn meine Sinne und meine Hautporen mit der Abwehr überfordert waren, schloss ich einfach die Augen, um die Illusion des Funkelns auszublenden, und musste meine gesamte Kraft aufbringen, um mich dagegen zu stemmen und letztendlich dagegen bestehen zu können. Der Kraftaufwand lohnte sich, ich begrüßte Sven und beglückwünschte mich zu dem gleichmäßigen Klang meiner Stimme. Wer sagt’s! Wenn ich diese Fertigkeit, auf die ich so unheimlich stolz war, perfektionierte, würde ich sie noch auf den Stand der Meisterschaft bringen.
Ich lud meine Fanpost aus, versorgte meinen Blumenstrauß und ließ meinen Pinky von Groß und Klein bewundern. Als „klein“ durfte Serena übrigens nur bei Lebensüberdruss bezeichnet werden. Mit ihren vierzehn, bald fünfzehn Jahren wehrte sie sich ausdrücklich gegen jegliche Verniedlichung ihrer Person und forderte Respekt für ihre, laut eigener Aussage, Frühreife. Sie streichelte Pinky mit der Hingabe einer entzückten Fünfjährigen und wisperte seinen Namen, als wollte sie sich seinen Klang auf der Zunge zergehen lassen. Herrlich! Auch ich durfte mich ein wenig entspannen und mich hinter dem Neuankömmling verschanzen, der die reichliche Zuwendung der neuen Familie mit zufriedenem Schnurren entgegennahm.
Sven beteiligte sich mit aufrichtiger Freude an dem Willkommensstreicheln, doch mir kam es vor, als würde er mich die ganze Zeit aus den Augenwinkeln beobachten. Erst als Pinky von Serena völlig in Beschlag genommen wurde und die Treppe hoch rannte, um sich der liebenswürdigen Runde zu entziehen, nahm mich Sven beiseite und hielt mir ein in schmuckes Geschenkpapier gewickeltes Päckchen entgegen.
„Auch ich habe ein kleines Geschenk für dich, Mandy“, strahlte er. Der Schalk in seinem Blick ließ darauf schließen, dass es sich bei dem Geschenk um keine Gaber romantischen Charakters handelte. Noch bevor ich Svens Geschenk aus dem lila Seidenpapier geschält hatte, wusste ich, dass es mit Sicherheit keine rosa Wolke aus Seide war. Und keine sonstige edle Wolke, die mehr als Rosa zu meiner Augenfarbe passte.
„Na, was sagst du?“ Er beobachtete meine Reaktion auf die drollige Ohrenmütze aus feinem Kunstpelz. Gedämpftes Hellblau. Die Augenfarbe wurde offensichtlich berücksichtigt. Das Gefühl weiblicher Eitelkeit blieb aber wie stets unbefriedigt. Die Mütze war richtig goldig, hätte aber ebenso gut zu einem unausgegorenen Teenager gepasst. Es war eindeutig keine galante Aufmerksamkeit für eine Dame, die man als solche wahrnahm. Ich kämpfte einen Seufzer nieder und erfreute mich an der flauschigen Weichheit und der edlen Faktur des Stoffes.
„Aufsetzen!“, forderte er und lächelte übers ganze Gesicht. So darf man nicht lächeln, Sven, sonst könnte ich noch meinen, dir wurde bei meinem Anblick warm ums Herz, kommentierte ich, ohne dass ein Wort über meine Lippen kam. Fast im gleichen Augenblick erhielt ich die Bestätigung meines bittersüßen Gedankens. „Herzerwärmend, Mandy! Du schaust aus wie ein Märchenwesen.“ Nur dass meine Märchenstunde bereits um war, entgegnete ich stumm und verlangte einen Spiegel. Hmmm, Mandy Pat, das Bild kann sich sehen lassen. Und warm war die Wunderkappe! Warm und weich. Wie eine kleine angewärmte Wolke für den Nachwuchs der Damenwelt. Trotz meiner anfänglichen Enttäuschung wegen des Mangels an romantischem Flair musste ich wieder mal Svens guten Geschmack bewundern: Meine Mütze mit den lustig abstehenden Ohren, die sich am Ende zu winzigen blauen Federn verfranzten, war absolut einzigartig und hatte Klasse. Ich begutachtete mein Bild noch einmal im Spiegel, fand meine Wangen etwas zu blass und die Augen eine Spur zu groß: Ich schien in den letzten Tagen ein wenig abgenommen zu haben. Nur an meiner Kopfbedeckung war nichts auszusetzen, sie war ein wahrer Blickfang. Die Federohren ließen den Eindruck entstehen, als würden ein paar widerspenstige hellblaue Locken unter der Kappe herauslugen. Und wer hat schon hellblaue Locken, wenn nicht ein Wesen aus einem Märchen? Aus einem Märchen von einem Prinzen, der ein Mädchen in einem Zuckerwattetraum gefangen hielt, weil es dort angeblich am besten aufgehoben war.
Ich hauchte Sven einen schwesterlichen Kuss auf die Wange, denn er hatte das Geschenk mit liebevoller Sorgfalt ausgesucht. Und ich streichelte das Geschenk mit Ohren, das sich ebenso angenehm und geschmeidig wie Pinkys Fell anfühlte.
„Wie komme ich eigentlich zu dem schönen Geschenk?“ - „Ich muss mich wohl zu diesen mitfühlenden Mitmenschen bekennen, die einem verwirrten Mädchen diesen Berg von Anteilnahme beschert haben.“ Sven zeigte auf das Häufchen Briefe, das Pinky mittlerweile im ganzen Raum zerstreut hatte. Einen davon trug er zwischen den Zähnen und legte ihn mir wie eine erledigte Maus vor die Füße. Ich klatschte entzückt in die Hände. Nicht nur, weil es so überaus goldig aussah, sondern auch, weil ich es war, für die er seine Beute angeschleppt hatte. Er weiß schon jetzt genau, wer sein Frauchen ist, dachte ich mit kindlichem Stolz und holte ihn mir in den Schoß. Ich schaute zu Sven hoch, und mir stockte der Atem: Ein Lichtschimmer huschte über seine Züge und sein Gesicht erhellte sich, als ob in seinem Inneren ein großes Licht aufgegangen wäre. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich dieses flüchtige Etwas glatt für einen Anflug ersehnter Zärtlichkeit gehalten. Diese kleine tückische Hoffnung, die sich meiner bemächtigte, wenn ich mal für eine Sekunde abgelenkt war und meine Alarmglocken abgeschaltet hatte, schnürte mir fast die Kehle zu. Meine Hoffnung hatte einen elegischen Klang, der sich wesentlich von dem hellen Trompetenlaut unterschied, den ich der Hoffnung anderer Leute andichtete. Ein letzter Sonnenstrahl, der sich kurz vor der Dämmerung im Laub der Bäume verfing und nur zaghaftes Licht spendete, weil er schon dabei war, in die anschwellende Dunkelheit abzugleiten. Alles, was scheint, um gleich wieder zu erlöschen, klingt doch unheimlich traurig, oder etwa nicht?
Ich tarnte meine Verlegenheit mit vorgetäuschtem Schreck: „Leute! Wir brauchen doch Katzenstreu und eine Kiste für Pinky. Und Futter! Ich bin ein schlampiges Frauchen, Pinky. Aber ich werde es noch lernen“, versprach ich dem Knäuel in meinem Schoß.
„Das wirst du ganz bestimmt.“ Svens Stimme klang seltsam belegt. Entweder litt ich heute unter kompletter Sinnestäuschung, oder ich hörte da etwas heraus, was ich vor ein paar Augenblicken zu sehen glaubte. Papa erbot sich, die Besorgungen zu erledigen und streifte mich beim Hinausgehen mit einem fragenden Blick. Verdammt! Ich hasste es, beim Träumen ertappt zu werden! Ich schielte zu Sven, der unverwandt auf die Briefe starrte, die Mama inzwischen ordentlich auf der Kommode aufgestapelt hatte. Ich fragte mich, was ihm gerade durch den Kopf ging. Er würde mich doch nicht etwa wie sein Vater vorhin auffordern, ihm meine Fanpost vorzulesen.
„Mandy, ich habe gerade einen großartigen Einfall“, verkündete er und schaute mich eindringlich an. „Um auf deine Frage von vorhin zurückzukommen - diese Mütze, die dein verborgenes Wesen zum Ausdruck bringt, war als kleine Aufmunterung gedacht. Aber ich muss mir noch etwas Passendes als Bestechungsgabe einfallen lassen, denn ich habe gerade beschlossen, dass ich dringend deine Hilfe brauche. Deine Fanpost hat mich darauf gebracht. Du musst doch jetzt all den Leuten ein paar nette Worte schreiben. Da du dich jetzt sowieso damit beschäftigen musst, könnte ich ja versuchen, dich dazu zu überreden, für mich das Gleiche zu tun. Ich brauche dringend eine neue Assistentin, die meine Post erledigt, Telefonate entgegennimmt und sich um den übrigen Bürokram kümmert. Ich weiß, du hast ganz andere Pläne. Es wäre ja nur vorübergehend, bis wir für die Stelle jemanden gefunden haben. Ein bisschen Tapetenwechsel würde dir nach dem Stress vielleicht ganz gut tun. Ich könnte mir vorstellen, dass die Praxis nach den neuesten Ereignissen kein besonders gemütlicher Ort ist, und das wird so sein, bis man zumindest die Identität der Toten festgestellt hat. Und bis diese abwegige Vermutung des Oberkommissars aus der Welt geschafft ist. Du weißt, was ich meine. Ich schließe mich eurer Meinung an und halte die Verwechslungstheorie für einen absoluten Humbug, so wie das jeder vernünftige Mensch tun würde. Aber wir alle würden ruhiger schlafen, wenn wir dich in einer freundlicheren Umgebung wüssten. Was sagst du dazu? Hättest du vielleicht Lust, ein bisschen Glitzerluft zu schnuppern? Da kommt Serena. Machen wir eine Meinungsforschung. Ich wette, sie würde sich sofort dazu überreden lassen, in der Glamourwelt von ‚Pygmalion’ einen Job zu übernehmen. Oder?“
Das war nicht fair! Der armen Serena mit einem Traumbonbon dieses Kalibers unter der Nase herumzuwedeln grenzte an Teenagervernarrung. Serenas Augen nahmen wie auf Kommando den fiebrigen Glanz an, den sie immer bekamen, wenn es um „Pygmalion“ ging.
„Oh, ja! Sven, vielleicht gibt’s da einen klitzekleinen Job für mich. Abwaschen, bedienen, Kartoffeln schälen? Nur ein paar Stündchen in der Woche! Ich möchte ja nur da sein, wenn all die Models und die Fernsehleute …“
Ich sah Sven vorwurfsvoll an. Er lachte nur und verdrehte die Augen.
„Lach nur! Mir ist nicht nach Lachen zumute, denn ich weiß jetzt schon, was auf mich zukommt. Die von dir inspirierten Fieberphantasien werden mir zum Verhängnis. Ich sehe mich zur Geisterstunde vor dem Bett meiner kleinen Schwester mit einem imaginären Wedel in der Hand, bereit, von den Glamourträumen einer aufgeregten Serena die Glitzersternchen abzustauben.“ Mir fiel ein, dass mich etwas an seinem Angebot stutzig gemacht hatte:
„Brauchst du schon zwei Assistentinnen, um deine Fanpost zu bewältigen? Du hast mir doch von der tüchtigen Sekretärin erzählt, die sich mit einer Engelsfeder in das Herz deiner Bewunderer schreibt.“
„Das ist es ja. Die ist weg. Seit Freitag ist sie einfach weg.“
„Hast du sie vergrault?“, neckte ich, weil ich wusste, dass Sven sehr viel Wert darauf legte, als galanter Mann und fairer Chef aufzutreten.
„Ich?! Ich hätte sie nie gehen lassen, die war wirklich ein Traum von einer Assistentin. Und ihre Freundlichkeit war sagenhaft. Das mit der Engelsfeder hast du treffend gesagt. Genau das habe ich an ihr so geschätzt: Sie beglückte meine Fans mit purer Poesie. Und wag ja nicht meine Qualitäten als Chef anzuzweifeln!“ Sven drohte mir lachend mit erhobenem Finger.
„Wie konnte sie einfach verschwinden? Hat man denn nach ihr gesucht?“, wollte ich wissen.
„Die Empfangsdame und meine Azubis haben zwei Tage lang versucht, sie telefonisch zu erreichen. Sie meldete sich nicht. Am Freitag war bei ‚Pygmalion’ die Hölle los. Das ist immer so. Kurz vor der Präsentation verwandelt sich das Haus in einen Bienenstock. Alles brennt an und aufgescheuchte Azubis schnipseln sich die Finger ab, anstatt sich nützlich zu machen. Ich habe in diesem Durcheinander was Besseres zu tun als ans Telefon zu rennen. Mein Büro war nicht besetzt, keiner ging ans Telefon, bis wir unser Telefon auf den Empfang umleiteten. Heute habe ich beschlossen, die Sache persönlich in die Hand zu nehmen, und hinterließ der Frau eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter: ‚Ich warte bis heute um zwölf Uhr, wenn Sie sich bis dahin nicht gemeldet haben, wird die Stelle neu besetzt.’ Ihre Frist ist abgelaufen. Eine wirklich tüchtige Sekretärin macht sich nicht so einfach aus dem Staub. Wenn sich jemand in der Probezeit so einen Scherz leistet, ist er sowieso seinen Job los. Ich muss aber dazu sagen, das sieht der Frau gar nicht ähnlich. Kurz und gut, du musst morgen schon antreten. Was ist? Kommst du?“
Ich fragte mich, ob ich mir Svens unmittelbare und permanente Nähe überhaupt zumuten sollte. Obwohl ich in gewissen Abständen den Drang verspürte, ihn zu sehen und zu hören, war ich mir nicht sicher, ob mir die Aussicht, Tag für Tag in seinem Bann zu zappeln, auch wirklich zusagte.
„Du wirst nicht den ganzen Tag mutterseelenallein in meinem verstaubten Büro rumhocken müssen. Wenn du mir die Welt resolut vom Hals gehalten und meinen Fans unsere Liebesbriefe geschrieben hast, finden wir bestimmt ein paar Minuten, um zusammen einen Kaffee zu trinken und zu plaudern. Tess, die Oberchefin vom Catering, macht die besten Salate in der Stadt. Wenn sie so ein Leichtgewicht wie dich sieht, wird sie dich bestimmt in ihr Schutzprogramm aufnehmen und es zu ihrer Lebensaufgabe erklären, dich richtig aufzupäppeln. Sie wird dir all die Fürsorge angedeihen lassen, die sie sich bei unseren dürren Models verkneifen muss, weil ich stets darauf achte, dass unsere Grazien nach dem Büffet noch in meine Roben hineinpassen. Und Lea Plint, die Empfangsdame, wird dich mit den Wirren ihrer Lebensgeschichte unterhalten, wenn sie mal zu einer Verschnaufpause kommt. Wir sind ein ganz sympathisches Pack, du wirst uns mögen. Und ich bin ja auch noch da. Mich magst du doch jetzt schon, oder?“ Ich zuckte gespielt die Schultern und kräuselte die Stirn: „Lass mich überlegen. Doch, ich glaube, ich mag dich. Trotz deines Formats. Du weißt, ich hab’s mit den Prominenten nicht so. Ihr Ego ist meines Erachtens ernsthaft gefährdet. Die Schranken, die unsereinen einschnüren und zusammenhalten, sind bei euch Promis verrutscht. Und ohne Korsage gehen manche Leute auseinander. Betrifft dich gar nicht. War nur so eine Überlegung.“ Nur ein paar Kaffeepausen mit dem Maestro. Das hörte sich nicht besonders bedrohlich an. Und diese Tess, die mir angeblich mit ihrer Fürsorge auf die Pelle rücken würde, war mir jetzt schon sympathisch.
Ich sagte zu. Sven versprach, mich am nächsten Morgen persönlich abzuholen und zum Personalchef zu dirigieren. Ich ließ mich von meinem zukünftigen Chef umarmen, und wir prosteten uns auf eine gute Zusammenarbeit zu, egal, wie lange sie andauern sollte. Wir winkten Sven in den Schneefall hinaus und ließen zugleich den voll bepackten Papa herein. Er schleppte einen Sack Katzenstreu in die Diele und Serena nahm ihm Pinkys Kiste ab.
Eine Viertelstunde später sahen wir Pinky fasziniert beim Pinkeln zu, dann beim Futtern, beim Putzen und beim Hochrennen. „Mal schauen, zu wem von uns beiden er rennt. Meinst du nicht, wir müssten Pinky selbst entscheiden lassen, bei wem er pennen möchte. Also lasst uns cool sein! Der Gewinner wird vom Schiedsrichter Pinky ernannt. Das verschmähte Fußende muss die Entscheidung akzeptieren und darf weder beleidigt noch sauer sein. Und keinesfalls auf Vorrechte pochen! Alles soll eben supercool ablaufen.“ Das würde dir so passen, Schlingel, genannt Serena! Serenas Zimmertür stand einladend offen, während meine Tür geschlossen war. Die Regeln, die Serena aufgestellt hatte, verlangten Pinky beinahe hellseherische Fähigkeiten ab. Wenn sich der kleine Tiger bei all den Türen im oberen Geschoss ausgerechnet für meine Zimmertür entscheiden sollte, dann durfte ich laut Serena den Anspruch darauf erheben, zu Pinkys Frauchen gekrönt zu werden. Hast du verstanden, Kleiner? Du musst dich anstrengen, wenn du mich als Frauchen haben willst! Bei diesen unfairen Regeln malte ich mir verständlicherweise kaum eine Chance aus, Pinky für mich zu gewinnen. Ich stieg hinter Serena die Treppe hoch und stellte mich auf einen Kampf um meinen Kater ein. Pinky schnüffelte umständlich den Flur ab, als ob er sich der Tragweite seiner Schnupperaktion voll bewusst wäre. Vor meiner Zimmertür blieb er abrupt stehen und schnüffelte ausgiebig an der Fußmatte. Dann blieb er vor meiner Tür hocken und rührte sich nicht vom Fleck. Ich frohlockte und konnte mein Glück kaum fassen. Als ich zu ihm eilen wollte, um ihn hochzuheben, fasste mich Serena am Ärmel und hielt mich zurück: „Lass uns sehen, was er jetzt tut.“ Pinky schien unsere Zurückhaltung missverstanden zu haben. Wurde von ihm etwa erwartet, dass er sich eindeutiger zu seiner Wahl bekannte? Er hielt inne und sah hoch. Die Türklinke war zwar unheimlich hoch, aber es war einen Versuch wert! Ich erriet seine Absicht und drückte auf die Türklinke. Pinky trompetete einen Jubelschrei und stürzte in mein Zimmer. Für sein winziges Gewicht hatte er eine unglaublich kräftige Stimme. Wir zwei Frauchenkandidatinnen folgten ihm und ließen uns auf mein Bett fallen.
Serenas Miene wechselte von Erstaunen zu Enttäuschung. „Ich dachte, er mag mich“, meinte sie ein wenig zerknirscht.
„Tut er auch, da bin ich mir ganz sicher. Aber er weiß eben, was sich gehört. Er kann sein eigenes Frauchen doch nicht vor die Stirn stoßen“, tröstete ich.
Sehr witzig, meinte sie. Außerdem gäbe es sowieso keine ausgleichende Gerechtigkeit in dieser beschissenen Welt. Einer ginge immer leer aus, und dem anderen flöge alles nur so zu: Pinky, ein Job bei „Pygmalion“, eine hellblaue Traummütze … „Eine Leiche“, ergänzte ich, denn durch Pinkys „Heldentat“ fühlte ich mich in Hochform und hielt mich für stark genug, um mich dem geballten Zorn eines verschaukelten Teenagers zu stellen. Serenas Entrüstungsausbruch wegen der Verbannung vom Ort des herrlichen Gruselns war sowieso überfällig. „Genau! Die Leiche! Du hast wohl gedacht, ich hätte euren Verrat vergessen und dir deine persönliche Beteiligung daran verziehen?! Nein, darauf kannst du Gift nehmen!“ - „Verschone mich bitte mit jeglicher Redewendung, die Gift, Kugel oder Jagdmesser beinhaltet. Und achte ganz besonders darauf, dass du ja keine Schlinge erwähnst. Das kommt mir nicht in die Tüte.“ - „Dann versprichst du mir auch, dass du bezüglich unserer Leiche keine dummen Witze machst. Ich fand es nämlich kein bisschen witzig, als Cassy mich im ‚Paradies’ angerufen und gefragt hat, was ich denn, wohlgemerkt, von unserer Leiche halte. ‚Was ist jetzt mit eurer Leiche?’, hat sie gefragt und wollte mir ein paar Insiderinformationen entlocken. Sie meinte, meine Schwester habe mir doch bestimmt ein paar schmutzige Details verraten. Meine ach so tolle Schwester hat mir nicht einmal verraten, dass es eine Leiche gegeben hat. Sie hat mich verraten! Sie hat es zugelassen, dass man mich weggeschickt hat, als sich in unserem Leben endlich etwas Ungewöhnliches getan hat. Mir wurde sogar das bisschen vorenthalten, das meine Freundinnen aus der Zeitung erfahren durften. Alle in der Schule haben über unsere Leiche Bescheid gewusst, während meine eigene Familie mich wie eine Blinde im Dunkeln tappen ließ. Tut mir leid, wenn ich das gar kein bisschen witzig finde und kein Verständnis dafür habe.“
Nach der obligatorischen Rüge wegen ihrer Gier nach „schmutzigen Details“, was an sich schon eine respektlose und geschmacklose Bezeichnung war, wenn es um ein tragisches Ereignis ging, bot ich meiner erzürnten Schwester im Rahmen der ausgleichenden Gerechtigkeit eine Topsecret-Information, die in keiner Zeitung veröffentlicht wurde und keiner weiteren Menschenseele verraten werden durfte - den mysteriösen Brief des vermutlichen Mörders. Ein Geständnis des Mörders an die Finderin der Leiche, Serenas eigene Schwester, war ein solides Friedensangebot. Ich hoffte mit diesem grotesken „schmutzigen Detail“ die Ungerechtigkeit, die mir meine kleine Schwester vorwarf, vollkommen entschädigt zu haben.
„Du darfst es aber niemandem erzählen, Serena. Wenn diese Info auf die Titelseite einer Zeitung verschleppt wird, bin ich geliefert. Der Oberkommissar wird mich dafür eigenhändig killen. Der ist mir jetzt schon alles andere als wohl gesinnt. Kannst du mir schwören, dass du schweigst wie ein …?“ Ich hielt inne und nahm mir vor, alle morbiden Floskeln und Redewendungen aus meinem Vokabular zu streichen. Serena nickte eifrig und jagte mir den ominösen Brief Zeile für Zeile ab.
„Das mit dem Ziegelstein, der demjenigen auf den Kopf fällt, der nach dem Mörder fahndet, ist doch nicht auf dich gemünzt, oder? Dir will er ja gar nicht an die Pelle. Das behauptet er doch, oder? Er meint sicher den Oberkommissar. Der wird doch sicher nach dem Mörder fahnden. Egal, was der Mörder davon hält, oder?“
„Der vermeintliche Mörder, der sich mit tödlicher Sicherheit nur als solcher ausgibt. Warum auch immer“, korrigierte ich und fügte in Gedanken hinzu: Das Wort tödlich wird gestrichen. Mir war nie zuvor aufgefallen, dass mein alltäglicher Wortschatz mit so vielen morbiden Vergleichen gespickt war.
Es war mittlerweile spät, und ich musste am nächsten Morgen früh aus den Federn, so beschlossen wir in Eintracht, die Besprechung aller anfallenden „Oders“ mit Fragezeichen zu vertagen. Ich versprach Serena auch einen detaillierten Bericht über meine ersten Eindrücke bei „Pygmalion“. „Du bist meine Schwester und hast das Anrecht auf ein Exklusivinterview“, sagte ich mit Nachdruck und hielt ihr Pinky zum Gutenachtknutschen hin. Pinky streckte ihr bereitwillig seine Nase entgegen.
Ich wollte gerade das Licht ausschalten, als mein Handy klingelte. Es war Mike: „Und?“
Ich schilderte die aktuellen Ereignisse in einer Kurzfassung. Er berichtete mir, dass unsere „betrogene“ Schwester ihn bereits wegen seiner persönlichen kriminellen Untreue telefonisch zur Rede gestellt hatte. Serena hatte ihn alarmiert angerufen und wollte wissen, ob ich mich nun verstecken müsste, weil der Mörder doch angeblich die Falsche erwischt hatte. Ganz besonders war sie wegen der eventuellen Auswirkungen dieser fatalen Verwechslung auf unser aller Leben besorgt. Sie hatte Mike mit bebender Stimme gefragt, ob sie sich jetzt auf eine „neue Existenz“ einstellen müsste. Oberkommissare sagen doch solche Dinge nicht einfach so dahin. Wenn sie meinen, ein Mörder sei hinter einem her … Habe der Oberkommissar etwa vor, uns alle in ein Schutzprogramm aufzunehmen? Dann würden wir doch sicher irgendwo in einem Kaff unter einem falschen Namen versauern müssen? Oder?
„Sven hat mir eine traumhaft schöne Ohrenmütze geschenkt. Zur Aufmunterung.“
„Eine Ohrenmütze? Deine Ohren einzupacken ist eine Superidee. Ich wundere mich, dass mir so etwas noch nicht eingefallen ist. Jetzt werden deine Ohren schön versteckt bleiben, und keiner sieht, dass sie manchmal verräterisch rot werden. Bei deinem coolen Auftritt. Und was besonders wichtig ist: Du brauchst dich nicht mehr taub zu stellen, wenn man dich auf der Straße wegen eines Magengeschwürs anquatscht.“
„Dass ich mich nicht totlache. Nein, die Silbe ‚tot’ wird ab jetzt ebenso aus meinem Vokabular gestrichen. Habe ich dir übrigens schon gesagt, dass ich deinen flotten Auftritt vor Gericht richtig genossen habe? Ich habe mich unauffällig im Saal umgeschaut und mit schwesterlichem Stolz festgestellt, dass deine Machosprüche die Damen nicht im Geringsten abgeschreckt haben. Sie hingen dir alle mit leuchtenden Augen an den Lippen. Schön für dich, dass du so souverän bist und dich durch schmachtende Blicke nicht von deinen höheren Zielen ablenken lässt. Da erübrigt es sich von selbst, dass ich dir Scheuklappen verschreibe oder eine Augenklappe schenke.“
„Aha! Na, dann halte die Ohren steif. Alle vier! Die von der Mütze zähle ich mit.“
Ich wünschte meinem Bruder erholsame Träume: „Schlaf gut, großer Bruder!“
Ein traditionelles Geplänkel unter Zwillingen war genau das Richtige, um einen auf neue Leute und neue Gedanken einzustimmen.