Читать книгу Einen Verlängerten bitte - Elisa Herzog - Страница 10
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ОглавлениеUrquhart Hall lag malerisch in der Sonne, aber Sue fühlte sich trotzdem, als wären sie auf dem Weg zum Schafott. Dabei war es lediglich die Clanmutter, der sie Reverenz erweisen mussten. Tessa hatte ihre Söhne und die nichtsnutzige Tochter (inklusive Schwiegertöchter) im eisernen Griff, während Aubrey, das Geburtstagskind, ein herzensguter Vater war, der keinem Kind etwas abschlagen konnte. Mit seiner Tochter Emma hielt er es immer noch so: Ohne seine monatlichen Schecks hätte sich die Gute in Ermangelung einer Ausbildung bei Tesco an die Kasse setzen müssen.
Philipp stocherte zielsicher immer weiter in den Wunden seiner Familie. „Da hat wirklich einer geschossen?“, fragte er jetzt zum mindestens fünften Mal.
„Ja, und jetzt halt endlich die Klappe, du Opfer, sonst ruf ich den Täter an und geb ihm den Auftrag, dich zu killen. Und er wird nicht vorbei schießen.“ Amy klang wütend.
„Aber es ist doch nichts passiert“, war sein Einwand. In seinem Alter zählten Konjunktive noch nicht. Ein paar Zentimeter daneben? Na und!
„Philipp“, sagte Sue und legte ihrem Sohn die Hand auf die Schulter, „wir sprechen nicht weiter darüber, okay?“
„Und wenn Oma mich fragt?“
„Dann haust du am besten ab.“
„Immerhin sind wir pünktlich“, sagte Terence.
Das bedeutete ein Minenfeld weniger, das sie durchqueren mussten.
Als Tessa ihrer ansichtig wurde, gefror ihre Miene zu einem eisigen Lächeln. „Terence!!!! Philipp, mein Süßer!!!! Amy! Sue.“
Ihre Begeisterungskurve sackte zum Ende der Namensnennung merklich ab, aber das hatte Sue auch nicht anders erwartet.
Aubrey hingegen freute sich aufrichtig, sie zu sehen. Der Jubilar drückte Amy fest an sich und umarmte Sue, nachdem sie ihm die Torte überreicht hatte.
„Du bist die Einzige, die nicht eine Standby-Leitung zu meinem Hausarzt hat“, sagte er und konnte sich nicht beherrschen, einen Finger in die Cremeverzierung zu stecken. „Ich hoffe, darin versteckt sich keine Rohkost.“
Tessa rollte entnervt mit den Augen. „Dass du in deinem Alter noch so unvernünftig bist“, rügte sie ihren Mann. „Und du“, sagte sie zu Sue, „solltest deinen Verstand einschalten. Du weißt ganz genau, dass das für ihn nicht gesund ist.“
„Gerade in seinem Alter sollte er tun und lassen können, was er will“, mischte sich Aubreys Bruder Selwyn ein. Der 78-Jährige war ein rotes Tuch für Tessa, fast noch schlimmer als Sue, denn er scherte sich um nichts – weder um Konventionen noch um seinen Ruf.
„Macht, was ihr wollt“, beendete Tessa die Diskussion. „Ich muss zusehen, dass ich Mr Rossi finde. Er hat mir ein unvergessliches Buffet versprochen, und jetzt fehlt immer noch die Hälfte. Dabei war doch alles genauestens besprochen. Ich hätte doch bei Buckley bleiben sollen.“
Bevor sich ihre Schwiegermutter abwandte, konnte Sue sich nicht verkneifen zu fragen: „Wo ist Alistair?“
Alistair war Terences älterer Bruder und Tessas einziges Kind, das nicht zum Sorgenkind mutiert war. Terence hatte den Fehler begangen, statt eines Mädchens mit einem albernen Doppelnamen sie zu heiraten, und Emma, seine jüngere Schwester, hatte eine tiefsitzende Allergie gegen alles Beständige, seien es Jobs oder Beziehungen. Sie war Mitte dreißig und flatterte als routiniertes und mittlerweile alterndes Society Girl durch die Gesellschaft Londons. Alistair hingegen war so trocken wie ein drei Tage altes englisches Weißbrot und arbeitete als Archivar im British Museum. Er war selbstverständlich mit einer Dame mit Doppelnamen verheiratet (Helen Trent-Basingstoke) und hatte mit ihr eine Nachkommenschaft hervorgebracht, die aussah wie vergessene Artefakte aus seinem Museum. Das war gemein, aber es stimmte. Es waren Kinder mit tiefliegenden, fast unheimlichen Augen und einem Teint, der anscheinend noch nie Tageslicht gesehen hatte.
„Der ist noch nicht da“, sagte Aubrey arglos, woraufhin Tessa schnaubte.
Es war aber auch unangenehm, wenn ausgerechnet Mamas Liebling an solch einem Tag das familiäre Glückwunsch-Defilee verpasste.
„Alles Gute zum Geburtstag, Vater“, sagte Terence und überreichte Aubrey das Geschenk.
„Du siehst wieder hinreißend aus“, flüsterte Selwyn in Sues Ohr.
„Du brillanter Lügner“, flüsterte Sue zurück. „Aber trotzdem danke. Das sind die ersten netten Worte, die ich heute höre.“
„Die Schießerei“, nickte er verständnisvoll. „Unangenehme Sache für so ein junges Mädchen. Wie nimmt sie es auf?“
Wie nimmt sie es auf? Mehr Understatement ging wohl nicht.
„Sie spricht natürlich nicht darüber“, sagte Sue. „Aber natürlich ist sie traumatisiert.“
Selwyn runzelte die Stirn. „Traumatisiert? Also ich glaube nicht an diesen Unsinn. Wenn sie Pech hat, ist dies das Aufregendste, das je in ihrem Leben passieren wird. Damals in Shanghai, da kam das mehrmals täglich vor. Im Mandarin Club ...“ Seine Augen blitzten vor Freude.
„Ist gut Selwyn“, unterbrach ihn Sue. „Du warst ein stattlicher junger Mann.“
Selwyn nickte.
„Ein Abenteurer.“
Selwyn nickte wieder und lächelte.
„Amy hingegen ist ein behütetes Mädchen.“
Selwyn schüttelte den Kopf. „Das mag sein, aber brauchen wir nicht alle ein bisschen Aufregung?“
Tessas schneidend kühle Stimme drang zu ihnen vor. Beide sahen zu ihr hin, wie sie gerade ein paar Kellner im Garten hin und her scheuchte.
„Sogar Tessa regt sich gerne auf, wenn auch künstlich“, ergänzte er. „Ignoriere sie einfach. Ich praktiziere das, seitdem ich sie kenne und fahre wunderbar damit.“
Sue sah ihn skeptisch an.
„Vielleicht habe ich etwas, das dich aufmuntert“, sagte er verschwörerisch.
Sue ahnte Schlimmes. Selwyn hatte im Dienste der englischen Krone einen Großteil seines Lebens als hoher Diplomat in Südostasien verbracht. Besonders angetan hatten es ihm die erotischen Kulturgüter dieser Region, und er besaß die wohl beeindruckendste Sammlung von Lingams westlich des Ganges.
Sie hob die Augenbrauen, was Selwyn als Interesse deutete.
„Ich habe ein neues wunderbares Stück in meiner Sammlung.“ Seine Stimme wurde schwärmerisch. „Es ist oben, ich könnte es dir zeigen.“
„Das freut mich für dich“, sagte Sue schnell. „Aber ich glaube, ich muss jetzt nach Amy sehen.“
„Ich glaube nicht, dass du sie hier vor schießwütigen Monstern beschützen musst“, sagte er.
„Aber vielleicht vor etwas Schlimmerem“, antwortete Sue.
„Du hast recht“, sagte er. „Tessa kann in der entsprechenden Laune eine Körperverletzung sein.“
Sue sparte sich eine Antwort, um nicht doch in die Hölle zu kommen. Was stand eigentlich auf Schwiegermutter-Hassen? Sie nahm sich vom Tablett, das eine reizende Kellnerin ihr präsentierte, einen Orangensaft und machte sich auf die Suche nach ihrer Tochter.
Auf einem Tisch stapelten sich bereits die Geschenke, und alle Vasen waren mit verschwenderischen Blumensträußen gefüllt. Dabei wäre es Aubrey sicher lieber gewesen, sie hätten die Blumen in der Erde gelassen und ihm stattdessen neue Setzlinge für sein Arboretum geschenkt. Aubrey plauderte glücklich mit den Gästen und sah dabei immer wieder verstohlen auf die Uhr. Es war kurz vor halb eins, und für Punkt halb war seine Eröffnungsansprache geplant. Wahrscheinlich ist er ein bisschen nervös, dachte Sue.
„Na, wonach suchst du denn?“, fragte eine Stimme, auf die sie keinen Wert gelegt hatte. Sie gehörte Helen, Alistairs Frau mit dem Doppelnamen. „Ich nehme an, Amy. Ich würde sie keine Sekunde aus den Augen lassen.“
„Natürlich nicht“, antwortete Sue so ruhig wie möglich. „Ich kann mir auch schwer vorstellen, dass Zehn- und Elfjährige schon Geburtstage in Clubs feiern. Aber natürlich würdest du immer mitgehen. Was deine Kinder natürlich zu ziemlichen Außenseitern machen würde.“ Sie sah auf die Uhr. „Ihr seid spät dran. Ist was passiert? Aubrey war schon etwas nervös.“
„Alles bestens“, flötete Helen. „Was war euer Geschenk?“
„Von uns allen eine prächtige Paulownia tomentosa, ein Blauglockenbaum, der morgen per Spezialtransport angeliefert wird. Und von mir eine Torte.“
„Es ist entzückend, wie du bei Aubrey immer Hotel Sacher spielst. Hat Schwiegermama nicht bei Ladurée bestellt?“
„Kann sein“, erwiderte Sue gleichmütig.
Ein Klirren ertönte. Aubrey stand mit einem Löffel in der Hand und einem Glas Champagner in der anderen neben dem Geschenketisch und bat um Aufmerksamkeit. Er räusperte sich kurz, bevor er anfing zu sprechen. Tessa präsentierte sich an seiner Seite, ein vornehmes Lächeln auf den Lippen.
„Liebe Gäste. Ich freue mich sehr, dass Sie und ihr alle gekommen seid, um mit mir meinen 75. Geburtstag zu feiern. Ich begrüße meine Familie, den Herrn Bürgermeister, unseren Anwalt, den Pfarrer, du liebe Güte, wenn ich weiterrede, stehe ich noch in zwei Stunden da, und dabei hängt mir der Magen schon in den Kniekehlen, weil ich heute Morgen vor Aufregung keinen Bissen herunterbekommen habe. Darum mache ich es kurz – ich danke meiner Frau, der lieben Tessa, dass sie das alles so wundervoll vorbereitet hat, und wünsche uns allen einen schönen Tag und ein unvergessliches Fest. Und jetzt kommt das Wichtigste: Ich bitte alle zu Tisch!“
Alle klatschten und begaben sich zu den Tischen, die auf dem Rasen aufgestellt worden waren. Sue und ihre Familie saßen natürlich an Aubreys Tisch, und sie war froh, als sie Amy mit Philipp kommen sah. Vielleicht war an diesem Tag sogar ein kleiner Bruder eine psychische Stütze. Es sei denn, er löcherte sie dauernd mit Fragen zur Schießerei. Aber die beiden sahen ganz entspannt aus.
Auch Emma saß am Tisch. Sie hatte wieder einmal einen Freund mitgebracht, der an einem anderen Tisch platziert war. „Hallo Amy“, sagte sie. „Willkommen im Club.“ Emma war schon des Öfteren in derartige Vorfälle verwickelt gewesen.
„Emma, ich bitte dich“, fuhr Tessa ihr mit schneidender Stimme dazwischen.
„Aber gerne doch, Mutter.“ Emma lächelte und widmete sich mit großem Appetit ihrer Suppe.
Sue bewunderte Amy für ihre Contenance. Sie hatte die Haare nach vorne fallen lassen und aß ungestört hinter diesem Vorhang.
Nach dem Essen und einigen weiteren, mehr oder weniger blumigen Reden war der Geräuschpegel etwas nach unten gesackt. Alle waren von einer angenehmen Trägheit erfüllt, bis auf Aubrey – und natürlich Tessa, die bereits wieder das Personal herumkommandierte.
„Wie wäre es mit einem kleinen Verdauungsspaziergang?“, warf Aubrey in die Runde.
Die Begeisterung verhalten zu nennen wäre eine Übertreibung gewesen. Eigentlich mochte sich niemand melden, bis sich schließlich Terence erbarmte, und nach einem heftigen Stoß von Helens Ellbogen in Alistairs Rippe auch Letzterer. Helen, die größten Wert darauf legte, sich lieb Kind zu machen, kam natürlich auch mit, ebenso ihre beiden Sprösslinge. Etwas frische Luft würde vielleicht die Vampirblässe aus ihren Gesichtern vertreiben, dachte Sue.
Aubrey wanderte weiter zum nächsten Tisch und sammelte noch weitere Opfer ein, darunter den Pfarrer und den Bürgermeister.
Sue hingegen hatte heftige Kopfschmerzen. Das Geplapper der Gäste fühlte sich an wie Nadelstiche auf ihrer Kopfhaut, und sie beschloss, sich bis zum Kaffee kurz hinzulegen. Zum Glück konnte sie sich in Terences ehemaliges Zimmer zurückziehen. Als sie die Treppe hinaufgehen wollte, wurde sie von Tessa abgefangen.
„Amy ist viel zu jung, um zu solchen Veranstaltungen zu gehen. Ich hätte es ihr nicht erlaubt“, fing Tessa ohne große Vorrede an.
„Du solltest nicht von etwas sprechen, von dem du keine Ahnung hast“, sagte Sue. Die gepuderte Perfektion ihrer Schwiegermutter verursachte ihr Übelkeit.
„Wie darf ich das verstehen?“
„Bei dir wäre Amy bereits seit mindestens fünf Jahren im Internat. Du hast doch bei keinem deiner Kinder die Pubertät mitgemacht. Hast alles schön den anderen überlassen.“
Tessa schnappte nach Luft und Sue, für die das Gespräch beendet war, setzte ihren Gang in den ersten Stock fort.
Sie fühlte eine gewisse Genugtuung, Tessa kurz außer Gefecht gesetzt zu haben, aber mittlerweile hatte sie das Gefühl, als hätte sie fünf Kopfschmerzarten auf einmal: klopfende, pochende, ziehende, stechende und Übelkeit verursachende.
Bevor sie sich hinlegte, ging sie zum Fenster und sah hinaus auf diese wunderschöne Kulisse mit den schön gekleideten Menschen in einem preisgekrönten Garten. Sie nickte. Das war es, zumindest für sie. Eine Kulisse. Sie war Zuschauerin. Sie gehörte nicht dazu. Sie legte sich auf das Bett und schloss die Augen. Die Kühle des Raumes und der steifen Laken tat ihr gut.
Sie erwachte, als sie Musik hörte. Erschrocken setzte sie sich auf und sah auf die Uhr. Du liebe Güte, sie hatte zwei Stunden geschlafen! Offenbar hatte sie auch niemand vermisst. Terence hätte ruhig einmal nachsehen können. Und sie Idiotin hatte ihr Kleid angelassen. Als sie aufstand und sich im Spiegel betrachtete, stöhnte sie auf. Alles war verknittert. So konnte sie sich auf keinen Fall unten zeigen. Sie brauchte dringend ein Bügeleisen. Dazu musste sie hinunter in den Hauswirtschaftsraum. Sie fuhr kurz mit dem Kamm durch die Haare und schlich sich ins Erdgeschoss.
Der Wirtschaftsraum befand sich im hinteren Teil des Hauses, und an diesem Tag würde sich sicher niemand dorthin verirren. Sue zog ihr Kleid aus und legte es auf das Bügelbrett. Während sie in Slip und BH vor sich hin bügelte, begleitet von den Partygeräuschen im Hintergrund, musste sie plötzlich schmunzeln. Die Szene hatte doch was. Von einem Porno zum Beispiel. Da käme jetzt der lüsterne Hausherr und würde sie auf dem Bügelbrett nehmen. Unwillkürlich kicherte sie los. Aubrey und lüstern – das war schlichtweg nicht vorstellbar. Vor allem, weil sie keine Pflanze war. In diesem Fall bestünden tatsächlich gewisse Chancen.
Als sie das Bügeleisen aussteckte, hörte sie auf einmal Tessas Stimme. Sie schien auf der Bank zu sitzen, die vor dem Fenster stand.
„Was ist mit Sue?“, fragte sie.
„Was soll sein?“ Das war Terence.
„Muss ich dir das wirklich sagen?“
„Sag es noch mal, es scheint dir viel Freude zu machen.“
Oho, Terence war in Angriffslaune.
„Spar dir deine Ironie. Die Sache mit Amy...“
„War nicht ihre Schuld.“
„Etwa deine?“
„Ich habe es ihr erlaubt.“
„Trotzdem. Die Mutter spielt eine wichtigere Rolle. Und ich bin mir nicht sicher, ob sie die gut ausfüllt. Sie reagiert immer so“, sie suchte nach Worten, „aufsässig.“
Terence lachte. „Aufsässig? Das ist gut. Sie ist eine erwachsene Frau und sagt oft, was sie denkt. Das schätze ich übrigens an ihr.“
Sue lächelte, doch es verging ihr gleich wieder, als Tessa sagte: „Was kann man von dieser kleinen Österreicherin schon erwarten, wenn man den Stall sieht, aus dem sie kommt? Der Vater ein gescheiterter Fotokünstler, die Mutter nicht vorhanden. Muss ich noch mehr dazu sagen?“
„Mutter!“ Terence Stimme klang eher amüsiert als vorwurfsvoll.
Was für ein Waschlappen, dachte Sue.
„Übrigens, Moira ist wieder im Lande. Sie sieht umwerfend aus.“ Sue schüttelte ungläubig den Kopf. Die große Clanmutter hatte also schon eine Nachfolgerin für sie ins Auge gefasst. Wie reizend! Mit klopfendem Herzen wartete sie auf ein klares Wort von Terence. Spätestens jetzt wäre es fällig gewesen. Aber es kam nichts. Es war, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Nach endlos erscheinenden Sekunden hörte sie, wie die beiden sich entfernten.
Sie fühlte sich, als hätte man ihr den Boden unter den Füßen entzogen. In ihrem Kopf drehte sich alles und sie setzte sich auf einen Schemel, der vor der Waschmaschine stand.
„Ihr lasst mir keine Wahl“, murmelte sie, als sie den Blisterstreifen aus ihrer Handtasche zog. „Ich habe das Gefühl, als bräuchte ich einen kleinen Energieschub.“ Sie drückte eine Tablette heraus und spülte sie mit etwas Wasser aus dem Hahn hinunter.
Ein illoyaler Ehemann. Oder ein Mann, der nicht den Mumm hatte, sich seiner Mutter zu widersetzen. Beides war gleich mies. Damit würde er nicht so einfach davonkommen.
Während sie beim Hinausgehen noch überlegte, wen sie sich als Erstes zur Brust nehmen würde, Terence oder Tessa, forderte Aubrey seine Gäste zum Round Dance auf – ein Ritual, das auf keiner Feierlichkeit der Familie fehlen durfte. Die Männer der Familie waren alle begeisterte Tänzer, bis auf den staubtrockenen Alistair natürlich. Nun gut, sie konnte Terence auch beim Tanzen zeigen, was eine Harke war.
Die Band begann mit einem Cha-cha-cha und ihr erster Partner war der Bürgermeister.
„Sie tanzen, als sei der Cha-cha-cha für Sie erfunden worden“, schmeichelte er ihr.
„Und Sie, als wären Sie dafür geboren worden“, log sie geschmeidig zurück.
Er lachte, und schon kündigte der Bandleader den Partnerwechsel an. Sie landete bei Terence.
„Na, amüsierst du dich?“, fragte sie.
„Es geht so“, meinte er. „Bis jetzt ist es weniger schlimm als gedacht.“
„Wenn man alles hinnimmt, sicher.“
Terence war noch dabei, sich eine Antwort, oder, was wahrscheinlicher war, eine Frage zu überlegen, als die Partner wieder wechselten und Selwyn mit strahlender Miene zu ihr tänzelte.
Er wiegte seine Hüften so temperamentvoll, dass seinem Orthopäden, der ihm die künstliche Hüfte eingesetzt hatte, der Angstschweiß ausgebrochen wäre.
„Hallo meine Lieblingsösterreicherin“, rief er gutgelaunt, „du siehst frisch aus wie eine Rose.“
„Kommt aus dem Labor“, entgegnete sie. Und damit meinte sie kein Rouge, sondern ihre Amphetamine.
„Nein, das kommt von innen“, beharrte er.
Wie recht er hat, dachte Sue.
„So ein Leuchten in deinen Augen. Etwa ein kleines Schäferstündchen? Ich habe dich und Terence um die Mittagszeit ziemlich lange nicht gesehen.“
„Wer weiß?“, deutete sie kokett an.
„Oh là, là.“ Selwyn bedachte sie prompt mit einem feurigen Blick.
Mit ihm zu tanzen machte großen Spaß. Im Gegensatz zu der hüftsteifen Mehrheit der Briten hatte er keine Scheu, seine Gefühle im Tanz umzusetzen und dabei zum Beispiel auch die Arme einzusetzen. Was sich bei anderen, leider auch bei Terence, wie eine etwas peinliche Sportnummer anfühlte, war bei Selwyn Lebensfreude pur. Sue musste lächeln, als er sie temperamentvoll herumwirbelte und bedauerte es, als er sie an den Pfarrer übergab. Es folgte ein eher ereignisloses Intermezzo mit ihrem Schwager Alistair und dem Bürgermeister, bis sie wieder bei Terence landete.
„Was ist los?“, zischte Terence. „Es ist fast schon peinlich, wie du dich hier produzierst. Hast du wieder was genommen?“
„Ja, Selwyn hat es auch schon bemerkt. Er findet es toll. Und ich auch.“ Sie hätte Bäume ausreißen können. „Wir vom Kontinent sind halt etwas dekadenter als ihr.“ Sie drehte sich einmal um die eigene Achse. „Übrigens: Ich habe euch gehört.“
„Wen?“
„Dich und deine Mutter.“
Er hörte zu tanzen auf. Mitten im Schritt, was für ein Mangel an Contenance! Gut, dass es keine Preisrichter gab.
„Es war schön zu hören, wie sehr du hinter mir stehst.“ Cha-cha-cha. Ihr Hüftschwung wurde immer besser.
„Partnerwechsel!“, rief der Bandleader und weiter ging es mit Selwyn. Theoretisch, denn Terence zog sie wieder zu sich.
„Hör mal –“
„Du bist nicht im Takt, mein Lieber. Und ich bin nicht deine Partnerin.“ Sue deutete nach links. „Ach, Moira ist dran. Ist deiner Mutter sowieso lieber.“
„Sue, so ein Unsinn!“ Dann, zu Selwyn gewandt: „Onkel, gehst du bitte noch einmal zu Moira?“
„Wieso stehst du nicht zu mir?“, fragte Sue leise. „Oder ist dir der Stall, aus dem ich komme, peinlich?“ Nun sprach sie deutsch mit ihm. „Es ist schon traurig mitzuerleben, wie wenig sich die britische Gesellschaft seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs weiterentwickelt hat. Für Menschen wie deine Mutter ist das Empire immer noch lebendig. Ihr seht auf alle anderen herab. Damit ist sie nicht besser als eure widerliche Boulevardpresse.“
„Du übertreibst“, warf Terence ein.
„Warum hast du ihr nicht widersprochen? Selten hat mir etwas so weh getan wie deine Feigheit heute Nachmittag.“ Sie trat einen Schritt von ihm zurück und schüttelte leicht den Kopf. „Wenn deine Leser und deine Patienten wüssten, wie du in Wirklichkeit bist.“
„Was soll das heißen?“
Sue schüttelte resigniert den Kopf und fasste einen spontanen Entschluss. „Ich fahre mit den Kindern nach Hallstatt. Philipp ist gerne dort, und ich will Amy um mich haben. Es schadet nichts, wenn sie eine Weile aus London weg ist. Mir wird es auch gut tun, noch dazu, da wegen deines Buches unser Familienurlaub ins Wasser gefallen ist. Ich hole ihn jetzt einfach nach. Zwar ohne dich, aber du weißt ja, warum.“
„Sue, das ist unfair, wir waren uns einig, dass wir den Urlaub in St. Barth stornieren, weil es mit meinem Buch nicht anders möglich war. Wir holen das –“
„Du hast uns mit deinem Terminplan überfahren, und wir haben wie üblich eingewilligt“, fuhr Sue ihm über den Mund. „Aber jetzt geht es um mich und die Kinder. Ich fahre.“
„Das halte ich nicht für gut“, protestierte Terence. „Du überstürzt das.“
„Vielleicht hast du mich überstürzt geheiratet?“
„So ein Unsinn.“
Sue blieb fest. „Ich fahre.“
Terence schloss kurz die Augen. „Wenn du meinst.“
„Du kannst ja mit deiner Schwester nach London zurückfahren. Oder mit der standesgemäßeren Moira. Oder Deine neue Freundin Sondra holt Dich ab. Es sei denn, Du ziehst es vor, mit Deiner Mutter noch weitere Nettigkeiten über mich auszutauschen.“
Passend zum letzten Takt des Cha-cha-cha ließ sie ihn stehen und sammelte ihre Kinder ein.