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Ein Wiegenlied für eine Leiche

Ich behielt Recht: Diese Nacht sollte mir keinen erholsamen Schlaf bescheren. Kaum war ich eingeschlummert, wurde ich an einen finsteren Ort verschleppt. Ich wusste doch, dass der Spuk nur untergetaucht war, um mir irgendwo in einer tristen Landschaft wieder zu begegnen.

Sven, der Mann, den ich heimlich liebte, seitdem ich aus meiner Wiege herausgekrabbelt war, stand mit benebelten Augen da und wiegte ein großes Etwas. Seine Aufmerksamkeit war nicht auf mich gerichtet, sondern auf die Person, der er auch noch hingebungsvoll eine gedehnte, wehmütige Melodie vorsang. Ich näherte mich dem Duo und hoffte, seine zart Umsorgte hässlich und abstoßend zu finden. Es war wieder mal ein weibliches Wesen, das er wie ein krankes Baby umhegte. Langes blondes Haar hing wie bei Rapunzel in feuchten Strähnen bis auf den Boden.

„Warum ist ihr Haar nass?“, fragte ich.

„Es ist gut so. Jetzt wird sie endlich warm, denn ihr Haar taut auf. Es war voller Schnee, sie musste im Schnee liegen. Die Arme.“ Na, bravo, dachte ich mir. Seine Anteilnahme galt wieder mal einer anderen.

„Wieso ließest du sie im Schnee liegen?“, erkundigte ich mich, obwohl es mir eigentlich recht war. Wenn er auf sie gut aufgepasst hätte, müsste er sie jetzt nicht wie einen verschneiten Pudel auftauen.

„Ich doch nicht! Es war jemand anders, der sie bei Wind und Schnee ausgesetzt hat. Deshalb singe ich jetzt für sie. Das wird sie hoffentlich trösten“

„Was singst du denn?“, wollte ich wissen. Ich entspannte mich und war sichtlich erleichtert. Sie gehört also nicht zu ihm. Er wärmt sie aus Nächstenliebe. Und sein Singsang ist nur ein harmloser Freundschaftsdienst.

„Ein Wiegenlied. Ich tu es für dich. Ich singe ein Wiegenlied für deine Leiche.“

Er drehte ihr bleiches Gesicht zu mir herüber, und ich erkannte sie.

„Nein!!!“, schrie ich. „Nein, es ist nicht meine Leiche.“

Ich muss lange und laut geschrien haben, denn als nächstes blinzelte ich in ein viel zu grelles Licht, in dessen Schein ich zu meiner Erleichterung das Gesicht meiner Mutter erblickte.

Meine Mutter hatte anscheinend schon eine Weile auf mich eingeredet, denn ich sah, wie ihre Lippen sich bewegten. Es war wie in einem Stummfilm. Es vergingen ein paar Sekunden, bis ich sie wieder hören konnte.

„Kindchen! Liebes!“, jammerte sie und hatte feuchte Augen. Endlich hatte auch mit mir jemand Mitgefühl! Es tat unendlich gut, ihre tröstende Stimme zu hören. Wenn ich nicht so ein großer Mensch wäre, hätte sie mich glatt hochgehoben, mich gewiegt und mir vorgesungen, so besorgt und aufgelöst wirkte sie.

„Du hast was Schlimmes geträumt. Geht's wieder?“

Ich nickte und versicherte ihr, dass ich vollkommen in Ordnung sei. Ein böser Traum, nichts weiter. Aber wie böse!

„Du hast so laut geschrien, da kam ich hergeeilt“, erklärte sie mir überflüssigerweise.

„Es tut mir so leid. Hoffentlich kannst du wieder einschlafen. Es war auch für dich ein schwerer Tag“, sagte ich entschuldigend.

„Es muss dir nicht leid tun. Du kannst doch nichts dafür. Aber mir tut es umso mehr leid.“ Was meinte sie wohl? Und warum blickte sie so schuldbewusst, so zerknirscht?

„Gestern Nacht, als ich noch in die Praxis zurückmusste, weil ich die Akte von der ‚Pulsatilla‘ vergessen hatte, bin ich gestolpert, gegen den Spiegel gestoßen und … Kurz und gut, der Spiegel fiel runter und ist zerbrochen. Ich ließ aber die Scherben im Bad liegen. Ich hatte vergessen, es zu erwähnen.“

„Das macht doch nichts, Mama. Ich kam nicht einmal dazu, sie zu entdecken. Du weißt ja, wie der Tag verlaufen ist. Wenn ich wieder da bin, kehre ich sie zusammen. Versprochen. Hauptsache, du hast dich nicht verletzt. Ein zerbrochener Spiegel ist jetzt wohl das kleinste Übel, nachdem das passiert ist …“

Ich schaute zur Uhr. Es war zwei Uhr morgens. Und die Mama verzehrte sich wegen ein paar Scherben. Ob sie wohl Fieber hatte? Sie schaute immer noch so mitgenommen aus. Und immer noch schuldbewusst.

„Gott sei Dank habe ich es unterlassen, die Scherben zusammenzukehren. Wenn ich es getan hätte, könnte ich es mir nie verzeihen.“

Oh doch, Mutter war eindeutig krank. Sie phantasierte, aber ihr Blick war klar …

„Du weißt doch, was Doris immer sagt? Wenn ein Spiegel zerbricht, soll man die Scherben sieben Stunden lang liegen lassen. Dann kommt man mit sieben Stunden Pech davon. Räumt man sie gleich weg, so hat man sieben Jahre Pech zu erdulden. Es war elf Uhr abends, als der Spiegel zerbrochen ist. Die Frau soll um sechs Uhr morgens umgebracht worden sein. Wohl doch etwas eher, denn um sechs Uhr morgens war die Pechfrist bereits abgelaufen, man muss sie kurz vor sechs in unserem Hof deponiert haben. Da war es noch dunkel genug, um eine Leiche unbemerkt umher zu schleppen. Wie auch immer, der Spuk ist vorbei. Seine Zeit ist um. Du wirst sehen, es wird sich alles aufklären.“

Mein Gott! Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Meine Mutter war nicht gerade dafür bekannt, eine abergläubische Person zu sein. Im Gegensatz zu Doris. Allys Mutter Doris war die Mystikerin in unserer Runde. Ally war übrigens die beste Freundin meiner Mutter, die beiden waren schon befreundet, bevor ich das Licht der Welt erblickt hatte. Außerdem war Ally Brigg die Ehefrau von Dr. Antony Brigg und die Mutter von Sven, den ich heimlich liebte. So klein und geschlossen war unsere Welt.

Mein Blick muss Bände gesprochen haben, denn sie hielt inne und meinte etwas beschämt: „Amanda, guck nicht so! Ich bin nicht verrückt. Und normalerweise bin ich gar nicht abergläubisch. Nur … ich frage mich: Wieso ist uns so etwas passiert? Vielleicht gibt es für solche Dinge keine Erklärung, und man sollte nicht dauernd nach einem Sinn suchen, wo keiner zu finden ist. Die arme Frau, die man vor unserem Häuschen gefunden hat, kann nichts dafür, dass man sie uns untergeschoben hat. Die hat es ja noch viel härter getroffen. Sie ist ja diejenige, die tot ist. Wir sollten aufhören, uns in dieser eigensüchtigen Weise selbst zu bemitleiden. Wir sind ja schließlich quicklebendig, nur ein wenig schockiert und mitgenommen. Darauf sollten wir uns konzentrieren. Wir müssen für die arme Frau hoffen, dass ihr Mörder gefasst wird und dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Warum sie ausgerechnet bei uns gelandet ist, sollte uns am wenigstens beschäftigen. Selbstverständlich bist du enttäuscht. Und erschreckt. Und du denkst gewiss, ein böses Omen hängt über deinem beruflichen Anfang. Aber so etwas darfst du nicht denken. Wenn jemand ein Pechvogel ist, dann bin ich es. Und ein Tollpatsch zugleich.“

Ich nickte und gab mir Mühe, ein halbwegs überzeugendes Lächeln zustande zu bringen. Sie seufzte und wünschte mir mit etwas zittriger Stimme angenehme Träume. Schlaf gut, Mama!

Ich brauchte dringend meinen Schlaf. Ruhigen, erholsamen Schlaf. Deshalb entschied ich mich doch noch für die verschmähte Tablette und schlief bis zum Morgen durch.

Maestro sieht blau

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