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Im Zeichen von „Natrium muriaticum“

Als ich an diesem wunderschönen Wintermorgen durch die verschneiten Straßen zu meinem ersten Arbeitsplatz in der Heilpraxis von Dr. Brigg und Fox schritt, fiel mir nichts anderes ein, als über den Wert der Freundlichkeit zu sinnieren. Vielleicht hatte ich tief in meinem Inneren geahnt, dass mein altbewährtes Motto „Lächle die Welt an und sie lächelt zurück“ einer harten Probe ausgesetzt sein würde. Die beiden Altprofis - meine Mutter, die Heilpraktikerin Dolores Fox, und ihr Partner, der Psychiater und Psychotherapeut Dr. Anthony Brigg - waren nicht in der Praxis, um mir an meinem ersten Tag beizustehen. Tony war in den Bergen zum Skifahren, meine Mutter brütete eine Grippe aus und musste wegen Ansteckungsgefahr ihren Patienten fernbleiben. Ich war also auf mich selbst gestellt. Seltsamerweise war ich gar nicht verunsichert. Ich sah dem Tag eher mit freudiger Erregung entgegen und war fest entschlossen, meinen Einsatz mit Bravour zu meistern.

Die Praxis war in einem schmucken, zitronengelb angestrichenen Häuschen untergebracht, das, von schneebedeckten Tannen umringt, ein nettes Bild bot. Es wirkte schon von weitem einladend und sogar fröhlich. Wie ein Küken in einem frischen, neugeborenen Weiß, dachte ich mir in einem Anflug von sentimentalem Stolz, als ich die Praxis durch den Schleier des Schneefalls anpeilte.

Es schneite auf Dächer, Brücken und Bäume, das blendende Weiß dieses herrlichen Morgens verlieh meinem Debüt die gebührende Feierlichkeit.

Meine Heilpraktikerprüfung lag schon exakt fünf Monate zurück, aber meine Passion für Homöopathie zählte zwei stolze Jahrzehnte, denn mit fünf Jahren soll ich mich das erste Mal dazu bekannt haben, indem ich einer schnupfenden Nachbarin meinen Grundsatz ans Herz legte: „Wenn es einem schlecht geht, hilft nur Homöopathie. Mandy Pat bringt dir ihr Natrium muriaticum“, verkündete ich, ohne mich beim Benennen meines Konstitutionsmittels zu verheddern. Ich sprach über mich damals noch in der dritten Person. Mandy Pat ist die Abkürzung von Amanda Patrizia. Zu diesem, zugegeben, geschwollenen Doppelvornamen kam ich wegen der äußerst seltenen Uneinigkeit meiner Eltern. Meine Mutter hatte mich Amanda genannt, noch bevor ich das Licht der Welt erblickt hatte. Sie wollte mich ungern mit einem anderen Rufnamen verwirren, als ich einmal da war. Zusammen mit meinem Zwillingsbruder Mike. Mein Vater wusste damals noch nicht, dass ihm zehn Jahre nach der Geburt der Zwillinge noch eine Tochter ins Haus kommen würde, die den stolzen Namen seiner Lieblingsgroßmutter hätte weiterführen können. So musste ich für die Familientradition väterlicherseits einstehen und bekam den Vornamen meiner Urgroßmutter beigefügt. Selbstverständlich bevorzugte ich, Mandy Pat genannt zu werden. Das klang schon einmal kein bisschen geschwollen, sondern eher ungewollt drollig.

Es gibt bekanntlich Augenblicke, die in die persönliche Geschichte eines Menschen als Trennlinie eingehen. Nachdem ein Augenblick dieser Qualität verstrichen ist, ist nichts mehr wie zuvor, denn dein Leben ist geteilt - in „jetzt“ und in „damals, bevor es geschah“. Man wäre besser dran, wenn sich solch ein fataler Augenblick ankündigen würde - durch einen Paukenschlag etwa -, aber nichts dergleichen geschah.

Es schneite im Zeichen des Segens, wie mir schien, als ich das Tor zur Praxis öffnete. Und da sah ich sie. Im Inneren des Hofes, rechts unter dem Fenster lag eine menschliche Gestalt mit gespreizten Beinen. Keine einzige Sekunde lang nahm ich an, es wäre jemand, der es nicht mehr geschafft hatte, in die Praxis zu gelangen, und an unserer Schwelle zusammengebrochen war. Ich wusste sofort, dass es sich um eine Leiche handelte. Nicht weil ich über eine gewisse Erfahrung diesbezüglich verfügt hätte. Nein, ich wusste es einfach. Sogar unter Schock registriert man unbewusst unzählige Dinge, die sich im Bruchteil eines Augenblicks zu einem Urteil zusammenfügen, das man bewusst gar nicht nachvollziehen kann. Im Nachhinein denke ich, es muss die unnatürliche Körperlage gewesen sein, die mich annehmen ließ, die Frau, die da lag, würde nicht mehr aufstehen. Vielleicht war es auch eine ganz banale Beobachtung, der eine ebenso schlichte Überlegung folgte, wie etwa: Die dicke Schneeschicht auf dem Körper lässt darauf schließen, dass die Person seit ein paar Stunden bewegungslos dagelegen hat; die Körpertemperatur war zu niedrig, um die Schneeflocken zum Schmelzen zu bringen; der Körper lag da und ließ sich von einer weißen Masse einhüllen.

Die allererste Version, die ich mir bei diesem unglaublichen Anblick zusammengereimt hatte, war die kindisch anmutende Annahme, es sei schlicht und einfach ein Trugbild. Ich blinzelte intensiv, um den Spuk zu verscheuchen. Für jemanden, der sich eingehend mit Homöopathie befasst, ist die Überlegung, jemand oder man selbst könnte einer Sinnestäuschung verfallen sein, keinesfalls abwegig. Auf jeden Fall schien mir die Möglichkeit, bei offenen Augen zu träumen, realistischer zu sein als das reale Vorhandensein einer Leiche, dort, wo sie ganz und gar nicht hingehörte. Doch das verzweifelte Blinzeln vermochte die „visuelle Sinnestäuschung“ nicht zu verscheuchen, mir blieb nichts anderes übrig, als das unheimliche Bild als reale Gegebenheit zu akzeptieren.

Was tut man, wenn man in seinem Hof eine verschneite Leiche entdeckt?

Ich schätze, in dieser Situation wäre es angemessen, sich zu vergewissern, ob man es bei der vermeintlichen Leiche nicht mit jemandem zu tun hat, der trotz der bösen Vermutung doch noch unter den Lebenden weilt. Man sollte sich pflichtgemäß dazu überwinden, nach einem Puls zu forschen, oder zumindest den Mut aufbringen, demjenigen einen Spiegel unter die Nase zu halten.

Ich unterließ all diese sehr wohl angebrachten Aktionen und berief mich auf meine vermeintliche Heilpraktikerkompetenz, als ich meinen Fund mit zittriger Stimme als Leiche deklarierte. Der Kommissar, dem ich meine Meldung zukommen ließ und dessen Namen ich in meiner Aufregung nicht mitbekommen hatte, unterließ seinerseits lästige Fragen, die mich in Verlegenheit gebracht hätten, und wies mich an, nichts anzurühren, bis der Tatort gesichert war. Somit wurde das idyllische Bild mit einem zitronengelben Häuschen im ersten Schneefall zum Tatort erklärt. Ich bekam einen Schrecken, als mir einfiel, dass bereits in einer Viertelstunde die erste Patientin eintreffen sollte.

Alle Termine mussten schleunigst abgesagt werden! Dank der vorbildlichen Ordnung, die meine Mutter im beruflichen Umfeld sowie im privaten Leben pflegte, brauchte ich nicht lange nach den Telefonnummern ihrer Patienten zu suchen. Morgen würde sowieso jeder in der Stadt über „unsere Leiche“ Bescheid wissen, die Geschichte würde mit den Morgenblättern auf jedem Frühstückstisch landen, und die Leute würden uns nun „die Praxis mit einer Leiche unter dem Fenster“ nennen.

Ich schalt mich für den unwürdigen Anflug von Selbstmitleid und machte mich an die Arbeit. Es gelang mir zum Glück, die Patientin mit dem Neunuhrtermin auf ihrem Handy zu erreichen. Ich lud sie unter dem Vorwand aus, meine Mutter sei in der Nacht plötzlich an einer Grippe erkrankt und möchte jegliche Ansteckungsgefahr ausschließen, wobei sie mich angewiesen hätte, sie bei all ihren Patienten zu entschuldigen. Während die nette Dame, die schon die Hälfte ihres Weges zurückgelegt hatte, beflissen ihre Enttäuschung unterdrückte und meiner Mutter ihre Genesungswünsche ausrichten ließ, füllte sich der Hof mit betrieblichem Lärm.

Zwei Polizeiwagen und ein Krankenwagen standen vor dem Tor, Männer in Uniform beugten sich mit routiniertem Gesichtsausdruck über die Leiche. Mit Erstaunen registrierte ich die Erleichterung, die fast ruckartig meine Verkrampfung löste: Ich brauchte nicht mehr auf den ungebetenen Eindringling aufzupassen, ich war nicht mehr für die Leiche zuständig, die … fast hätte ich gesagt, mir anvertraut worden war. Sachkundig und mit gebündelter Energie nahmen die Profis die Sache in ihre Hand. Plötzlich war der entweihte Fleck unter meinem Fenster nicht mehr auf die ursprüngliche Weise unheimlich. Ich beobachtete fasziniert den gleichmütigen Gesichtsausdruck der im Hof hantierenden Polizisten, und meine Hände hörten auf zu zittern. Als ich den Hörer auflegte, war ich sogar imstande, den eintretenden Kommissar mit einem Lächeln zu empfangen.

Oberkommissar Kross schüttelte mir energisch die Hand, so wie man jemandem die Hand schüttelt, wenn man ihm etwas zu verdanken hat. Immerhin war ich es, die die Leiche gefunden hatte. Doch ich war eigentlich diejenige, die zu danken hatte, denn er war dabei, mir den unheimlichen Fund abzunehmen.

Es gab über meine Entdeckung nicht viel zu berichten, aber ich gab mich nicht einsilbig, denn ich war immer noch so aufgeregt, dass ich meine Überraschung und mein Grauen unbedingt loswerden musste. Erst als mir sein ungeduldiges Hüsteln aufgefallen war, hielt ich irritiert inne. Ihn interessierten offensichtlich viel mehr meine Personalien als meine aufgewühlten Emotionen.

„Kennen Sie das Opfer?“, fragte er betont kühl, vermutlich, um einem erneuten Redeschwall meinerseits vorzubeugen. Ich beteuerte, das Opfer noch nie gesehen zu haben. Beim Wort „Opfer“ rieselte es mir kalt über den Rücken, obwohl ich zu keinem Zeitpunkt angenommen hatte, es würde sich bei der Leiche um einen Fall mit natürlicher Todesursache handeln.

Als ich mit schlecht unterdrückter Enttäuschung berichtete, dass dieser Tag mein Debüt in der Praxis werden sollte, merkte ich, dass mich etwas an der Miene des Oberkommissars irritierte. Hatte ich da eben ein unterdrücktes Schmunzeln über sein Gesicht huschen sehen? Ich fragte mich, was diesen raschen Mienenwechsel bewirkt haben mochte, und fühlte im Nu, wie ich heftig errötete. Ich ärgerte mich so über meine mangelnde Selbstbeherrschung, dass ich die nächste Frage fast überhört hätte.

„Seit wann steht es fest, dass Sie Ihre Mutter heute in der Praxis vertreten sollen?“

„Seit vorgestern Abend. Ich hatte eigentlich noch keine Gelegenheit, mich eingehend mit den Patientenakten zu befassen. Mein Einsatz war ursprünglich für den nächsten Monat geplant. Es war mehr oder weniger eine Spontanentscheidung, mich sozusagen ins kalte Wasser springen zu lassen. Ich sollte für meine Mutter einspringen, weil …“

Der Inspektor schien ein etwas ungeduldiger Typ zu sein, denn er unterbrach meinen etwas defensiv klingenden Bericht und wollte gar nicht so genau wissen, wieso man mich ohne erforderliche Vorbereitung auf die Patienten losgeschickt hatte. So kam ich nicht dazu, ihm glaubwürdig zu versichern, dass es sonst nicht die Art meiner Mutter war, ihren Patienten Mangel an Kompetenz zuzumuten. Ich rasselte den verschluckten Text in meinem Kopf herunter und merkte erst später, dass der Oberkommissar auf etwas Bestimmtes hinauswollte.

„War es anzunehmen, dass Sie ab etwa sechs Uhr morgens in der Praxis anzutreffen sind?“ Ich schüttelte den Kopf: „Wir vergeben erst ab neun Uhr Termine. Keiner würde uns um sechs Uhr in der Praxis vermuten. Meine Mutter erledigt ihre Büroarbeit gewöhnlich nach der Sprechstunde. Abends. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass jemand von uns zu einer ungewöhnlichen Zeit in der Praxis auftaucht, um etwa eine Patientenakte zu holen, die man in der Praxis vergessen hat, obwohl man vorgehabt hatte, sie zu Hause durchzugehen. Das war zum Beispiel gestern am Spätabend der Fall. Meine Mutter hat es versäumt, die Akte der netten Dame einzustecken, die heute um Viertel nach neun einen Termin hatte. Sie wollte mich aber noch vor meinem Start in ihre Krankengeschichte einweihen.“ Wider Willen schlich sich erneut die wehmütige Note in meine Stimme und ich hüstelte, um sie zu kaschieren, dann fiel mir plötzlich ein, dass ich tatsächlich vorgehabt hatte, gegen sechs in der Praxis zu sein. Bei einem vollen Terminkalender waren zwischen den Patientenbesuchen keine Pausen vorgesehen. Es stand mir ein sehr anstrengender Tag bevor, deshalb hatte ich ursprünglich beabsichtigt, mich an meinem ersten Tag sehr früh an die Arbeit zu machen. Wer hatte meine Pläne durchkreuzt? Kaum zu glauben: Es war meine eigene Mutter. Sie hatte sich auf leisen Sohlen in mein Zimmer geschlichen und den Wecker umgestellt. Als ich zwei Stunden später als geplant in die Küche gehetzt kam, fand ich meine Mutter beim Kaffeekochen vor. Ich griff mir nur verzweifelt an den Kopf und dachte an die Dame, die um Viertel nach neun antreten sollte. Meine nicht realisierte Absicht, den Arbeitstag gegen sechs Uhr morgens zu beginnen, tat nichts zur Sache, deshalb beschloss ich, diese Information für mich zu behalten. Außerdem ging mein übermäßiger Eifer die Polizei kaum etwas an. Dies war eine familiäre Angelegenheit. Oder etwa nicht?

Ich unterließ es selbstverständlich auch, den Kommissar mit überflüssigen Details zu behelligen, doch etwas an seiner Fragestellung beunruhigte mich. Demjenigen, der die Leiche vor unsere Tür gelegt hatte, wäre es sofort aufgefallen, wenn in einem der Praxisräume Licht gebrannt hätte. Dann wäre er brav weitergefahren und hätte sich seiner Last woanders entledigt. Das Häuschen hatte aber in willkommener Dunkelheit geruht, und das Tor in den Hof war nicht abgeschlossen. Eine geeignete Zuflucht für verwaiste Leichen, dachte ich mir bitter. Es war grausam, das schmucke Häuschen, das seine Tür für kranke und genesende Menschen offen hielt, als Leichenablage zu missbrauchen! Wer auch immer das getan haben mochte, verdiente mit Recht meine tiefste Verachtung.

„Wer hat gewusst, dass Sie vorhatten, heute Ihre Mutter zu vertreten?“

Wieder so eine seltsame Frage! Hätte man es etwa unterlassen, die Leiche unter unserem Fenster zu platzieren, wenn meine Mutter hier gewesen wäre? Aus Ehrfurcht vor ihrer Person etwa?

„Ein paar Leute wussten bestimmt davon, weil es für mich ein besonderer Tag werden sollte.“

„Wer genau wusste davon?“ Ich zuckte erneut mit den Schultern. Der Oberkommissar runzelte die Stirn. Er mochte es offensichtlich ganz und gar nicht, wenn man seine Fragen nicht ernst nahm.

„Frau Fox, versuchen Sie sich daran zu erinnern, wem gegenüber Sie gestern erwähnt haben, dass Sie heute in der Praxis anzutreffen sind. Denken Sie einfach darüber nach, mit wem Sie gestern gesprochen haben, nachdem Ihre Mutter Sie um Vertretung gebeten hatte.“ Ich schwieg immer noch, weil mir partout nichts einfallen wollte.

„Ihnen dürfte die Ähnlichkeit Ihrer Person mit dem Opfer nicht entgangen sein …“, meinte er gedehnt und registrierte mit unverhohlener Genugtuung, dass es ihm endlich gelungen war, meine volle Aufmerksamkeit zu erlangen.

„Ich soll der Leiche ähnlich sein?!“, brachte ich entsetzt hervor und musste für einen Augenblick die Augen schließen.

„Frau Fox, die Leiche war vor etwa vier Stunden noch quicklebendig.“

„Ich…“ Ich war sprachlos.

„Tut mir leid, ich wollte Sie nicht dermaßen aufregen.“ Er hüstelte verlegen und meinte, man dürfe zu meinem eigenen Schutz den Verdacht nicht außer Acht lassen. Sollte der Anschlag mir gegolten haben, so sei es nicht ausgeschlossen, dass …

Dass der Mörder immer noch hinter mir her war?

Er nickte und meinte, ich solle mir Zeit lassen und mir in Ruhe überlegen, wer in meinem Bekanntenkreis ein Interesse daran haben könnte, mir ernsthaft zu schaden.

„Mir eine Leiche unterzuschieben?“, fragte ich verwundert.

„Nein, ich meine eher: Sie zu erdrosseln“, antwortete er und betonte dabei jede einzelne Silbe, um seiner Botschaft Nachdruck zu verleihen.

Ich schnappte nach Luft. Der Mann neigte eindeutig zu skurrilen Vorstellungen!

Hiermit war die Unterhaltung so gut wie beendet, der Oberkommissar verlangte nach der Telefonnummer meiner Mutter.

„Ich muss Ihre Mutter leider darum bitten, trotz der Erkältung aufs Revier zu kommen, damit wir ausschließen können, dass es sich bei dem Opfer um eine ihrer Patientinnen handelt“, meinte er.

Arme, ahnungslose Mama! Das konnte ich nicht zulassen! Ich musste ihn dazu überreden, diese Aufgabe mir zu überlassen.

„Lassen Sie mich meiner Mutter die böse Nachricht schonend beibringen. Sie ist Leichen nicht gewohnt, wissen Sie … Und sie ist eigentlich krank, obwohl sie das immer verharmlost. Ein Heilpraktiker hasst es, krank zu sein.“

Der Oberkommissar blickte zuerst, wie mir schien, etwas befremdet, dann erschien an seinen Mundwinkeln dieses kaum wahrnehmbare Zucken, das mich vorher schon gewaltig irritiert hatte. Er nickte, verabschiedete sich und verließ eilig den Raum. Sollte ich nun davon ausgehen, dass er mit meinem Vorschlag einverstanden war? Immerhin hatte er dazu genickt. Nach kurzer Überlegung kam ich zum Schluss, dass ich mich sehr wohl darauf verlassen konnte, dass ein Polizist nicht nur seine Worte, sondern auch seine nonverbalen Botschaften ernst nahm. Und ein Nicken hatte in unserem Kulturkreis eine sehr deutlich umrissene Bedeutung.

Endlich durfte ich den Tatort verlassen. Als ich wegging, hantierten die Leute von der Spurensicherung am Tor. Ich schielte beim Vorbeigehen auf den markierten Fleck unter dem Fenster und eilte davon.

Nicht heulen! Gegen jegliches Leid ist bekanntlich ein Kraut gewachsen. Mein aufgewühltes Gemüt verlangte nach Galgenhumor. Der Scherz schien nach seinem eigenen Gesetz zu leben - je grobstofflicher, desto heilsamer. Galgenhumor war eindeutig eine allopathische Erscheinung: Erst eine gehörige Menge davon entfaltete die notwendige Kraft, um gegen einen hoch dosierten Kummer anzugehen. Im Gegensatz zu dem homöopathischen Heilprinzip: je höher potenziert, desto weitgreifender. Meine Gedanken waren bitter wie ein kräftiger Beifußtee. Bitter und heilsam: „Nicht erschrecken, Mama! Ich komme etwas früher nach Hause, aber kein Grund zur Panik! Deine Patienten haben mich weder abgelehnt, noch verscheucht. Die Polizei hat mich vertrieben. Du weißt, wie die sind. Wenn die ihr Revier erweitern wollen, kennen die keine Scheu. Was passiert ist? Was soll schon passiert sein. Nein, kein Einbrecher hat sich an unserem Häuschen vergriffen. Es ist noch heil und wohlbehalten wie zuvor. Ich musste es abschließen, weil man unseren Hof zum Tatort erklärt hat. Wieso? Ja, weil man unter dem Fenster, hinter dem du gewöhnlich deine Patienten empfängst, eine Leiche gefunden hat. Ja, stell dir das vor! So ein Unding! Jemand hat sie irrtümlicherweise direkt bei uns abgelegt! Da atmet jemand nicht mehr, weil er angeblich erdrosselt wurde, und prompt landet die Leiche vor unserer Tür. Als ob wir alles zu heilen wüssten. Ja, du hast richtig gehört: Die Frau ist erdrosselt worden.“

Als ich unser Haus erreicht hatte, konnte ich wieder tief durchatmen. Ich schloss die Haustür auf, stand ein paar Augenblicke in der Diele und lauschte. Es war still im Haus. Serena war noch gewiss in der Schule, und Mama muss eingeschlafen sein. Nein, das war sie nicht, sie war nirgends zu finden. Nachdem ich das Haus nach ihr abgesucht hatte, setzte ich einen Kaffee auf und ließ mich in den Schaukelstuhl fallen. Und da, auf dem Couchtisch entdeckte ich ihren Zettel: „Schatz, ich weiß über alles Bescheid. Der Oberkommissar hat angerufen und mich gebeten, aufs Revier zu kommen. Es tut mir so leid für dich! Wir reden, wenn ich zurück bin. Mama.“

Ich wartete und mein Groll wuchs. Als ich kurz vor einem Wolkenbruch stand, hörte ich die Tür ins Schloss fallen. Sie atmete schwer, und ihr Gesicht war trotz der winterlichen Kälte verschwitzt. Sie umarmte mich mit einem kläglichen Lächeln und schüttelte den Kopf: „Nein, ich habe die Frau noch nie gesehen.“

Keine Patientin also. Niemand, den wir gekannt hatten. Niemand, mit dem wir etwas zu tun hatten. Mutter war offensichtlich froh, es hinter sich gebracht zu haben. „Erledigt!“, meinte sie, seufzte und goss sich einen Kaffee ein.

„Hat dich das Gesicht der toten Frau an jemanden erinnert, den du kennst?“ Meine Frage sollte beiläufig klingen, doch ich konnte es nicht verhindern, dass meine Stimme dabei verräterisch bebte.

Meine Mutter tätschelte mir beschwichtigend die Hand: „Ich weiß, was du meinst, Amanda. Ich halte das selbstverständlich für ausgeschlossen. Es kann keine Verwechslung gewesen sein. Wer könnte dir nach dem Leben trachten! Wir wissen beide, dass es nichts gibt, was es nicht geben kann. Aber der gute Oberkommissar kann das nicht wissen. Weil er dich nicht kennt.“

Meine Mutter war also ebenso felsenfest davon überzeugt, dass es für niemanden im ganzen Universum einen Grund gab, mich umzubringen. Punkt. „Die Polizei darf aber keine Möglichkeit außer Acht lassen und muss jedem Anhaltspunkt nachgehen.“

Gewiss, Mama.

Viel später, kurz vor Mitternacht kam mir noch ein Gedanke: Wollen wir wetten, dass der Kerl, der seine Leiche bei uns abgelegt hat, die Absicht verfolgte, den Oberkommissar auf die falsche Fährte zu locken? Allein die Kartei der ehemaligen und gegenwärtigen Patienten von Tony Brigg könnte die Polizei ein gutes Jahr beschäftigen. Oder … es war tatsächlich Tonys Patientin, und es war gar kein Zufall, sondern die Absicht des Mörders, dass die Leiche der armen Frau ausgerechnet vor der Tür ihres ehemaligen Psychotherapeuten gefunden wurde. Armer Tony!

Ich hatte das Licht schon abgeschaltet, als ich meine Mutter leise anklopfen hörte. Im blassen Schein meiner Nachtlampe sah ich sie mit einem Tablett vor mir stehen. Ein Glas Wasser und eine Tablette.

„Nein, Mama, bitte! Kein Natrium muriaticum“, bettelte ich. Ich wollte keinen „Airbag“ in meinem Hinterkopf. Ich wollte kein Polster zwischen mir und meinem Elend.

Ich war aber zu müde, um meinen Standpunkt plausibel darzulegen. Zu müde und etwas schläfrig. So sagte ich einfach: „Ich will kein Gnadenpolster. Ich will sie verarbeiten.“

„Was, mein Schatz?“, fragte meine Mutter.

„Die Leiche, Mama.“

Sie schüttelte traurig den Kopf, wünschte mir angenehme Träume und machte das Licht aus. Ich hörte sie leise die Tür zumachen. Stattdessen ging eine andere Tür auf …

Maestro sieht blau

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