Читать книгу Maestro sieht blau - Elena Jedaite - Страница 8
ОглавлениеUnliebsame Enthüllungen
„Nein, Schatz, ich bin nicht aufgedreht. Ganz im Gegenteil, ich bin ein wenig schlapp. Du weißt, meine Erkältung. Ja, gewiss werde ich mich schonen. Die Praxis ist geschlossen, bis die Therapeutin wiederhergestellt ist. Die Termine habe ich abgesagt. Erst nächste Woche geht’s wieder weiter. Patrizia? Ja, Amanda geht’s soweit gut. Ich dich auch. Wir sehen uns ja bald. Nein, du brauchst nicht mehr anzurufen, das ist für dich bestimmt ziemlich umständlich. Bis übermorgen. Wir dich auch.“
Papa. Es hat sich nicht danach angehört, als hätte sie ihn in die Geschehnisse des gestrigen Tages eingeweiht. Mutter hasste es grundsätzlich, den Leuten per Telefon unangenehme Nachrichten zukommen zu lassen. Ich dagegen bevorzugte es, mich der direkten Einwirkung destruktiver Energien zu entziehen. Ich zog mich nicht aus purem Egoismus zurück. Es ging mir nicht darum, meine eigene Weste trocken zu halten, sondern ich war davon überzeugt, dass ich von meiner seelischen Struktur her ein „Ignatia-Fall“ war. Und eine Ignatia empfindet die Welt mit äußerster Intensität, deshalb kommt sie gefühlsmäßig kaum aus der emotionalen Achterbahn heraus. In der Emotionsküche von Ignatia ist das Schüren strikt verboten. Was hatte ich mir wohl gestern vor der Ankunft der Polizei hastig auf die Zunge geträufelt? Richtig, Ignatia.
Vater würde also erst übermorgen alles erfahren. „Ich kann ihm doch nicht die letzten Urlaubstage in den Bergen vermiesen. Er hat sich so darauf gefreut. Und er braucht die Entspannung und die Bergluft, nachdem er die letzten Monate so hart gearbeitet hat.“
Mutter war noch ganz aufgeregt. Lügen, sogar Notlügen erfordern einen immensen Kraftaufwand, behauptete sie.
„Tony hätte ich es sogar sagen müssen. Es ist sein gutes Recht, über die letzten Ereignisse informiert zu werden. Schließlich ist es ja auch seine Praxis, die von dem Unglück heimgesucht wurde. Wie sollte ich das aber anstellen? Er stand direkt neben Papa.“
Ich gab ihr Recht. Was sollte es nützen, die beiden unnötig aufzuregen und ihnen den wohlverdienten Urlaub zu verpfuschen. Höchstwahrscheinlich würden sie aus Solidarität mit uns einen Tag früher aufbrechen.
„Er klang so entspannt. So munter. Ich konnte es einfach nicht“, rechtfertigte sie sich kleinlaut.
„Ist ja schon gut, Mama, du hast das Richtige getan.“
„Bist du sicher?“
Ich nickte eifrig.
Am meisten tat es mir aber weh, dass auch mein Bruder Mike zu denjenigen gehörte, die damit verschont werden sollten. „Bitte, Amanda, halte dich zurück! Der Junge bereitet sich auf sein erstes Plädoyer vor. Er wird es früh genug erfahren. Am Montag nach der Verhandlung werden wir ihm alles erzählen. Versprichst du mir, dass du deinen Bruder bis dahin aus der Geschichte heraushältst?“, flehte sie mich an und ließ mich dreimal dazu nicken.
Vater und Tony waren also nicht zu behelligen, Mike war nicht zu stören. Wer blieb da noch vom männlichen Kraftpotenzial übrig? Ich dachte sehnsüchtig an Svens Schulter, an die ich mich am liebsten angelehnt hätte. Ich fragte mich nur, ob diese Schulter am Samstagnachmittag für mein Trost suchendes Haupt noch frei war. Ich galt als Svens „kleine Schwester“ und durfte ihn ohne weiteres fast zu jeder beliebigen Zeit anrufen. Notfalls durfte ich ihn sogar aus den Federn holen.
Da ich mit mir sonst nichts Vernünftiges anfangen konnte, beschloss ich, zur Praxis zu fahren, um die Post abzuholen. Wenn es mir endlich gelingen sollte, Sven an die Strippe zu kriegen, würde er meinen Bericht bestimmt live hören wollen. Schließlich war ich die Person, die höchstpersönlich eine Leiche gefunden und sie der Staatsgewalt ausgeliefert hatte. Wenn Sven je eine Leiche entdeckt hätte, wüsste ich das bestimmt.
Ich wählte seine Festnetznummer und gleich darauf die Nummer seines Handys. Nichts. Ich hasste es, unangemeldet bei jemandem aufzutauchen, aber er ließ mir keine andere Wahl. Es war legitim, ihn ohne Vorwarnung aufzusuchen, lautete unsere Regel. Er war es schließlich, der mich als Baby gewickelt hatte, wenn mal keiner in Sicht war. Soweit ich meine Mutter kannte, dürfte sich eine derartige Situation nicht allzu oft zugetragen haben, was Sven jedoch nicht daran hinderte, diese Tatsache bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu erwähnen. Ich dagegen fand es unfair, wenn nicht gar ungeheuerlich, dass man diese unwürdige Aktion an meinem Körper überhaupt zugelassen hatte. Meine weitsichtige und oberschlaue Mutter hätte schon damals voraussehen müssen, dass die Erinnerung an meine vollen Windeln mich mein Lebensglück kosten würde. Man könnte fast meinen, Sven prahlte mit der für mich peinlichen Erfahrung, um mir durch die Blume eine bestimmte Botschaft zu vermitteln.
Ich hatte mein Leben lang Svens Kunst bewundert und war immer noch davon überzeugt, dass er es weit gebracht hätte, wenn er die Malerei nicht zur Freizeitbeschäftigung reduziert hätte. Obwohl Sven immer noch mit der ursprünglichen Leidenschaft malte, tat er das zu meinem Leidwesen nur noch in der „Auszeit“, in den wenigen Pausen, die er ab und zu einlegen musste, um sich für seine Hauptbeschäftigung aufzubauen: Modedesign. In dieser Branche hatte er es tatsächlich weit gebracht, denn er war der Chefdesigner bei einer renommierten Modefirma namens „Pygmalion“.
Ich hatte noch nie zuvor von dem mir eingeräumten Recht, Sven unangemeldet zu überfallen, Gebrauch gemacht. So beschloss ich, dass es höchste Zeit war, meine Rechte in Anspruch zu nehmen.
Sven hatte vor etwa vier Jahren eine großzügige Vierzimmerwohnung in einem Neubau gemietet, der neben den modernen Vorzügen den betuchten Mietern das Flair hoher Räume bot, was kaum noch in sonstigen neuartigen Bauten anzutreffen war. Mit den riesigen Fenstern, dem eleganten Bad in Königsblau und Gold und der übermäßig raffinierten Kücheneinrichtung stellte die Wohnung alles in den Schatten, was ich bisher schick gefunden hatte. Der weiß getünchte Kamin in dem über vierzig Quadratmeter großen Wohnzimmer vollendete das Bild erlesener Gediegenheit, das Sven mit künstlerischem Geschick entstehen ließ, indem er distinguierte Qualität und puristische Formen durch extravagante Akzente aufgelockert hatte. Das für Gemütlichkeit und Flair zuständige Dekor, wie exotische Pflanzen aus Stahl und Glas, hatte Sven nahtlos in das Kunstwerk hineinwachsen lassen. So war ein Ort von erlesener Schönheit entstanden - Svens Oase. Seltsamerweise fühlte man sich auf Svens Insel nicht fremd. Man konnte sich auf Anhieb mit der Herrlichkeit der Umgebung anfreunden.
Als ich Svens Haus erreichte, ging die Haustür auf und eine elegant gekleidete Dame erschien an der Schwelle. Sie schien mich erkannt zu haben und winkte mich mit einer einladenden Geste ins Haus. De Haustür ging fast geräuschlos hinter mir zu. Nun stand ich da, im Inneren eines nach Wohlstand und Erfolg duftenden Hauses, und starrte auf den grünen Leuchtknopf am Fahrstuhl. Ich entschied mich fürs Treppensteigen, denn mein beträchtlich beschleunigter Puls verlangte nach Ausgleich. Ich kannte diesen Vorgang allzu gut: Jedes Mal, wenn ich mich in Svens unmittelbare Nähe begab, begann mein dummes Herz zu flattern und brachte meinen gesamten Kreislauf durcheinander.
Als ich mich Stufe für Stufe Svens Domizil näherte, fühle ich mit jedem Atemzug, wie sich die Luft um mich herum lichtete, während ich die typischen Symptome einer ganz speziellen Höhenkrankheit entwickelte: Atemnot, Schwindel und Ohrensausen - genau die gleichen Symptome, die so manchem beim Besteigen hoher Berge zu schaffen machen. Die Höhenluft, die diesen Mann umgab, unterlag zwar keinem Naturgesetz, doch weder Schutzgebet noch Yoga kamen dagegen an. Seine Nähe war für mein Nervenkostüm eindeutig pures Gift!
Oben angelangt, atmete ich, soweit es ging, tief durch und klingelte. Es rührte sich nichts hinter der verschlossenen Tür. Ich drückte wiederholt auf den Knopf. Erst als mein ungeduldiges Klingeln jenseits der Tür ertönte, schämte ich mich plötzlich für meinen Überfall. Ich wusste nämlich, dass er zu Hause war, obwohl diese Eingebung durch nichts zu belegen war.
Ich wünschte, die Vernunft hätte gesiegt, und ich wäre umgekehrt. Doch ich blieb stur vor der verschlossenen Tür stehen und wartete, bis ich Svens Schritte vernahm und das Guckloch sich für einen Bruchteil der Sekunde verdunkelte. Als die Tür dann schwungvoll aufging und Sven mich mit gewohnter Liebenswürdigkeit begrüßte, verspürte ich einen kleinen Stich in der Magengrube. Etwas stimmte nicht. Ich sah in Svens strahlendes Gesicht, sein Lächeln war breit und aufrichtig, und seine Freude, mich zu sehen, gab keinen Anlass zum Zweifel. Ich hatte übrigens noch nie seine Zuneigung infrage gestellt oder die Echtheit seiner Freundlichkeit angezweifelt. Svens Sympathie für die kleine Mandy (bei Begrüßung) und Pat (beim Abschied) war solide und rustikal, wie der grün angestrichene Vitrinenschrank im Esszimmer seiner Mutter Ally.
Ich wurde hereingebeten und ins Wohnzimmer geführt. Es vergingen keine drei Sekunden, bis ich den Grund meines Unbehagens ermittelt hatte. In der mit Ylang-Ylang, Nelke und Sandelholzaroma getränkten Luft schwebte eine unbekannte Duftnote mit. Parfüm! Oh! Das konnte nur eins heißen: Die Frau, die dieses Parfüm verströmte, befand sich immer noch in der Wohnung, und ich musste damit rechnen, dass sie demnächst ins Wohnzimmer spazierte, wo auch immer sie sich in diesem Augenblick aufhielt.
„Es tut mir leid, Sven. Ich wollte unbedingt mit dir reden, aber dein Handy war ausgeschaltet, und ich …“ In einer Minute hatte ich mich heiser geredet.
Er drückte mich lachend in den Sessel. „Mandy, wag es ja nicht, dich zu rechtfertigen. Sonst bin ich noch beleidigt. Es tut richtig weh, wenn du mir unterstellst, ich könnte zu irgendwelchem Zeitpunkt meines Lebens nicht darüber erfreut sein, dein niedliches Gesicht zu sehen.“ Genau, niedlich. Die niedliche Mandy zum Hallosagen, die niedliche Pat zum brüderlichen Abschiedskuss, die niedliche Amanda für den feierlichen Anlass und die niedliche Patrizia für die Notwendigkeit gut gemeinter Belehrungen. Ich war die Schwester, die ihm seine Eltern zu schenken versäumt hatten. Der Bedarf an sonstiger weiblicher Zuwendung war sicher anderweitig gedeckt, und es bestand nicht der geringste Mangel an aufregender weiblicher Gesellschaft. Das konnte man ja riechen, dachte ich bitter und schnupperte an der leicht angeheizten Luft, in der außer dem verräterischen Parfum noch ein paar andere, schwer zu deutende Partikel mitschwangen. Auch ohne einschlägige Erfahrung tippte ich auf den Duft bereits ausgekosteter Leidenschaft. Kaum hatte ich den indiskreten Gedanken zu Ende gebracht, schon fühlte ich die verräterische Hitze in meine Wangen schießen, denn er zwinkerte mir verschmitzt zu: „Das, was du aus meiner Duftwolke gerade herausgeschnuppert hast, hört auf den Namen ‚Jadore’. Es braucht dir überhaupt nicht peinlich zu sein. Keine Duftnote kann das Vergnügen, dich zu sehen, überbieten. Sie kommt gleich heraus und wird erfreut sein, deine Bekanntschaft zu machen.“
Ich dagegen verspürte nicht den leisesten Wunsch, ihre Bekanntschaft zu machen, doch ich nickte brav und rang mir ein unverbindliches Lächeln ab. Ich wusste, was sich gehörte: Als kleine Schwester musste man freundliches Interesse an der aktuellen Leidenschaft des großen Bruders bekunden, und das tat ich nun notgedrungen.
Ach, dachte ich mir, euer aller Parfüm wird längst vom Winde verweht sein, während mein von Ylang-Ylang umwehtes schwesterliches Gesicht aus diesem herrlichen Raum nicht wegzudenken war, da es dafür prädestiniert war, eine winzige und trotzdem äußerst wichtige Lücke in Svens Leben auszufüllen. Alles um Sven herum trachtete nach Vollendung. „Meine Welt wäre ohne dein Gesicht um eine Dimension ärmer“, meinte er einst und kniff mich brüderlich in die Wange, um die pathetische Note seiner Aussage zu verniedlichen. Es war nur zu schade, dass er das Ausmaß dieser Dimension nicht einmal erahnte und demzufolge ihre Vorzüge weder einschätzen noch in Anspruch nehmen konnte. Ich seufzte. Er forschte in meinem Gesicht nach dem Grund des Seufzers, kam aber nicht mehr dazu, mich danach zu fragen, denn etwas hinter meinem Rücken lenkte ihn von mir und meinem Seufzer ab. Ich roch die sich nähernde „Jadore-Wolke“, bevor ich, seinem Blick folgend, die schwarzhaarige Frau sah, die im Walzerrhythmus auf uns zuschwebte. Sie trug einen Morgenmantel aus edler rosa Seide und ließ ihn mit jeder Drehung in fließenden Wellen um ihren Körper schwingen. Ihr langes pechschwarzes Haar wirbelte und schimmerte, als würde es mit dem noblen Glanz der Seide wetteifern, sodass der Eindruck entstand, dies hier sei ein Werbespot für ein Shampoo. Erst bei der fünften Drehung begriff ich, was die Frau mit ihrer Vorstellung bezweckte. Ich war in eine exklusive „Modenschau“ hereingeplatzt und musste mir nun ansehen, wie die schillernde Erscheinung nach der siebten Drehung direkt in Svens Schoß landete und ihm einen luftigen Kuss auf die Lippen hauchte. Er hob sie entschieden, aber sanft hoch und stellte sie mir als Samantha vor. „Und das ist Amanda, meine …“ Sie unterbrach ihn strahlend: „Ich weiß, deine kleine Schwester.“ Jetzt würdigte sie mich eines Blickes, der mit Sicherheit für die Familienmitglieder des Verlobten reserviert war und ein gewisses pragmatisch bedingtes Interesse beinhaltete: Schließlich musste man sein künftiges Inventar begutachten, um vorausplanen zu können. Wenn Sven also im Besitz einer „kleinen Schwester“ war, so war es für Samantha vorauszusehen, dass irgendwann die Notwendigkeit bestand, mich in ihrem Haushalt angemessen unterzubringen. Oder irrte ich mich da etwa? Ihr Blick war für ein schlichtes Inventurverfahren etwas zu intensiv. Und zu forschend. Da blinkten doch so winzige Fragezeichen mit. Oder gar Ausrufezeichen? Stimmt das auch so?! Bist du tatsächlich die kleine Mandy oder die harmlose Pat, oder ist es nur eine gekonnte Tarnung, und du bist wie alle anderen auf den unwiderstehlichen Maestro scharf und wartest nur auf die passende Gelegenheit, um deinen Anspruch geltend zu machen?
Ich gab mir einen Ruck und richtete ein paar freundliche Worte an Samantha: „Hi, freut mich. Ein herrlicher Morgenmantel. Ein Geschenk?“ Mein Entgegenkommen bewirkte bei Samantha einen sichtbaren Stimmungswechsel.
„Willst du den Stoff fühlen? Sven hat den besten Geschmack in …“ Sie schien zu überlegen, welches Preisschildchen am besten geeignet war, Svens einzigartigem Geschmack gerecht zu werden. War er nun der beste in der Welt oder gar im ganzen Universum? Sie entschied sich für das schlichte „weit und breit“ und brachte ihren Satz mit einem zufriedenen Seufzer zu Ende. Oje, eigentlich stand es mir gar nicht zu, mich über die Überschwänglichkeit anderer Frauen zu mokieren, wenn es dabei um Sven und seine Talente ging. Wie gesagt, ich selbst hielt ihn schlicht und einfach für ein Genie.
Ich betastete anerkennend den mir hingehaltenen rosa Seidenzipfel. Er fühlte sich an, wie er aussah: eine sanfte Liebkosung, die dazu gedacht war, die Haut der Geliebten zu umschmeicheln, um sie auf die streichelnde Hand des Spenders einzustimmen. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, was sich kurz vor meiner Ankunft abgespielt und Sven davon abgehalten hatte, zur Tür zu eilen, als ich an der Schwelle des Paradieses Sturm geklingelt hatte. Ich lächelte tapfer weiter und lobte die Farbe, die Beschaffenheit des Stoffes und die Geschmeidigkeit der Seide insgesamt. Ich hätte noch lange nicht damit aufgehört, wenn Sven meinem Redeschwall kein Ende bereitet hätte. Ihm war meine Verlegenheit keinesfalls entgangen, aber er tippte anscheinend auf allgemeine Scheu vor erotischen Manifestationen oder nur vor einer Andeutung, die auf derartige Dinge hinauslief. Er hielt mich nämlich für etwas prüde und hatte wahrscheinlich Recht damit.
„Ist ja schon gut, Mandy. Jetzt hast du meinem berüchtigten Geschmack genug Lob gespendet und darfst nun meinen Wein würdigen.“ Ich lehnte dankend ab und erklärte, ich müsse einen klaren Kopf bewahren, da ich heute noch einiges aufzuarbeiten hätte.
„Verstehe. Du gehst mit dem dir eigenen Eifer an die Sache ran. Sehr lobenswert, ich bin stolz auf dich! Wie war denn dein erster Tag? War bestimmt aufregend.“
Und ob! Aber mir war mittlerweile die Lust vergangen, ihm zu verraten, wie aufregend es tatsächlich war. Noch weniger Lust verspürte ich dazu, Svens Besuch mit meiner abenteuerlichen Geschichte über eine verschneite Leiche und einen mürrischen Polizisten zu unterhalten, weil ich im Voraus wusste, dass ich kaum die Geduld dazu aufbringen würde, zwischendurch mehrere ausgedehnte Pausen einzulegen, damit die Dame in Rosa ihre „Oh-wieschrecklich-Rufe“ loswerden konnte. Meiner Einschätzung nach gehörte Samantha zu den Frauen, die sich sogar auf Kosten einer Leiche bestens zu profilieren wussten. Je aufregender eine Geschichte war, desto mehr Spielraum bot sie für spitze, affektierte Schreie, die angeblich überwältigende Bestürzung und Entsetzen preisgaben, in Wirklichkeit aber keinem anderen Zweck dienten als den egomanischen Drang der „überwältigten“ Dame zu bedienen. Ich wollte gar nicht so genau wissen, ob ich mit meiner Profildiagnose richtig lag, denn es war nicht auszuschließen, dass ich aus sehr persönlichen Gründen außerstande war, Svens Geliebte gerecht zu beurteilen. Wenn meine Voreingenommenheit tatsächlich mein Urteilsvermögen getrübt haben sollte, so konnte ich vorübergehend nicht auf meinen Instinkt vertrauen und es war müßig, mich zur Objektivität zu ermahnen. Mit diesem Zugeständnis glaubte ich der Fairness im angemessenen Ausmaß gehuldigt zu haben und schob die Suche nach der versteckten Wahrheit auf einen späteren Zeitpunkt auf. Im Moment hatte ich andere Sorgen als mein eigenes Gewissen zu erforschen und Samanthas Charakterfassetten unter die Lupe zu nehmen. Ich suchte nach einem Vorwand, um mich von dem Gastgeber zu verabschieden und rutschte unbehaglich auf dem Stuhl hin und her. Sven betrachtete mich mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck und wiederholte seine Frage: „Na, sag schon, wie war dein Tag? Hattest du Erfolg mit deinem Debüt?“
„Es ist, sagen wir mal, nicht ganz nach Plan gelaufen. Ich will euch aber mit Details verschonen. Wir werden noch später Gelegenheit haben, darüber zu plaudern. Ich muss jetzt weiter. Wollte nur sehen, wie es dir geht. Und jetzt habe ich es gesehen: Dir geht es gut.“ Ich hielt ein breites Lächeln aufrecht, doch es drohte jeden Augenblick zu verrutschen. Ich stand eilig und geschäftig auf, wie man halt aufstand, wenn man dem Gastgeber signalisieren wollte, dass man es ernst damit meinte und er sich die Mühe sparen durfte, einen aufzuhalten.
Sven stand ebenfalls auf und schaute etwas irritiert von mir zu Samantha. Der Schatten, der nun sein Gesicht umwölkte, hätte glatt als ein Zeichen aufrichtiger Enttäuschung durchkommen können. War er wirklich darüber enttäuscht, dass ich schon gehen wollte? Ich bildete mir sogar ein, er hätte ein paar Augenblicke gegen die Versuchung angekämpft, Samantha statt meiner hinauszubegleiten: Der Blick, mit dem er seine Geliebte bedacht hatte, war für meine Begriffe eine Spur zu kühl. Das war aber ganz und gar unmöglich, denn es war Samantha, die bei diesem seltsam anmutenden Blickwechsel erleichtert aufatmete. Ihr wollte es offensichtlich nicht gelingen, die Freude über meine Eile zu verbergen. Zum Abschied schenkte sie mir ihr erstes aufrichtiges Lächeln.
Erst draußen konnte ich wieder tief durchatmen. Ich war weg aus seiner Sichtweite, und das war gut so. Svens Fenster gingen auf den Park hinaus. Wenn er jetzt zufällig am Fenster stand, so schaute er in eine andere Richtung, genoss einen schönen Ausblick voller Raum und Licht, und sein Blick wanderte über die Gipfel verschneiter Tannen, dachte ich sehnsüchtig. Je mehr ich mich von seinem Haus entfernte, desto wehmütiger wurde ich, desto einsamer und trostbedürftiger.
Als ich in die Straße einbog, die zur Praxis führte, gelang es mir nur mit Mühe und Not, die aufgestauten Tränen zurückzuhalten.
Wer blieb als Projektionsfläche für meinen Groll übrig? Etwa Sven? Der Mann, der in seinen eigenen Wänden dem legitimen Wunsch nachging, die Frau seiner Wahl in eine rosa Wolke zu wickeln, und nicht einmal ahnte, dass eine andere, wohlgemerkt, erwachsene Frau den Tag herbeisehnte, an dem ihre fatale Wickel-Geschichte ein für allemal im Archiv landete? Wohl kaum. Ich meinte, ich hatte ihm kaum etwas vorzuwerfen, wenn ich Wert darauf legte, ihm gegenüber Gerechtigkeit walten zu lassen. Und das tat ich ganz gewiss. Mir blieb also nichts anderes übrig als traurig zu sein, ohne jemanden dafür verantwortlich zu machen.
Dies war der Stand der Dinge, als ich endlich die Praxis erreicht hatte. Die nächste Wendung meiner Geschichte ließe sich meines Erachtens am besten dadurch erklären, dass ich zu diesem Zeitpunkt immer noch einen starken Wunsch verspürte, mich jemandem mitzuteilen. Es sollte jemand sein, der mir aufrichtiges Interesse entgegenbrachte und mir mit Nachdruck versicherte: Mandy Pat, ich bin ganz Ohr!
Mein Wunsch ging noch am selben Abend in Erfüllung, denn am Tor der Praxis traf ich auf jemanden, der, wie es sich später herausstellen sollte, über ein sehr empfängliches Ohr verfügte und es gerade bei meiner Ankunft aus einer karierten Mütze herausholte. „Ist doch noch wärmer geworden“, sagte der Mann grinsend und steckte die Mütze in seine Aktentasche. Ich griff in den Briefkasten, während er neugierig meine Bewegungen beobachtete. Ein Schaulustiger, dachte ich mir. Jemand, der um den Ort des Geschehens herumschlenderte, weil er wusste, dass sich hier erst gestern ein Drama abgespielt hatte. Ich nickte ihm freundlich zu. Man konnte den Leuten ihre Sensationslust kaum übel nehmen, denn hier in der ruhigen Gegend geschah sonst kaum etwas Aufregendes.
„Sie arbeiten hier“, stellte er fest, als ich ein paar Reklameprospekte und etliche Briefe in meine Tasche schaufelte. Ich nickte wieder stumm und schickte mich an, kehrtzumachen.
„Dann wissen Sie bestimmt, was sich hier gestern abgespielt hat?“
Ich nickte jetzt bereits zum dritten Mal, denn es war mir, trotz allgemeiner Redelust, nicht nach Smalltalk zumute. Ich setzte ein Lächeln auf, doch ich wusste - dicht darunter lag ein matschnasses Jammertal. Ein Wort, und es wäre um meine Selbstbeherrschung geschehen. Der Fremde ließ aber nicht locker: „Einen Augenblick noch. Ich will Sie ja keinesfalls belästigen … Reiner Stauch, mein Name. Sind Sie die Heilpraktikerin? Frau Fox?“
Jetzt musste ich doch einen Laut von mir geben, denn alles andere wäre höchst unhöflich gewesen: „Ja und nein. Sie meinen wohl eher meine Mutter. Ihr und Doktor Brigg gehört die Praxis. Und ja, weil ich ebenso Fox heiße und dabei bin, bei den beiden einzusteigen.“
„Die Praxis ist für eine Woche geschlossen, steht hier. Heißt das, dass das Telefon nicht besetzt ist und keine Termine vergeben werden?“ War das etwa ein potenzieller Patient? Ich schaltete sofort auf zuvorkommend. „Sind Sie etwa an einem Termin interessiert?“, fragte ich freundlich.
Er zögerte einen winzigen Augenblick und nickte. „Ich hatte tatsächlich vor, Ihre Praxis aufzusuchen, weil sie mir von einem Bekannten empfohlen worden ist. Er meinte, mit Magengeschwüren wäre nicht zu spaßen. Sie wollen doch als Heilpraktikerin einsteigen?“
Ich nickte, damit er vor mir sein Magengeschwür ohne Scheu offen legen konnte. Vielleicht sollte man in einem akuten Fall eine Ausnahme machen und einen Notfalltermin vergeben, bevor der Mann sein Geschwür zur Konkurrenz trug? Man konnte schließlich ein Geschwür nicht mit Formalitäten hinhalten, wenn es vielleicht kurz vor dem Ausbruch stand.
„Waren Sie schon beim Arzt? Hat man Sie bereits untersucht und ein Magengeschwür festgestellt?“, forschte ich nach und trat von einem Fuß auf den anderen, denn ich bekam im Matsch, den ich mit meinen dünnen Sohlen stampfte, kalte Füße.
„Ich bitte tausendmal um Vergebung! Es ist hier gewiss nicht der richtige Ort, um mein Geschwür zu ‚sezieren’. Sie holen sich durch meine Unbesonnenheit noch eine Erkältung. Lassen Sie sich von mir zu einem Drink einladen. Gewiss nicht um meines Magengeschwürs willen, sondern zum Aufwärmen. Da gibt es einen Italiener gleich um die Ecke. Aber wem sage ich das? Sie kennen sich in der Gegend hier bestimmt besser aus. Wollen wir? Bitte.“
Sein Lächeln war nett, sein sommersprossiges Gesicht machte einen intelligenten und keineswegs gefährlichen Eindruck. Er hatte offensichtlich Humor, nur seine Art zu reden schien einer anderen Generation anzugehören. Wie er sich wegen seiner „Unbesonnenheit“ eben entschuldigt hatte, klang eher nach Papa. Dabei durfte er kaum zehn Jahre älter sein als ich. Ich hatte keine besondere Lust, mitzugehen, war aber auch nicht abgeneigt, meiner aufgerauten Kehle einen Wein zu gönnen. Ein wenig Ablenkung durfte mir gut tun, nachdem ich den von Sven angebotenen edlen Schluck verschmäht hatte. Sven! An ihn sollte ich im Augenblick am wenigsten denken, denn schon allein der Klang seines Namens beschwor beunruhigende Bilder herauf. Wenn man einen Wind in ein leeres Haus hineinließ … Fenster schließen, Riegel vorschieben, Schleusen hochziehen! Und sich von einem anderen Mann zu einem Drink einladen lassen. Was war schon dabei, sich zu einem Drink einladen zu lassen, vorausgesetzt, man tat es einem Magengeschwür zuliebe, um seinen „Träger“ für die Praxis zu werben? Den Termin würden wir dann gleich beim Italiener ausmachen. Mutter würde sich darum kümmern, denn Magengeschwüre waren für mich noch eine Nummer zu groß.
So kam es, dass ich mich von der Straße weg zu einem Drink verschleppen ließ, was sonst nicht meine Art war. Es gab nämlich auch für die prallsten Geschwüre einen Anrufbeantworter in der leeren Praxis. Notfalls war auch die Privatnummer meiner Mutter zu vergeben, nur galten diese Möglichkeiten bei der angebrochenen Dämmerung nicht mehr, weil es wieder anfing zu schneien. Und weil ich vielleicht doch eine Ablenkung nötig hatte.
Bei dem Italiener um die Ecke war ziemlich viel los. Wir fanden doch noch einen Tisch am Fenster, denn jemand war gerade dabei zu zahlen. Wir warteten nicht, bis der Tisch abgeräumt wurde, sondern ließen uns nieder, bevor uns das Paar, das gleich hinter uns eingetreten war, zuvorkam. Der Sieg im Wettstreit um den Tisch war ein mickriges Erfolgserlebnis, doch es war auch der einzige Erfolg, den ich heute zu verbuchen hatte, deshalb hellte er mir zu meiner eigenen Belustigung etwas die Stimmung auf. Mein Begleiter half mir aus dem Mantel und rückte mir den Stuhl zurecht. Der Mann war ein echter Kavalier. Ich bestellte mir einen halbtrockenen Rotwein. Halt, meinte er, zuerst kommt ein Kognak. Über so viel geschwürunfreundlichen Leichtsinn konnte ich als angehende Heilpraktikerin nicht hinwegsehen. Ich wollte ja kein Spielverderber sein, und das zu schonende Geschwür war auch noch nicht in unserer Behandlung, aber ich brachte es nicht über mich, schweigend zuzusehen, wie jemand vor meinen Augen seinen kranken Magen malträtierte, und hob mahnend den Finger. Mein Gegenüber lachte vergnügt, als fände er meine Mahnung unheimlich erheiternd.
„Das ist ja das Schönste an meinem Geschwür: Es lässt sich nicht aufspüren, um auf Ihre Frage von vorhin zurückzukommen. Ich ließ nach dem Ding fahnden, aber der gute Doktor konnte keine Spur davon entdecken. Obwohl ich genau weiß, dass mein Magen ein düsteres Geheimnis birgt, soll ich mich mit der obskuren Erklärung der Schulmedizin zufrieden geben, der Tumult in meinem Verdauungstrakt sei rein psychosomatisch bedingt. Dieses Etwas, das mich zu Ihrer Praxis getrieben hat, genießt also den Status eines Phantomgeschwürs. Und solange es sich so bedeckt hält und sich nicht identifizieren lässt, strafe ich es meinerseits mit Rücksichtslosigkeit. Ich lass mir doch nicht von einem Phantom den Genuss am Leben versauen. Ich ignoriere es und verleugne es, bis es zur Kooperation bereit ist und sich von Ihnen entdecken lässt.“
Darüber konnte ich nur staunen. Wie konnte man den Verdacht auf ein Geschwür so leichtfertig verdrängen? Und das nur, weil es einem gerade nach einem Kognak zumute war? Das war ganz gewiss ein Fall für meine Mutter, während die Verleugnungsmechanismen, besonders wenn sie so raffiniert verpackt waren wie dieses „Phantomgeschwür“, eindeutig in Tonys Bereich gehörten.
„Ich sehe, Sie sind eine sehr strenge Therapeutin. Da muss man sich noch gehörig austoben, bevor man sich in Ihre Hände begibt. Schauen Sie nicht so vorwurfsvoll! Ich mache zwar ungern Zugeständnisse, aber ich werde meine Gewohnheiten ganz gewiss ändern, wenn man mich von der Notwendigkeit dieses Opfers überzeugt. Ich lasse mich brav untersuchen, überzeugen und beugen. Ohne mich dagegen zu sträuben, weil sich das so schön reimt. Deshalb sollten Sie mich nicht voreilig als einen unzuverlässigen Menschen einstufen oder mich gar im Vorfeld als Patienten ablehnen. Das haben Sie doch nicht vor, oder?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Keine Sorge, wir kriegen den Bösewicht. Ich meine, das Phantomgeschwür. So wie Sie gerade geschaut haben, müssen Sie bestimmt an einen anderen Bösewicht gedacht haben. Es war sicher ein großer Schock für Sie alle, eine Leiche vor der Tür vorzufinden. Wer von Ihnen hat sie denn entdeckt?“
„Ich“, antwortete ich schlicht, ohne jegliche Dramatik. Die Welt, in der raue Winde auf ausgesetzte Leichen matschnassen Schnee fegten, war zweifellos immer noch vorhanden, doch wenn mir jemand glaubhaft versichert hätte, dieses Stück Wirklichkeit habe sich auf Nimmerwiedersehen auf einen anderen Planeten verzogen, hätte mich das kaum in Erstaunen versetzt. Die lustigen Lämpchen, die Bilder mit den sonnigen Landschaften an den altrosafarbenen Wänden, das gedämpfte Gelächter der Gäste und die italienisch angehauchten Stimmen der herumflitzenden Kellner waren dagegen real und gehörten zum Hier und Jetzt. Der Winter war auf eine wundersame Weise ausgesperrt. Draußen, hinter der Fensterscheibe schneite es auf Bäume, Häuser und die lautlos vorbeihuschenden Menschen. Es schneite, wie es in einer Glaskugel schneit, wenn man sie kräftig schüttelt. Es schneite zum Spaß und weil es so schön war zuzusehen, wie die Welt in Zuckerwatte verpackt wurde.
Ich lehnte mich genüsslich zurück, nippte an meinem Wein und packte unter dem Eindruck vorübergehender Gravitationsverschiebung mein ganzes Gedankengut aus: Fakten, Theorien, Vermutungen … Als das Leichen-Thema völlig ausgeschöpft war, verspürte ich den Drang, mein Gegenüber über die verborgenen Ecken und Kanten meiner heiß geliebten Homöopathie aufzuklären: „Es kursieren zwei irrtümliche Theorien in Bezug auf die Homöopathie. Erstens wird behauptet, ein homöopathisches Mittel kann angeblich gar nichts bewirken, weil der Wirkstoff so stark verdünnt wurde, dass das Heilmittel kaum noch ein Molekül davon enthält. Man denkt dabei insbesondere an die Hochpotenzen. Oder es heißt, Homöopathie könne unmöglich Schaden anrichten. Aus dem gleichen Grund. Beide Annahmen sind völlig falsch. Es ist die Schwingung, die in diesem Fall „das Kraut fett macht“. Und was die Ungefährlichkeit einer Fehldiagnose betrifft, da kann unsereiner ein Lied davon singen. Wenn Sie mal Pech haben und bei der Wahl des Mittels danebengreifen, so ist davon auszugehen, dass Ihr ‚falsch gewickelter’ Patient prompt ein paar neu erworbene Symptome zu beklagen hat. Infolge Ihrer Fehldiagnose! Angenommen, Sie haben sich als Laie an eine Selbstbehandlung herangewagt und Ihre Depression fälschlicherweise dem Mittel „Thuja“ zugeordnet, so haben sie bald keine Lust mehr, morgens aus dem Bett zu krabbeln. Das heißt, Sie werden sich in diesem speziellen Fall genau die Symptome einhandeln, die das „Thuja-Bild“ ausmachen. Ich habe mal bei einem sehr achtbaren Homöopathen der alten Schule - im ‚Stauffer’ - über einen Selbstversuch gelesen, der einem das ganze Ausmaß des Übels vor Augen führt. Er hat zur Prüfung des Mittels zweimal am Tag je 5 Tropfen Thuja D 30 eingenommen. Schon am zweiten Abend stellte sich Herzklopfen ein. Am nächsten Morgen war er ungewohnt gereizt und ungeduldig. Dann wurde er zunehmend depressiv und quälte sich durch unruhige Nächte, in denen ihn die schlimmsten Erinnerungen seines Lebens heimsuchten. Dazu gesellten sich Frostschauer, eiskalte Füße, Nachtschweiß und eine Warze. Soll ich fortfahren?“
Mein Gegenüber schüttelte entschieden den Kopf. Nein?
Oh, dann brauchte er gar nicht zu wissen, dass ich dieses Experiment nachgemacht hatte! Diese Erinnerung ließ mir bis heute noch Schauer über den Rücken laufen: Meine „Thuja-Tage“ waren nämlich sehr dramatisch verlaufen. Ich war unausgeglichen, unausstehlich und hatte mich todunglücklich gefühlt. Ich hatte mir bis auf die Warze sozusagen die volle „Thuja-Packung“ geholt. Oh ja, ich war heilfroh, mir bei meinem Experiment keine Warze eingehandelt zu haben!
Ich seufzte erleichtert und hatte gerade vor, meinem Gegenüber trotz bester Vorsätze den Grund meiner Erleichterung mitzuteilen, da fuhr mir ein höchst beunruhigender Gedanke durch den Kopf und hielt mich zum Glück davon ab. Ich fragte mich stattdessen, ob es überhaupt ratsam sei, dieses hochinteressante Thema weiterzuverfolgen. Wir wollten den guten Mann doch nicht vollkommen verschrecken! Woher sollte er denn wissen, dass meine Mutter ein absoluter Profi war? Wenn ich ihm mit meiner Schwarzmalerei einmal einen Floh ins Ohr gesetzt hatte, so war zu befürchten, dass er seiner zukünftigen Therapeutin von vornherein unterstellte, ihr könne gelegentlich ein verhängnisvoller Fehler unterlaufen. Er brauchte sich bloß vorzustellen, dass ihm jemand eine Tablette verpasste, die an seinem Phantomgeschwür vorbei sein Allerheiligstes - seine Männlichkeit - angriff. Eine schaurige Vorstellung!
Ich schaute auf die Uhr. Es war höchste Zeit aufzubrechen.
„Sie sind ein guter Zuhörer“, lobte ich ihn.
„Es war auch höchst interessant, was Sie mir da über die Schattenseiten Ihres Gebiets erzählt haben“, meinte er galant. Die Bezeichnung „Schattenseiten“ behagte mir nicht so ganz, und ich wollte schon etwas dagegen einwenden, aber der Ober war gerade in Reichweite, und wir verlangten die Rechnung.
Ich wurde mit einem Taxi nach Hause gebracht und musste nur wenige Schritte bis zur Haustür bewältigen. Zugegeben, mein Gang war etwas schwankend, aber ansonsten ging es mir immer noch prächtig.
Erst beim Einschlummern fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, mit dem neuen Patienten einen Termin auszumachen. Er würde bestimmt in der Praxis anrufen, beruhigte ich mich. Der Mann war ernsthaft an der Homöopathie interessiert. So wie der mir bei meinen Ausführungen zugehört hatte! Ich schlief mit dem festen Glauben ein, das „Magengeschwür“ für die Praxis gewonnen zu haben.