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Was einem ein Fettnäpfchen beschert

Am Sonntag wachte ich mit einem Brummschädel auf und hatte nur noch eine verschwommene Erinnerung an den vergangenen Abend. Aber ich war immer noch davon überzeugt, dass mein unermüdlicher Zuhörer es für sein waches Interesse verdient hätte, zum Zuhörer des Jahres gekrönt zu werden. Nach und nach fielen mir einzelne Passagen der Unterhaltung ein, und ich kam nicht umhin, mich über meine gestrige Redseligkeit zu wundern. Beim Thema Homöopathie hatte mein Gesprächspartner verständlicherweise nicht viel mitreden können, der Mangel an Kompetenz hatte ihn jedoch nicht davon abgehalten, reges Interesse für den Sachverhalt aufzubringen. Seine Art, den Gesprächspartner durch ungeteilte Aufmerksamkeit, erstaunte Blicke und gezielte Rückfragen zum Weiterreden zu animieren, war angenehm erfrischend und sehr inspirierend! Wie zum Beispiel: „Ist es wirklich wahr?! Wenn ich fälschlicherweise dieses Natrium sulfuricum in Hochpotenz und in häufigen Gaben einnehme, könnte ich tatsächlich den Wunsch verspüren, mich zu erschießen?!“- „Nicht unbedingt, wenn Sie es damit nicht übertreiben“, hatte ich ihn beruhigt. Und so war es immer weitergegangen, bis wir bei dem vielen Reden sogar vergessen hatten, einen Termin auszumachen. Es hatte richtig Spaß gemacht, jemanden wie ihn in die kleinen Geheimnisse meiner großen Leidenschaft einzuweihen. Der Mann hatte eben das richtige Ohr dafür! Als ich ihm meine Geschichte über die verschneite Leiche erzählt hatte, hatte er wie gebannt an meinen Lippen gehangen und fast ehrfürchtig meinen Worten gelauscht, ohne dabei zu versäumen, meine missliche Lage zu bedauern. Seine Anteilnahme war einfach zauberhaft!

Bis auf den Kopf, der sich anfühlte, als wäre er mit alter Watte vollgepackt, fühlte ich mich auf eine ungewohnte Weise leer. Es war nicht diese bizarre Leichtigkeit von gestern, die einem Phosphorsternchen in der Luft vorgaukelte und die Illusion heraufbeschwor, die harte Materie habe sich unter vorübergehender Gravitationsverschiebung in Wackelpudding verwandelt. Nein, es war eine Leere, die anscheinend eintrat, nachdem man seine Infokiste mal gründlich, bis auf den letzten Infobrocken, geleert hatte. Ansonsten gab es nicht viel zu beklagen. Der Sonntag war trübe, verschneit und verging ohne besondere Vorkommnisse.

Am Montagmorgen um halb neun klingelte das Telefon. Ich war noch nicht richtig wach, als mir Mutter mit besorgtem Gesicht den Hörer reichte. Die Stimme des Oberkommissars prallte schrill gegen meine Ohrmuschel und hallte in meinem Inneren, als wäre ich immer noch hohl gewesen. Eher ausgehöhlt, dachte ich etliche Minuten später.

„Was haben Sie sich dabei gedacht, Frau Fox?! Wie kommen Sie überhaupt dazu, Vermutungen aufzustellen und Verdachtsmomente zusammenzureimen? Und sie dann auch noch an die Presse weiterzureichen? Ging es Ihnen um die Schlagzeilen? Waren Sie darauf versessen, Ihren Namen auf der Titelseite zu sehen?! Ein Interview mit der Finderin der mysteriösen Leiche! Haben Sie eine Vorstellung davon, was Leute wie Sie mit solchen Aktionen anrichten? Sie behindern die Ermittlungen. Ist Ihnen das überhaupt klar?!“ Ich war wie vom Donner gerührt und hielt den Hörer vom Ohr weg, um meine empfindliche Ohrmuschel zu schonen. Was in aller Welt meinte er mit seinem obskuren Interview? Und dann dämmerte es mir! Der Sommersprossige, dem ich den Lorbeerkranz für das perfekte Zuhören verliehen hatte! Das offene Ohr! Das Ohr des Jahres! Ich fühlte die heiße Welle der Entrüstung wie einen Vulkan in mir aufsteigen. Am liebsten hätte ich dem Betrüger sein vermeintliches Magengeschwür operativ entfernen lassen oder ihm statt „Phosphorus“ auf die Zunge eigenhändig ein paar Tropfen Benzin auf die Magenschleimhaut geträufelt! So ein Schuft! So ein gemeiner, verräterischer Schmierfinger! Meine schönen homöopathischen Geschichten in sich hineinzuschlürfen, meine Freundlichkeit zu missbrauchen, mich dann dem Oberkommissar zum Fraß vorzuwerfen und noch mehr Elend über mich zu bringen! Jetzt hatte ich nicht nur mein gescheitertes Debüt und meinen Finderschreck zu verarbeiten, sondern auch noch die Behinderung der Polizei zu verantworten. Wobei meine Kummerkiste schon ohnehin rammelvoll mit Liebeskummer gefüllt war. Wer war ich nun? - Die berüchtigte Mandy Pat, der ein Oberkommissar gerade Größenwahn bescheinigt hatte.

Mit einem Schlag war mein Kopf wieder klar, als hätten meine angeheizten Gehirnwellen die „Watteverstopfung“ restlos zerkocht. Ich schämte mich fürchterlich und stammelte diffuse Erklärungen in den Hörer, die den Kommissar nicht einen Deut zu beeindrucken schienen. Er beorderte mich zur gründlichen Kopfwäsche ins Präsidium.

Nein! - stöhnte ich. Heute war der große Tag, an dem ein neuer Star die Bühne der Justiz betrat. Ich hatte seit Monaten dem Tag seiner ersten Verhandlung entgegengefiebert. Ich durfte Mike nicht hängen lassen. Unser Mike in der schwarzen Robe. Sein Plädoyer. Nie wäre ich einem Heuchler auf den Leim gegangen, wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, mich meinem Zwillingsbruder mitzuteilen. War es nicht genug, dass ich das Scheitern meines eigenen Debüts zu beklagen hatte, jetzt sollte ich auch noch auf Mikes ersten Auftritt verzichten? Nein! - sagte ich dem Oberkommissar. Sie können mich sonst wann weiterschimpfen. Heute bin ich nicht abkömmlich. Es sei denn, Sie lassen mich mit Handschellen abführen. Dann eben morgen, sagte er müde und legte auf. Mir klang noch seine erboste Stimme in den Ohren, als ich mir die Zeitung aus dem Briefkasten holte. „Haben Sie sich schon die Mühe gemacht, Ihre hochgradig kompetenten Ausführungen und Mordtheorien in der Morgenzeitung zu begutachten?“, hatte er gehöhnt. Jetzt sollte ich es wohl tun, um den Kopf für „Mikes Tag“ freizukriegen.

„Die Polizei tappt immer noch im Dunkeln. Die Identität der Toten lässt sich nicht feststellen. Keiner meldet die blonde Frau in dem blauen Mantel als vermisst. Wer ist sie? Woher kommt sie? Wer hat sie getötet? Und warum lag sie verschneit unter dem Fenster der Praxis von Dr. Brigg und Fox, wo sie gegen neun Uhr morgens von der angehenden Heilpraktikerin Amanda Patrizia Fox vorgefunden wurde? Die mysteriöse Tote hatte keine persönlichen Sachen dabei, die auf ihre Identität hinweisen könnten. ‚Man weiß immer noch nicht, wer sie ist, warum sie umgebracht worden ist und warum der Mörder sie ausgerechnet vor unserer Tür abgelegt hat’, so die entsetzte Finderin der erdrosselten Frau. Was die Sache für die immer noch unter Schock stehende Heilpraktikerdebütantin um einiges unheimlicher macht, ist die angebliche Ähnlichkeit der Toten mit ihr selbst. Frau Fox, eine freundliche und aufgeschlossene Dame, die von ihren Freunden liebevoll Mandy Pat genannt wird, wehrt sich vehement gegen die dubiose Ähnlichkeitstheorie, die von der Polizei bereits am Tag des grausigen Fundes aufgestellt worden ist. Ihr persönlich sei nicht die geringste Ähnlichkeit zwischen der armen Frau und ihrer eigenen Person aufgefallen. Bis auf die Haarfarbe, musste sie einräumen. Wenn ein blonder Haarschopf mich mit der Toten in Verbindung bringen soll, so müsste mehr als die Hälfte der weiblichen Bevölkerung ebenso auf der Hut sein, meinte die junge Dame aufgeregt. Der die Untersuchungen leitende Oberkommissar schließt allerdings nicht aus, dass es sich bei der Mordtat um eine Verwechslung handeln könnte, und warnt zur Vorsicht.“

Oh, Gott! Mit jeder Zeile konnte ich die Entrüstung des Oberkommissars besser nachvollziehen. Und als ich die Mitte des angeblichen Interviews erreicht hatte, fühlte ich, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich. Der tückische Phantomgeschwürträger hatte meine Vermutung ausgeschlachtet, der Mörder sei eventuell ein Ehemann einer Patientin. Einer, dem Dr. Brigg womöglich seine unterdrückte Ehefrau abtrünnig gemacht und ihr Emanzenflausen in den Kopf gesetzt hatte. Wenn das kein Grund war, dem Pfuscher seine „beschädigte Ware“ vor das Fenster zu legen! Nicht auszudenken, was Tony dazu sagen würde, wenn er zurückkam und mit der Gruselgeschichte konfrontiert wurde, dachte ich entsetzt. Hatte ich mit meinem ungeheuerlichen Leichtsinn bereits unwiderruflichen Schaden angerichtet? Hatte ich nun Tonys Patienten verärgert und vergrault? Durfte ich alles dementieren? Den Journalisten verklagen? Oder war ich geliefert?

Die zweite Hälfte des Schmierenartikels war offensichtlich dazu gedacht, mich versöhnlich zu stimmen und dem Leser auf die Tränendrüsen zu drücken. Mein gescheitertes Debüt, mein Entsetzen und meine Traurigkeit wären „dem Autor dieser Zeilen“ ans Herz gegangen. Und meine fachliche Kompetenz sowie die Bereitwilligkeit, die Perlen meines Wissens mit dem Patienten zu teilen, hätten ihn sehr für die „Heilpolitik“ der vom Unglück heimgesuchten Praxis eingenommen. Er gab sogar damit an, ein paar Einblicke in die ehrwürdige Homöopathielehre gewonnen zu haben: „Haben Sie gewusst, lieber Leser, dass auch gegen seelische Grausamkeit ein Gras gewachsen ist? Nein? Ich hatte ursprünglich auch keine Ahnung davon. Laut Mandy Pat - wir wagen uns mal an die familiäre Anrede heran - dürfte mancher Schläger und Gewalttäter auf ‚Stramonium’ ansprechen. Ein paar Tropfen, und unser Bösewicht wird bekehrt - in ein menschenfreundliches Wesen verwandelt. Aber wehe dem, wer dem Falschen das rettende Mittelchen verordnet! Lassen Sie sich ja zu keinen Experimenten verleiten! Fragen Sie Ihren Heilpraktiker! Fragen Sie Mandy Pat, die Sie, ohne Mühe zu scheuen, aufklären wird und Sie in die wundersame Welt der Homöopathie einführt! Sie würde sich ihrerseits bestimmt über eine Ablenkung und Ihre Anteilnahme freuen.“

Nicht zu fassen! Der hinterlistige Kerl markierte den Samariter und warb für einen Mandy-Pat-Club! Er wollte mich angeblich dem Leser ans Herz wachsen lassen als Entschädigung für das Phantomgeschwür, das mir durch die Lappen gegangen war, weil es sich als ein Lockphantom entpuppt hatte und zum Ergaunern wichtiger Informationen missbraucht wurde. Ich stand mitten in einer Leichengeschichte und verspürte selbst eine Mordlust, die nach dem eben zitierten „Stramonium“ schrie. Nach einer Hochpotenz!

Ich war gerade dabei, mir die letzte Zeile des unseligen Artikels zuzuführen, als Mutter im Türrahmen erschien und sich darüber wunderte, dass ich mich noch nicht umgezogen hatte. „Amanda, wir kommen zu spät. Du musst dich beeilen. Wir wollten doch noch vor der Verhandlung bei Mike vorbeischauen und ihm viel Glück wünschen.“

So versteckte ich die Zeitung hastig hinter meinem Rücken. Schlechte Nachrichten soll man so lange aufhalten, bis sie sich in der Warteschleife der Infovermittlung auf eine homöopathische Dosis entgiftet haben.

Mike wirkte gelassen und konzentriert. Nur ich allein konnte die unterschwellige Spannung wahrnehmen, die seinem Blick die Wachsamkeit eines Raubvogels verlieh. Ich hatte meinen Bruder schon immer für seine resolute Art bewundert. Diese besondere geistige Wachsamkeit war zweifelsohne eine Naturgabe, die von ihm durch hartes Training ganz bewusst weiterentwickelt wurde. Er war zum Beispiel ein ausgezeichneter Fechter. Er pflegte diese Sportart nicht mit der egomanischen Absicht, seine Persönlichkeit um ein paar romantische oder fesche Züge zu bereichern. Dafür hatte er eine Zwillingsschwester, die vor Stolz überlief, wenn er in einem Zweikampf mit eleganten Manövern seinen Gegner attackierte und dem Zuschauer durch seine vortrefflichen Reaktionen Entzückung entlockte. Mein Bruder! Mike ging es dabei ausschließlich um die Pflege seiner „Sprungfeder“. Nichts verfeinert die Reaktionssensibilität, laut Mike, besser als die hohe Kunst des Fechtens. Dass er immer so vernünftig und konsequent sein konnte, ging über meine Begriffe hinaus. Das mag an der ungleichmäßigen Verteilung des genetischen Materials liegen, entschied ich nach gründlicher Überlegung. Eine bessere Erklärung fiel mir partout nicht ein. Eine andere Ungleichmäßigkeit, die ich ihm wohlgemerkt gönnte, war sein Aussehen. Mein sportlicher Bruder sah blendend aus. Man könnte sich fragen: Was hatte sich die Natur dabei gedacht, als sie einem Burschen, der seine Stärken gewiss nicht im Bereich der Schönheit austragen wollte, ein Gesicht wie dieses verpasst hatte? Was sollte ein Kerl mit der perfekten Ebenmäßigkeit seiner Gesichtszüge anfangen, wenn er angeblich keinen großen Wert auf Äußerlichkeiten legte und sich mit Inbrunst dem geistigen Bereich zuwandte? Mike hatte auch dazu eine logische Erklärung, er meinte dazu verschmitzt, man wisse nie, wozu ein paar auf den ersten Blick überflüssige Pluspunkte gut sein könnten. Er leugnete also mit Schulterzucken den Wert äußerlicher Attraktivität und ließ sich dabei eine beträchtliche Schulterbreite antrainieren, die sich wahrhaft imposant unter der schwarzen Robe ausmachte und unweigerlich alle weiblichen Blicke anzog. Mike war aber zu sehr mit seinen eigenen Gedankengängen beschäftigt, um dies überhaupt zu merken. Eine bedauernswerte Verschwendung! Das sollte keinesfalls heißen, dass ich etwa eitel wäre oder geltungsbedürftig. Nein, ich war nur der Meinung, dass man sich seiner Vorzüge zumindest bewusst sein sollte, dann könnte man es vielleicht auch lernen, sie gebührend zu genießen. Wenn jemand zum Beispiel auf einer Goldgrube saß und dabei der Barfüßlerphilosophie frönte, so hielt ich das ebenso für eine Verschwendung und fragte mich dabei, ob die Natur willens war, die Verschmähung ihrer Gaben ohne jeglichen Groll hinzunehmen und zu billigen. Offensichtlich war sie das, denn Mike trug seine Nonchalance seit Jahren ungestraft durchs Leben, und ihm war dabei auch noch kein Zacken aus der Krone gefallen, auch wenn ich den Ausdruck jetzt für meine Zwecke etwas verbog.

Wir waren tatsächlich ein wenig zu spät dran und konnten Mike im Vorbeigehen nur ein paar motivierende Blicke zuwerfen, um ihm unsere moralische Unterstützung zuzusichern: Wir sind bei dir! Du schaffst es! Er lächelte zurück und grinste mich spitzbübisch an, nachdem er mich für ein paar Sekunden mit einem prüfenden Blick fixiert und dann bedeutungsvoll die Augen verdreht hatte. Er hatte im Moment keine Zeit, um mir darüber zu berichten, was ihn so unheimlich amüsierte, denn er musste sich wieder seinem Mandanten zuwenden und ihn in den Gerichtssaal führen. Er hat die Zeitung gelesen! - durchfuhr es mich. Und er fand die Geschichte eher komisch als tragisch. Ich atmete auf und entspannte mich. Es war also nicht zu befürchten, dass mein Bruder mir wegen meines tollpatschigen Fehltritts arg zusetzen würde. Er würde mich mit der saukomischen Geschichte zwar aufziehen, doch er würde sich zugleich mächtig ins Zeug legen, um mich wieder aufzubauen.

Die Verhandlung war wie erwartet ein Erfolg für den angehenden Rechtsanwalt Mike Fox. Ein Debüt, das sich sehen lassen konnte. Mike gelang es, sich durchzusetzen, und sein Mandant, ein wuchtiger, zerknirscht wirkender Bursche, kam mit einer Bewährungsstrafe davon. Er wurde von der Staatsanwaltschaft wegen gefährlicher Körperverletzung in Tötungsabsicht angeklagt. Mike plädierte auf eine Affekttat und nahm die Zeugin, wegen der sich die Kerle die Köpfe eingeschlagen hatten, erbarmungslos in die Mangel. Es war erstaunlich, wie unerbittlich er ihr zusetzte. Aus weiblicher Solidarität hätte ich für die Frau, die vergeblich mit ihren Wimpern klimperte, beinahe Mitleid empfunden. Ich stand aber verständlicherweise auf der anderen Seite und musste die Daumen drücken, dass mein Bruder mit dem fragwürdigen Unternehmen durchkam, einen Ausbruch von Eifersucht als Hilfeleistung seitens des Mandanten hinzustellen. Der ramponierte Kerl, der mit der fremden Freundin rumgeknutscht und sich dabei fast den Tod geholt hatte, berichtete kläglich über den brutalen Angriff des Riesen, gegen den anzukommen er nicht die geringste Chance gehabt hatte und somit zu Brei geschlagen worden war. Ich verfolgte amüsiert das juristische Gefecht und konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich alles, was in den letzten Tagen in meine Sichtweite gerückt war, zu einem skurrilen Bild verzerrte: Reale Dinge nahmen unter einem unsichtbaren Vergrößerungsglas groteske Formen an, die dann wiederum auseinanderbrachen, als hätte man sie durch das Prisma eines Modernisten geschleust, um ein kubistisches Wirklichkeitsgebilde entstehen zu lassen. Diese Sinnestäuschung erfasste sogar die Nase des Angeklagten, die mir fast überdimensional groß vorkam. Die Verhandlung an sich war eine ziemlich unterhaltsame Vorstellung. Ich wusste auch schon, was ich mit dieser wertvollen Ansammlung von bizarren Dialogen anfangen wollte: Ich hatte endlich vortreffliches Spaßmaterial in der Hand, um meinen Bruder damit aufzuziehen. Ich verfolgte das Spektakel mit der Aufmerksamkeit eines Gerichtsreporters und ließ mich zugleich durch die bühnenreifen Passagen der aberwitzigen Geschichte bestens unterhalten. Vor allem ließ ich mir die Sprüche meines Bruders auf der Zunge zergehen. Mike hatte seine Verteidigung auf dem Geständnis der überrumpelten Zeugin aufgebaut, sie habe seinem Mandanten nicht ausdrücklich den Laufpass gegeben: „Sie ließen also Ihren angeblich bereits abgeschobenen Freund in Bezug auf Ihre Absichten im Dunkeln tappen! Sie ließen ihn glauben, Sie beide wären noch immer zusammen. Dann ist es durchaus vorstellbar, dass Ihr verschleiertes Benehmen meinen Mandanten zu der Annahme veranlasst hat, der andere Mann würde Sie belästigen, als er beobachtet hat, wie der andere Sie umschlungen hielt und heftig küsste?“ - „Nein, ich ließ mich doch freiwillig küssen. Ich habe mich doch gar nicht gewehrt.“ - „Mein Mandant aber konnte die Situation nur von seiner Sicht aus einschätzen und stand verständlicherweise unter dem Eindruck, Sie würden von einem anderen Mann bedrängt und er als Ihr Freund müsse Ihnen zu Hilfe eilen. Was er dann auch in etwas übertriebenem Ausmaß getan hat. Wenn man seine Körpergröße berücksichtigt und einen Vergleich zu der eher schmächtigen Statur des Gegners aufstellt, ist es durchaus verständlich, dass die Hilfeleistung unbeabsichtigt heftig ausgefallen ist.“

Die Zeugin schüttelte aufgeregt den Kopf: „Er hätte ihn fast umgebracht, so hat er zugeschlagen!“ - „Aber Sie geben zu, dass er in dem Glauben handelte, Sie vor Bedrängnis zu retten?“ - „Welche Bedrängnis? Ich habe es doch selbst zugelassen.“ - „Hätte mein Mandant denn annehmen müssen, dass Sie sich wahllos von fremden Männern küssen lassen? Sind Sie so eine Frau? “ „Ich erhebe Einspruch!“, meldete sich die Staatsanwältin mit einem Hauch von Entrüstung in der Stimme. Sie sah Mike mit zusammengekniffenen Augen an und hatte ein kleines hämisches Lächeln auf den Lippen: „Herr Anwalt, Sie versuchen die Zeugin einzuschüchtern. Und was fällt Ihnen ein, sie als ‚solch eine Frau’ zu bezeichnen? Wir leben doch nicht im Mittelalter, oder ist die rigide Moralvorstellung, die Sie gerade verfechten, Ihrer Jugend zuzuschreiben?“

„Sehr geehrte Frau Staatsanwältin, nicht einmal im Traum würde mir einfallen, der Zeugin unmoralisches Verhalten vorzuwerfen. Ich wollte schließlich in Erfahrung bringen, ob sie sich selbst für ‚solch eine Frau’ hält. Sollte sie das tun, so müsste ich Ihnen Recht geben und mich meinerseits wundern, wieso mein Mandant bei gewohnheitsmäßigen Verhaltensmustern seiner ‚immer noch Freundin’ dermaßen heftig überreagiert hat. Pech für die Verteidigung, wenn die Dame meine Frage jetzt mit einem ‚Ja’ beantwortet.“

Die noch mehr verwirrte Zeugin sah hilfesuchend zum Angeklagten rüber. Wieso musste diese wankelmütige Polly ausgerechnet Mikes Mandanten nonverbal anflehen, ihr unter die Arme zu greifen! Und da meldete sich bei dem verschmähten Ritter der Drang, seiner Herzdame aus der Verlegenheit zu helfen. Wenn er jetzt den Mund auftat, würde er im Nu Mikes Hilfeleistungsstrategie zunichte machen! Gut geraten, Mandy Pat! So ein Pech! „Herr Anwalt, lassen Sie endlich meine Polly in Ruhe! Sie ist keine ‚solch eine Frau’. Deshalb habe ich ja durchgedreht, als ich sie in den Armen dieses Typen gesehen habe. Ich bin ausgerastet vor Eifersucht. Ich konnte nicht anders!“

Mikes Spielverderber ballte seine ausdrucksvollen Fäuste und schwenkte drohend eine unsichtbare Keule in der Luft. Und ich musste ein Stöhnen unterdrücken, sonst hätte ich laut losgejammert, so wie ein aufgeregter Fußballreporter sein „Ei-Ei-Ei!“ ins Mikro brüllt, wenn er das fatale Missgeschick der angefeuerten Mannschaft zu beklagen hat.

„Herr Rechtsanwalt, so ein Pech!“, höhnte die Staatsanwältin mit einem zufriedenen Lächeln. „Ihr Mandant hat gerade freiwillig zugegeben, dass er nicht im Rahmen einer Hilfeleistung gehandelt hat. Er war rasend vor Eifersucht, wie Sie es eben gehört haben. Und er schlug seinen Rivalen aus Rache nieder, indem er ihm lebensgefährliche Verletzungen zufügte. Ihr Mandant kann von Glück reden, dass er sich heute nicht wegen versuchter Tötung zu verantworten hat. Oder wegen versuchten Mordes. Die niedrigen Tatmotive hätten wir ja beisammen: Eifersucht, Rache und Heimtücke, denn der Angegriffene hatte mit dem Anschlag nicht gerechnet. Seine volle Aufmerksamkeit galt der Frau, die er küsste, während Ihr Mandant sich an das Paar heranschlich. Alles hat sich genau so abgespielt, wie wir es angeklagt haben.“

„Sehr geehrte Frau Vorsitzende, sehr geehrte Frau Staatsanwältin, wie wir eben gesehen haben, ist mein Mandant ein sehr spontaner Typ. Man könnte ihn durchaus als aufbrausend bezeichnen. Würden wir ihm aber ohne weiteres eine ausgereifte Fähigkeit zur Selbstreflexion bescheinigen?“

„Selbst … was?!“ - meldete sich der Mandant stirnrunzelnd. „Eben!“, meinte sein Anwalt mit einer bedeutsamen Handbewegung und fuhr fort: „Er war schockiert. Er konnte seinen Augen nicht trauen. Er entschied sich in Sekundenschnelle dafür, dass es das, was er da gerade sah, gar nicht geben konnte. Seine Polly ist nicht so eine Frau! Er eilt zur Rettung! Das Bild, das sich seinem Auge bietet, lässt verständlicherweise seine Emotionen überkochen. Und schon ist es geschehen. Sein Gegner liegt bewegungslos auf dem Boden. Ob es nun die Eifersucht gewesen ist, die unterschwellig seine Kraftreserven zur Überreaktion angekurbelt hat, können wir heute ebenso wenig wissen, wie es mein Mandant im Augenblick des Gefechts gewusst hat.“ Jetzt runzelte die Staatsanwältin die Stirn: „Sie vergessen, Kollege, dass es gar kein Gefecht gegeben hat. Der Angegriffene hatte gar keine Möglichkeit, sich zu wehren. Er wurde überrascht und ging sofort zu Boden. Außerdem spielen die beiden vom Gewicht her nicht in der gleichen Liga“, wandte die Staatsanwältin etwas friedlicher ein.

„Das ist sehr bedauerlich. Ich würde dem Opfer einen wohlgemeinten Rat für die Zukunft geben: Ein Mann muss was für seine Kondition tun. Boxen, Ringen, Gewichtstoßen - alles tut es. Doch ganz besonders empfehlenswert ist eine Sportart, die die Reaktionsfähigkeit fördert. Wenn man schnell genug reagiert, lässt man sich vom Gegner nicht so leicht überrumpeln. Dann hat man immer eine Chance“, meinte Mike und setzte eine Unschuldsmiene auf. Die Staatsanwältin verdrehte die Augen und konnte sich das Schmunzeln nicht verkneifen. Jetzt wandte Mike sich mit einer großbrüderlichen Miene an Polly, die dem bösen Anwalt keinesfalls gram zu sein schien und nun wie gebannt an seinen Lippen hing: „Und Ihnen, Verehrteste, möchte ich einen ebenso wohlgemeinten Rat angedeihen lassen. Sorgen Sie für klare Verhältnisse. Ich hoffe, die Frau Staatsanwältin sieht mir meine Vorliebe für die klare Linie nach und kreidet sie nicht wieder meiner Jugend an.“ Dann plädierte er für unschuldig und räumte ein, man möge im Falle einer Verurteilung davon ausgehen, dass die Körperverletzung unter einem immensen seelischen Druck zustande gekommen und auf alle Fälle als eine Tat im Affekt zu werten sei.

Ich beobachtete während der Verhandlung die Gesichter der Anwesenden, wenn Mike das Wort führte, und registrierte mit Genugtuung den Eindruck, den sein Charisma bei den weiblichen Zuschauern hinterließ. Sogar die schnippische Staatsanwältin schien gegen seine Ausstrahlung nicht völlig gefeit zu sein. Ich wagte sogar die Vermutung aufzustellen, ihr aggressiver Ton meinem Bruder gegenüber diente eher als ein Ventil für noch ganz andere Schwingungen. Vielleicht war ich ja voreingenommen, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass jemand von unserem Mike nicht hingerissen sein könnte. Ich als seine Schwester fand ihn, rein objektiv gesehen, umwerfend. Der Rest der weiblichen Gesellschaft genoss im Gegensatz zu mir keinen genetisch bedingten Immunschutz gegen Mikes Ausstrahlung und hatte die Auswirkung seines unwiderstehlichen Charmes auf einer ganz anderen Ebene zu bewältigen. Die armen Frauen waren nicht zu beneiden, denn Mike setzte seine Energien für „höhere Ziele“ ein und war für schmachtende Blicke ziemlich unempfänglich. Das ließ ihn allerdings seine Unbefangenheit bewahren, die wiederum auf die Damenwelt einen besonderen Reiz ausübte. Er war galant, ohne dabei Feuer zu fangen, und genoss daher den Ruf, trotz großer Popularität kein Weiberheld zu sein. Mike Fox galt als ein seriöser und talentierter Mann, der es weit bringen würde, so die älteren Damen. Und er war der absolute Schwarm der Jüngeren, die ihn „sooo unglaublich süß“ fanden und ihm wehmütig hinterher seufzten. So manche Dame wollte mit mir befreundet sein, weil sie die Hoffnung nährte, durch mich in die Nähe meines schönen Bruders zu gelangen. Ich musste schon sehr bald lernen, die echten Freundschaftsangebote von den Anbiederungsversuchen verliebter Damen zu unterscheiden. Die Notwendigkeit, immer auf der Hut zu sein, um raffinierte Tricks zu durchschauen, ließ mich ziemlich früh eine gesunde Skepsis entwickeln. Wenn man bedenkt, wie leicht ich unter Umständen zu täuschen war, musste man sich darüber freuen, dass ich durch die bloße Existenz meines Bruders immerhin eine brauchbare Impfung abbekommen hatte.

Als es Mike endlich gelang, sich von seinen Kollegen loszueisen, nahmen wir ihn in Beschlag und überhäuften ihn mit Glückwünschen zu seinem Erfolg. Nachdem wir ihn fast platt geknutscht hatten, nahm ich ihn beiseite und flüsterte ihm zu:

„Was bekomme ich von dir zu hören, wenn ich mal in einen Zwiespalt der Empfindungen gerate, weil ich mich zwischen zwei Männern nicht entscheiden kann. Würdest du mich ebenso als ‚solch eine Frau’ beschimpfen, wenn ich herauszufinden versuchte, mit welchem von den beiden ich lieber knutsche?“

„In deinem Fall, Mandy Pat, wäre ich schon froh, wenn du dich überhaupt dazu entschließen könntest, mit einem Kerl zu knutschen. Bei deinem Nachholbedarf würde ich persönlich dafür plädieren, dass du dich keinesfalls auf einen einzigen Kandidaten beschränkst. Warum sollten wir uns aber nur mit zwei lausigen Alternativen zufrieden geben?“

„Lieber Bruder, wie kommst du auf ‚lausige Alternativen’? Wenn ich erst einmal mit dem Schäkern angefangen habe, so werde ich mich gewiss nur mit den allerprächtigsten Alternativen umgeben. Ich werde kaum in der Lage sein, mich definitiv für einen von den beiden zu entscheiden. Ich werde Tag und Nacht darüber grübeln müssen, welchen Kandidaten ich bevorzugen soll. Was mir da vorschwebt, ist ein Kopf-an-Kopf-Rennen.“

„Klar doch. Mit ‚lausig’ meinte ich doch keinesfalls die Qualitäten, sondern einzig und allein die Anzahl der Anwärter. Du unterschätzt wie immer meine Großzügigkeit.“ Nein, das tat ich ganz gewiss nicht. Nicht bei meinem „großen Bruder“. Mike durfte diesen Titel in Anspruch nehmen, weil er etliche Minuten vor meiner Person das Licht dieser Welt erblickt hatte. Er soll seine Ankunft mit einem kräftigen Gebrüll angekündigt haben, um sich mit dem ersten Atemzug sein Recht auf ein anständiges „Willkommen!“ zu sichern. Mein scheuer Schrei soll dagegen wie eine vorsichtige Frage geklungen haben: „Hi, ich bin da. Hoffentlich freut ihr euch darüber.“

Mikes spektakuläres Debüt wirkte sich sehr positiv auf die Bilanz des Familienglücks aus und lieferte den Überschuss an Freude, der erforderlich war, um die auf mein Konto gehende Misere auszugleichen. Dank Mikes Beitrag zur allgemeinen Zufriedenheit war es uns nach Feiern und viel weniger nach Jammern zumute. Papa und Tony meldeten sich von unterwegs und bedauerten es sehr, dass sie an diesem wichtigen Tag nicht dabei sein konnten. Sie saßen in der Wartehalle des Flughafens fest und warteten seit Stunden auf die Fluggenehmigung. Ich hatte also noch einige Stunden Zeit zur Verfügung, um mich zu sammeln, bevor ich Tony gegenübertreten und ihm meinen Ausrutscher beichten würde, dachte ich ein wenig erleichtert.

„Mach dich nicht verrückt, Mandy Pat. Doktor Brigg ist hart im Nehmen. Deine Eskapade haut ihn schon nicht um. Er wird sich gewiss was Gescheites einfallen lassen, um deine Falten auszubügeln.“ Hmmm, Falten? „Runzle nicht immer so fürchterlich die Stirn, sonst will er dich als Schwiegertochter nicht mehr haben. Das wäre doch bestimmt viel grausiger als dein eingeknicktes Ansehen als Heilpraktikerin und Menschenkennerin. Ein wenig albern müssen die Frauen schon sein …“ Ich haute ihm mit der Unglückszeitung eins über den Schädel und ließ mich von seinem Optimismus anstecken.

Zu meinem Glück behielt mein schlauer Bruder Recht in Bezug auf die Reaktionen der Beteiligten. Unsere Mutter ließ sich von mir haargenau den Ablauf und die Hintergründe meines angeblichen Interviews schildern, ich hielt das Verhör tapfer durch und verschwieg trotz Schamröte kein einziges Detail meiner Blamage. Mike fand die Geschichte immer noch zu komisch, um sie mit angemessenem Ernst zu beurteilen. „Wenn du den Kerl verklagen möchtest, stehe ich dir gern zur Verfügung. Er hat dich mit einem Phantomgeschwür geködert, deinen beruflichen Ehrgeiz angeheizt, dich in eine Kneipe verschleppt, betrunken gemacht und deine Menschenfreundlichkeit missbraucht, um dir jedes widerliche Detail über eine Leiche zu entlocken, die dir ihrerseits deinen verheißungsvollen Start ins Berufsleben vermiest hat. Habe ich etwas vergessen? Der Geier hat sich also an deiner seelischen Unschuld vergriffen. Dafür finden wir gewiss einen passenden Paragraphen, um dem Gauner das Handwerk zu legen.“ Er war heute einfach zu glücklich, um Ernst walten zu lassen. Mutter hatte wie immer viel mehr Verständnis für meine Unbesonnenheit, als es in einem Fall wie diesem zu erwarten war. Sie hörte sich schweigend meine „Beichte“ an, und ihr Blick wurde immer nachdenklicher. Schließlich schaute sie mir eindringlich in die Augen und fragte ganz sachte: „Amanda, Kind, bist du dir ganz sicher, dass dieser Mann dir nichts in deinen Wein gemischt hat, als du mal kurz weggeschaut hast? Diese seltsame Leichtigkeit, die du erwähnt hast, kommt mir verdächtig vor. Die ganze Geschichte ist mir nicht geheuer.“

Mike verdrehte die Augen und konnte seine Belustigung nicht mehr verbergen:

„Mama, damit komme ich trotz meiner juristischen Spitzfindigkeit nicht durch. Unzählige Leute, die meine kleine Schwester kennen, würden unter Eid bezeugen, dass ein herrlicher Schneefall vollkommen ausreicht, um Mandy Pat in einen ätherischen Zustand zu versetzen. Wenn man sie dazu bringen will, Purzelbäume zu schlagen, gehört ein bisschen mehr dazu: ein wenig Wein und ganz besonders ein aufmerksames Ohr für ihr leidenschaftliches Engagement in Sachen Homöopathie. Und da hätten wir schon das richtige Ambiente, das unsere Mandy Pat zum Abheben inspiriert. Dagegen kommt doch so eine verschneite Leiche gar nicht an.“ Von wegen Wein und grünes Licht für Homöopathie! Es war der Kummer, der meine sonst scharfen Sinne betäubt und meine Wahrnehmungsfähigkeit beeinträchtigt hatte. Wieso hatte ich diesen Wein überhaupt getrunken? Um eine bittere Erinnerung wegzuspülen. Es hatte aber nichts genützt. Welche Erinnerung denn, Mandy Pat? Eine rosa Wolke, die sich im Rotwein nicht auflösen wollte. War das deutlich genug? Ja, Mandy Pat, schön gereimt. Immer ehrlich sein! - lobte ich mich. Andererseits hatte mir die wahre Realität auch nichts Besseres zu bieten als eine Leiche zum Debüt. Prost, großer Bruder! Dieser Anflug von unwürdigem Selbstmitleid drohte meine Integrität zu untergraben und sollte schleunigst im Prickeln des Sekts in Luftblasen aufgehen!

Der nächste Morgen brachte uns alle wieder zusammen. Ich liebte es, wenn alle da waren und einem zur Verfügung standen. Wenn jemand, an dem ich hing, weg war, überkam mich so ein komisches, zugegeben, kindisches Verlassenheitsgefühl. Es stellte sich ein wie ein Niesen und ließ sich durch logische Argumente nicht verscheuchen. Es war eine sehr souveräne Emotion, die sich strikt der Regie des Verstandes verweigerte. Und desto größer war die Freude, wenn die Harmonie und die Vollständigkeit wiederhergestellt waren. Weiße Flecken, Lücken und diverse Unklarheiten waren eindeutig nicht mein Ding. Meine Vorliebe für Anarchie äußerte sich eher im Bereich der Spielräume: Ich brauchte nämlich eine Menge Freiheit, um meine eigene Ordnung zu erschaffen. Je enger der Riemen, der mich einschnürte, desto unbehaglicher wurde es mir. Ich hinterließ manchmal den Eindruck eines Chaoten, in Wirklichkeit herrschte in meinem Reich ein nur mir bekanntes, aber durchaus gut organisiertes System. Und in diesem System gab es keinen Platz für fehlende Menschen, die ich liebte. Aus verständlichen Gründen hatte ich der Ankunft der beiden Urlauber mit gemischten Gefühlen entgegengesehen, andererseits konnte ich es kaum abwarten, bis ich die Gelegenheit bekam, die Sache mit meinem angeblichen Interview hinter mich zu bringen.

Mutter hielt es für notwendig, Tony so bald wie möglich über die Geschehnisse während seiner Abwesenheit in Kenntnis zu setzen. Als das Taxi mit Papa angehalten hatte, wurde Tony samt Ausrüstung und Koffer sanft, aber entschieden ausgeladen, umarmt, ins Haus geführt und in den Sessel gedrückt. Wir müssen ihn überfallen, meinte Mama, sonst kommt uns noch der Oberkommissar zuvor.

„Eine Tasse Kaffee? Den brauchst du, Tony, denn wir haben eine wenig erfreuliche Nachricht loszuwerden“, fing Mama an und stockte mittendrin, als ihr Tonys alarmierter Blick auffiel. „Nein, nein! Es geht nicht um Ally oder Sven. Die sind in Ordnung. Die Geschichte betrifft eher unsere Praxis. Nein! Schau nicht so! Nichts ist passiert. Das heißt, es gibt da schon etwas, was …“ Jetzt beschloss Mama doch, die Untertreibung der Tatsachen lieber beim Sitzen aufs angemessene Niveau hochzukurbeln, und ließ sich mit einem Seufzer auf der Couch nieder.

Nach dieser spannenden Einleitung fiel unsere Geschichte doch weniger dramatisch aus als befürchtet. Tony nahm die böse Überraschung mit heiterem Stoizismus auf, den ich so sehr an ihm schätzte. Er begnügte sich mit der Kurzfassung unserer Abenteuer und legte die Stirn in Falten. Unsere Geschichte hörte sich anscheinend ziemlich diffus an, er musste sich anstrengen, um die etwas verworrenen Zusammenhänge auf die Reihe zu bekommen. Vater schüttelte die ganze Zeit den Kopf und ließ mich nicht aus den Augen. „Die pikanten Momente werden wir beide später durchgehen“, meinte er verschwörerisch blinzelnd. Tony fixierte mich mit einem intensiven Blick, als hätte er vor, meine gesamte Persönlichkeit zu durchleuchten, um in wenigen Minuten das Ausmaß meiner Verwirrung zu erfassen. Vielleicht hoffte er sogar, es würde ihm auf Anhieb gelingen, hinter das defekte Denkmuster zu kommen, das die ganze Schererei verursacht hatte. Keine Chance, Doktor Brigg, dachte ich mir. Du kennst eben nicht die Hintergründe. Und das erschwert die Diagnose erheblich. Schließlich meinte Tony, man müsse jetzt ohne Verzug handeln.

„Kopf hoch, Kleines! Wir kriegen das schon hin. Ich muss nur noch meine Frau umarmen, duschen und mich ein wenig stärken. Dann heißt es: Ab in die Praxis! Wir zwei rufen heute noch all meine Patienten an und klären sie über die Umstände auf, die zu diesem aberwitzigen Artikel geführt haben. Du darfst dann deine aufrichtige Entschuldigung in den Hörer hauchen und den aufgescheuchten Leuten versichern, du hättest nicht einmal im Traum die ungeheuerlichen Verdächtigungen ausgesprochen, die dir ein schamloser, als Magengeschwür getarnter Pressemann in den Mund gelegt hat. Und dann wirst du entrüstet hinzufügen: ‚Selbstverständlich lassen wir das nicht auf uns sitzen. Der Mann wird noch sein blaues Wunder erleben. Wir lassen ihn vor der Stadtmauer steinigen oder sonst wie grausam bestrafen. Du hast eine Stunde Zeit, um dir das Richtige einfallen zu lassen.’ “ Dann klopfte er mir auf die Schulter und ließ sich von Papa heimbringen.

Maestro sieht blau

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