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Sue drückte auf die rote Telefontaste ihres Handys. Gerade hatte sie eine Nachricht von Mrs Jackson erhalten, der Mutter einer Freundin von Amy. Offenbar war es im Funky Crow zu Handgreiflichkeiten gekommen und irgendjemand – Sue betete zu Gott, dass es niemand von Amys Freunden war – hatte eine Schusswaffe gezogen und im Club wild um sich gefeuert. Einer der Partygäste (Gerüchte gingen um, es handele sich um Simon Craig, Sohn des Kulturdezernenten) war von einer Kugel getroffen worden, aber anscheinend nicht in Lebensgefahr.

Sues Herz raste. Während sie kindische Rachepläne gegen Terence schmiedete, schwebte ihr Kind in Lebensgefahr! Eine Schussverletzung – das passierte doch nur anderen. Was war das nur für ein Tag – irgendwie schien sich alles gegen sie verschworen zu haben. Als der Taxifahrer vorschriftsmäßig an einer roten Ampel hielt, hätte sie ihn am liebsten angeschrien, durchzufahren. Jetzt dreh nicht durch, ermahnte sie sich selbst. Amy lebt, sie hat mit dir telefoniert. Vielleicht ist alles doch nicht so schlimm. Sie würde dieses Kind nie wieder aus den Augen lassen ...

Sue war völlig aufgelöst, als sie in der Notaufnahme des Krankenhauses ankam. Sie wurde noch panischer, als sie ihren Blick auf das Publikum im Wartebereich richtete. Blutende Köpfe, lallende Jugendliche, weinerliche Männer, die sich schmerzende Gliedmaßen hielten, Veilchen in allen Ausprägungen – was für eine schöne Art, in das Wochenende zu starten.

Sue legte einen Gang zu und atmete auf, als sie im hinteren Bereich Amy zwischen einem an die Decke starrenden Inder oder Pakistani oder was auch immer und einem Schwarzen, der sich ein Auge mit einem Packen Mullbinden zuhielt, entdeckte.

Mit einem „Amy Schatz!“ flog sie förmlich über den grün-grauen Linoleumboden und nahm ihre Tochter in die Arme. Gleich danach trat sie einen Schritt zurück, um sie zu begutachten. Äußerlich schien alles in Ordnung zu sein, sah man von dem Strippflaster, das auf ihrer Stirn klebte, und dem Tränenfluss, der über ihre Wangen lief, ab.

„Wo ist Papa?“, piepste sie.

Das war wieder einmal typisch. Sie, die Mutter, raste durch die Stadt, um zu retten, was zu retten war, und alles, woran die Brut dachte, war der Vater.

„Er hat noch zu tun“, erwiderte sie knapp und strich Amy über den Kopf. „Ich suche mal einen Arzt.“

Amy nickte ergeben und ließ ihren Kopf an die Wand sinken.

Sue hatte Glück, denn auf dem Flur kam ihr ein sichtbar übermüdeter Mensch im weißen Kittel entgegen. Schmaelzle, M.D. stand auf seinem Namensschild.

„Ah ja, Mrs Urquhart“, begrüßte er sie nach einem kurzen Blick auf seine Liste. „Ihre Tochter hat Glück gehabt“, sagte er mit unverkennbar schwäbischem Akzent. „Wir haben einige Partygäste, die wir über Nacht hierbehalten müssen.“

„Keine Gehirnerschütterung?“, fragte Sue besorgt.

Dr. Schmaelzle schüttelte den Kopf. „Nein, es sieht alles sehr gut aus. Und es dürfte auch keine Narbe übrig bleiben.“ Er überprüfte noch einmal den Sitz des Pflasters. „Wäre auch schade.“ Er stupste Amy auf die Nase, als wäre sie ein Kleinkind.

Sie sah ihn angewidert an und ging einige Schritte zurück. „Ich will nach Hause.“

Sue nickte. „Ich auch.“

„Du solltest es morgen ein bisschen ruhiger angehen lassen“, meinte Dr. Schmaelzle abschließend. „Keine Party am Wochenende, okay?“

„Geburtstagsfest bei den Schwiegereltern?“, fragte Sue.

„Klingt nicht nach einer Schießerei“, meinte Dr. Schmaelzle.

„Wollen wir es hoffen“, entgegnete Sue. „Vielen Dank und auf Wiedersehen.“

Als sie gingen, fiel ihr Blick auf ein leeres Bett, das im Gang stand. Sich einfach dort hineinlegen, die Decke über den Kopf ziehen …

„Bitte Platz machen“, bellte eine wuchtige schwarze Pflegerin und schob Mutter und Tochter resolut zur Seite.

Aus der Traum. Ein Krankenhaus war keine Ruheoase. Jetzt mussten sie nur noch zusehen, dass sie ohne großes Aufsehen nach draußen kamen. Beim Hineingehen hatte Sue einige Fotografen gesehen. Kein Wunder, es war Hochsommer, die Saure-Gurken-Zeit. Da waren sogar Geburtstagspartys von Eliteschülern eine Schlagzeile wert. Tja, es hatte nicht nur Vorteile, im Dunstkreis der sogenannten guten Gesellschaft zu leben.

Als sie mit dem Taxi vor ihrem Reihenhaus vorfuhren, parkte der Jaguar von Terence in der Einfahrt. Sue war einerseits gespannt, was in den nächsten Minuten passieren würde, andererseits war es ihr egal – ihr Aufnahmevermögen für jegliche Art von Streit, Provokation oder Problemen gleich welcher Art war für die nächsten Tage am Nullpunkt angekommen. Einige Sekunden nachdem Sue die Haustür aufgeschlossen hatte, stürmte Terence in den Flur.

„Amy Schatz, was ist passiert?“ Sanft nahm er den Kopf seiner Tochter zwischen die Hände und beäugte das Pflaster. Gleichzeitig schaffte er es, Sue vorwurfsvolle Blicke zuzuwerfen.

„Sie hat Glück gehabt“, entgegnete Sue kurz. „Die Kugel hat nur den Jungen getroffen, der neben ihr stand.“ Ihre Stimme troff vor Sarkasmus. Sie würde jetzt nicht anmerken, dass sie gegen den Besuch der Party gewesen war. Nicht vor Amy. Sie hoffte, ihr Tonfall und ihr Blick würden Terence ausreichend weh tun.

„Ich habe ständig versucht, euch zu erreichen, nachdem ich Amys Nachricht auf der Mailbox abgehört habe. Dein Handy“, jetzt sah er Sue anklagend an, „war für mich offenbar abgeschaltet.“

„Ich will ins Bett“, sagte Amy mit schwacher Stimme und war damit die Einzige, die sich auf die wirklich wichtige Sache des Moments konzentrierte.

„Natürlich, meine Kleine.“ Terence war ganz hibbelig in der Rolle des besorgten Vaters. „Soll ich dich hinauf begleiten?“

Amy schüttelte konsterniert den Kopf und stapfte die Treppe hinauf.

Als sie nicht mehr zu sehen war, ging Sue in die Küche und goss Wasser in den Kocher. Was sie jetzt brauchte, war eine starke Tasse Tee, warm und tröstend. Sie lehnte sich an den Tisch und betrachtete die glänzende Spüle. Mariana, die polnische Zugehfrau, die sie sich einmal die Woche trotz heftigster Gegenwehr von Terence leistete – er hasste es, fremde Menschen im Haus zu haben, die seinen Dreck beseitigten – hatte wie üblich gut gearbeitet. Sie hörte Schritte, ein Räuspern, dann war Terence da.

Er öffnete den Kühlschrank und schenkte sich ein Glas Weißwein ein.

„Sue“, setzte er an,

„Ich will jetzt nichts hören“, unterbrach sie ihn barsch. „Nur so viel als kleines Update: Hilde ist tot.“

„Oh“, murmelte er. „Das tut mir leid.“

„Ich habe es den Kindern noch nicht gesagt.“

„Klar“, sagte er. „Philipps Schulfest und Amy ...“

„Schön, wie viel Rücksicht du an den Tag legen kannst.“

„Sue bitte –“

„Was heißt hier Sue bitte!“

„Du kennst doch Sondra!“

„Natürlich kenne ich sie und glaube mir, das macht es nicht besser.“

„Da war nichts. Du kennst sie doch. Die spielt mit allem und jedem.“

„Ich dachte, du wärst dir zu schade dafür, ‚jeder‘ zu sein.“

Er seufzte. „Wie ist es passiert?“

„Was meinst du jetzt? Das mit Sondra in der Praxis? Da musst du dich schon selbst fragen. Oder die Schießerei bei Amy? Wahlweise hätte ich auch noch den Tod von Hilde anzubieten.“

Sue, die Terence nicht aus den Augen ließ, bemerkte, dass die Ader, die an der linken Seite seiner Stirn leicht hervorstand, aussah, als drohte sie gleich zu platzen. Ein Zeichen höchster Erregung. Sie genoss es, ihn so wütend machen zu können.

„Hilde“, sagte er schließlich mit gepresster Stimme.

„Aha, Hilde. Deine Tochter ist dir anscheinend egal!“

Der Ton von Terence wurde scharf. „Die Tochter“, jetzt wurde er einen Hauch ironisch, „liegt unversehrt oben in ihrem Bett.“ Er schwieg eine Zeitlang, dann sagte er mit weicherer Stimme: „Ich weiß doch, wie viel Hilde dir bedeutet.“

„Jetzt rede nicht so verdammt therapeutenmäßig daher. Kapier es endlich: Es gab eine Schießerei in deinen verdammten hochwohlgeborenen Kreisen. Auf der Party, auf die du sie hast gehen lassen. Sie hätte tot sein können!“

„Jetzt bin ich wohl schuld an allem.“

„Ja. Nein.“ Sie drehte sich um und riss den Teebeutel in hohem Schwung aus der Kanne. Unzählige Tröpfchen verunzierten die vorher makellose Arbeitsfläche. „Verdammt.“ Hastig goss sie sich eine Tasse voll und wollte trinken. Natürlich verbrühte sie sich die halbe Zunge. Schnell drehte sie den Hahn auf und spülte sich den Mund mit eiskaltem Wasser aus.

Terence übte sich in der Zwischenzeit in Schweigen.

„Papa hat am Nachmittag angerufen. Hilde wollte die Straße überqueren, ein Auto hat sie übersehen. Sie war sofort tot.“

„Tragisch.“

Beide schwiegen.

„Soll das heißen, dass du hin musst?“, sagte Terence schließlich.

Eine neue Welle der Wut flutete in Sue, die sich fast schon wieder beruhigt hatte, hoch. „Dass du nicht fährst, ist ja klar. Das wäre etwas zu viel der Heuchelei.“

„Also bitte!“

Sue schüttelte den Kopf. „Du brauchst keine Angst um dein geregeltes Leben zu haben. Zumindest nicht, was Hilde betrifft. Ich will nicht zur Beerdigung.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich packe das nicht. Ich bin feige, ich weiß. Aber es ist auch so viel zu tun. Deine Vortragsreise, die letzte Korrektur für dein Buch, morgen die Feier bei deiner Familie. Das wird alles knapp, nein, das geht nicht.“ Hatte sie eben ständig deine, deine, deine gesagt? Was war eigentlich ihres? Oder unseres? Irgendwas in ihrem Leben lief gerade schrecklich schief.

„Wir geben einen Kranz in Auftrag.“

„Prima, das wird meinen Vater für unser Nichtkommen hundertprozentig entschädigen.“

Er seufzte, als bearbeitete er gerade den Fall eines hoffnungslosen Patienten. „Komm, lass uns ins Bett gehen. Es war ein schwerer Tag.“

„Wie recht du hast. Aber mach dir keine falschen Hoffnungen: Du schläfst im Gästezimmer.“

Terence widersprach nicht, sondern sah sie nur lange an. Dann trank er sein Glas aus und ging nach oben.

Sue blieb sitzen, bis sie keine Geräusche mehr aus dem ersten Stock hörte. Ihr Körper war so müde, dass sie sich flach auf den Küchenboden hätte hinlegen können. Andererseits war ihr Gehirn so überreizt, dass ein Gedanke den anderen ablöste, noch bevor der alte zu Ende gedacht war. Gemeinsam hatten sie nur eines: Sie waren nicht schön.

Ins Bett zu gehen kam nicht in Frage. Das würde sie nicht schaffen. Nicht ohne Tabletten. Und selbst ohne großes pharmakologisches Wissen ahnte sie, dass das im Moment die schlechteste Lösung war. Beruhigungshämmer auf einen Cocktail aus Alkohol und Aufputschmitteln ... Sue stellte sich gerade vor, dass sie in der gleichen Notaufnahme landen würde wie Amy. Mutter und Tochter eingeliefert in der gleichen Nacht. Die Tochter wegen einer Schießerei, die Mutter wegen Medikamentenmissbrauch. Was für ein schönes Gespann! Was für ein Affront für Terence und seine hochnäsige Familie! Aber das ging selbst ihr zu weit. Auch als Kontinentaleuropäerin hatte sie eine Würde.

Ihr fiel im Augenblick nur eine Lösung ein: Bob und Backen.

Wenn es in Krisenzeiten zu früh für Beruhigungsmittel war, suchte Sue Zuflucht zu einem Mann mit einem anachronistischen Afrokopf: Bob Ross. Sie war sein treuester Fan und besaß all seine Malkurse auf DVD. Wenn er mit seiner dunklen, sanften Stimme von Lichtern sprach, mit der man dunkle Stellen aufhellen konnte, war das besser als jedes Antidepressivum. Sie hielt stets den Atem an, wenn er auf ein Bild, das harmonisch und sanft schien, in ihren Augen also völlig perfekt, ein brutales Weiß oder Schwarz tupfte, aber zum Schluss fügte sich immer alles. Nur bei ihr nicht. Natürlich hatte sie anfangs selbst versucht, unter seiner Anleitung zu malen, aber es war hoffnungslos. Das hatte schon Frau Moosleitner, ihre Lehrerin an der Volksschule, mit leisem Bedauern in der Stimme geäußert. Alles, was über eine grüne Wiese oder einen blauen Himmel hinausging, war ein Angriff auf die Augen des Betrachters. Es sah immer so aus, als hätte eine armlose Kreatur einfach die Farbe auf das Papier gekippt und sich dann mit dem Körper darauf gewälzt. Vielleicht sollte sie es mal mit Action Painting versuchen? Dabei hatte sie so viel Spaß am Malen! Andererseits war sie in ihrer unerfüllten Liebe zur Kunst nicht allein: Gab es nicht zahllose Hobbymusiker (zum Beispiel Mr Henstringe von nebenan), die sich hemmungslos an unschuldigen Meistern wie Mozart oder Chopin vergriffen?

Sue besaß ein Profi-Arsenal an Farben, hatte alle Pinselgrößen und formen, die es unter der Sonne gab, und unzählige Keilrahmen in den unterschiedlichsten Größen, die noch original verpackt im Keller lagerten. Wahrscheinlich waren sie mittlerweile vergilbt und die Farben eingetrocknet, denn keiner in der Familie verspürte einen ähnlichen Drang, sich künstlerisch auszudrücken, und Sue selbst fehlte mittlerweile die Zeit dafür. Terence und die Kinder betrachteten Bob Ross als Spleen, den sie mit nachsichtigem Lächeln hinnahmen. Eine Dauerschleife mit einem Althippie im Küchenfernseher war immer noch besser als eine durchgedrehte Mutter.

Als Hommage an Hilde wählte Sue eine Folge aus, in der Bob Ross ein Bergmotiv malte. Während sich Bobs schmeichelnde Stimme wie Balsam auf ihre überreizten Nerven legte, suchte sie die Utensilien und Zutaten heraus, die sie für eine Dobostorte benötigte. Praktischerweise war diese Aktion nicht völlig sinnlos, denn am nächsten Tag hatte ihr Schwiegervater Aubrey Geburtstag, und sie würde ihn mit einer Kreation der k&k Backkunst überraschen. Aubrey konnte sich wie ein Kind für Linzerschnitten, Esterhazytorte, Sachertorte und all die anderen Nockerl und Strudel und Fleckerl begeistern, für die die österreichische Küche berühmt war. Tessa rümpfte darüber die Nase – die üppigen Backwaren und der Appetit, mit dem Aubrey diese vertilgte, waren so ... unenglisch. Da konnte ein Schmarrn hundertmal Kaiserschmarrn heißen und dem höchsten Adel zu Ehren kreiert worden sein – ein Schmarrn war ein Schmarrn. Keine Frage, dass Sue ihren Schwiegervater mochte. Er war auf seine Art – als passionierter Naturschützer und Baumzüchter, der auf Äußerlichkeiten nicht den geringsten Wert legte – ebenso ein Außenseiter wie sie.

Während sie die Biskuitmasse rührte, stellte sie befriedigt fest, dass sie sich langsam wieder erdete. Das Wichtigste war, dass Amy körperlich unversehrt war – die seelischen Folgen waren eine ganz andere Sache. Sie würde in der nächsten Zeit ein ganz besonderes Auge auf ihre Tochter haben müssen. Nicht auszudenken, wenn ihr etwas passiert wäre. Schon der Gedanke daran fühlte sich an, als würde ein Messer in ihrem Herzen herumwüten. Sie stellte Bob ein wenig lauter.

Vorsichtig verstrich Sue vier Esslöffel Teig auf dem Backpapier zu einem gleichmäßigen Kreis. Sie nickte zufrieden. Insgesamt musste sie sechs solcher Böden herstellen. Sie würden dann mit Buttercreme gefüllt werden, und als krönenden Abschluss gab es eine Karamellglasur, die den größten aller anzunehmenden Belastungstests für Zahnfüllungen darstellte.

Während sie wartete, bis der Teig durchgebacken war, verfolgte sie Bobs Wirken auf dem Bildschirm. Nichts schien diesen Mann aus der Ruhe bringen zu können. Terence wirkte genauso. Unfehlbar, souverän, gelassen. Die Wirklichkeit sah anders aus, mit Sicherheit auch bei Bob, aber seine Wirklichkeit interessierte sie nicht. Er war ihre menschliche Beruhigungspille, hatte zu funktionieren und basta.

Die Geschehnisse des Tages schienen mittlerweile ganz weit weg zu sein. War das mit Sondra wirklich passiert? Rückblickend war diese Situation so lächerlich gewesen, als entstammte sie einer billigen Telenovela. Und sie hatte mit ihrer Reaktion hervorragend in dem miesen Drehbuch mitgespielt.

Strümpfe! Sue schüttelte ungläubig den Kopf. Aus diesem Stoff waren keine Heldinnen gemacht. Hätte sie nur ... Was hätte sie denn? Sie wusste nicht einmal, wie sie souverän hätte reagieren sollen. Sie sollte sich damit abfinden, dass sie keine Heldin war, sondern eine zuverlässige, brave, pflichtbewusste Ehefrau. Und mehr als das. Sie war diejenige, die ihm die tägliche Routine aus dem Weg räumte, damit er draußen als strahlender Held glänzen konnte. Kein Wunder, dass seine Praxis von Frauen überlaufen war. Vielleicht würde sie gleich ein Blitz treffen, weil sie so naiv war, aber sie glaubte Terence, dass er unter normalen Umständen mit Sondra nicht fremdgehen würde. Genauso wie er mit ihr ohne Viagra nicht dreimal in der Nacht schlafen würde. Als sie mit genießerischer Langsamkeit die zerlassene Schokolade in die Buttercreme tropfen ließ, war ihr eines klar geworden: Wie konnte sie Terence vorwerfen, egoistisch zu sein, wenn sie dies tagtäglich mit ihrem Verhalten unterstützte? Sie nahm ihm alles ab, was außerhalb seines Fachbereiches lag, und das war viel. Sie hatte einen 16-Stunden-Tag, dessen Ergebnisse sich immer außerhalb des Rampenlichts zeigten: täglich frisch gekochtes Essen, saubere Kleidung; sie war Mutter, Reibungsfläche und Streitschlichterin für die Kinder, Finanzverwalterin (oder zumindest Ansprechpartnerin für ihren Steuer- und Bankberater), Krankenschwester, Facility Manager (Terence hatte, was den Heimwerkerbereich betraf, zwei linke Hände), Agentin (inklusive Prellbock für Menschen, die sich geschäftlich mit Terence abgeben mussten). Und dann sollte sie auch noch hübsch aussehen. Wo sie dabei blieb, wusste sie nicht. Dabei war ihr sehr wohl klar, wie privilegiert sie war. Aber das reichte nicht. Sie wollte ihr eigenes Leben zurück. Wenigstens ein bisschen.

„Verdammter Mist!“ Terence knallte die Zeitung so wütend auf den Tisch, dass das Honigglas umfiel und sich ein träger goldgelber Fluss über den Sportteil der Daily Mail ergoss.

Nach einem spärlichen „Guten Morgen“ waren dies die ersten Worte, die bisher zwischen den Mitgliedern der Familie Urquhart gefallen waren. Terence war das personifizierte schlechte Gewissen und hatte sich hinter der Zeitung verschanzt, Amy saß schweigend vor ihrem Müsli und starrte in ihre Teetasse (Sue würde sich intensiv um ihr Mädchen kümmern müssen, das stand fest), und sie selbst fühlte sich müde, aber gestärkt von ihrer nächtlichen Backtherapie. Sie war schließlich die Einzige, die sich am vorigen Tag nichts zuschulden hatte kommen lassen (von der rachelüsternen Planung der Lesereise einmal abgesehen, aber das war eine lässliche Sünde, quasi vom alten Testament abgesegnet).

Sie war also die Ruhe selbst, als sie auf seinen Ausbruch mit einem sachlichen „Was ist?“ reagierte. Sie las grundsätzlich nie Zeitung zum Frühstück. Wenn sie Terence so ansah, wusste sie auch, warum. Einen Herzinfarkt konnte man sich auch auf angenehmere Weise heranzüchten.

„Was wird wohl sein?“, antwortete er barsch.

„Mir würden da auf jeden Fall zwei Dinge einfallen.“ Sue ließ ihre Andeutung im Raum stehen und genoss es zu sehen, wie Terence ein wenig rot wurde.

„Lies selbst.“ Er schob ihr die Zeitung hin, einen Tick versöhnlicher, wie ihr schien.

Amy, die inzwischen einen flüchtigen Blick auf die Schlagzeile geworfen hatte, sank immer tiefer in ihren Stuhl. Ihre langen, vom Duschen noch feuchten Haare fielen wie ein Vorhang über ihr Gesicht.

Schließlich traute sich auch Sue, sich den Ergüssen der britischen Boulevardpresse zu stellen. SCHIESSEREI IN NOBELCLUB: ELITE KIDS GANZ UNTEN. Sie konnte sich Terences Meinung nur anschließen: verdammter Mist. Auf Seite drei wurde ausführlich über die eskalierte Geburtstagsparty berichtet, bei der die Sprösslinge der Hälfte des britischen Kabinetts zu Gast gewesen waren. Auf einem Foto blickte ihnen eine derangierte Amy entgegen, natürlich mit einem Verweis auf den prominenten Vater.

Sue atmete tief durch. Warum hatte sie nicht irgendeinen braven Kerl von zuhause geheiratet? Mit Mittelschulabschluss, einer Lehre und einem lebenslang gesicherten Arbeitsplatz? Einen Mann, der höchstens im Lokalblatt zitiert wurde, weil er seit 35 Jahren Mitglied im Vogelzüchterverein war? Die Reaktion von Tessa konnte sie sich lebhaft vorstellen – das war eine Gelegenheit für ein Schwiegertochter-Bashing vom Feinsten. Terence, dessen Gesicht eine ungesunde Blässe angenommen hatte, misshandelte seinen Toast mit einem Messer. Wahrscheinlich dachte auch er an seine Mutter. Schlagzeilen in Blättern dieser Sorte waren nichts, worüber sie amused sein würde. Sie übte sicher schon vor dem Spiegel einen ihrer berüchtigten Blicke, für die Mafia-Bosse Millionen bieten würden. Sue war froh, dass Philipp bei seinem Freund übernachtet hatte und noch nichts von der Angelegenheit wusste.

„Ich konnte doch nichts dafür“, jammerte Amy. Sie hatte bisher keinen Bissen angerührt.

„Ich weiß, Schätzchen“, beruhigte Sue sie.

„Kann ich hier bleiben?“, bettelte Amy. „Ihr wisst doch, Oma ...“

Sue und Terence sahen sich an. Sie wussten.

„Da müssen wir durch, Kleine“, sagte Terence schließlich. „Je eher, desto besser. Dann haben wir es hinter uns.“

Amy seufzte unglücklich, dann stand sie abrupt auf. „Ich habe keinen Hunger. Ich gehe jetzt nach oben.“ Und weg war sie.

Sue war ihr dankbar, dass sie keine Szene gemacht hatte. Das Mädchen wusste, wann es höhere Instanzen gab, denen man nicht entrinnen konnte: dem Rektor ihrer Schule, ihrer Großmutter und Zeitschriften wie Glamour oder InStyle.

Terence war inzwischen zur Spüle gegangen und wusch sein Geschirr ab. Das hatte er gefühlt seit Jahren nicht mehr gemacht. Er war offenbar auf Wiedergutmachung aus. „Du hast gebacken.“

Sue nickte. „So gut ist sie mir noch nie gelungen.“

„Sue, ich –“ Seine Augen blickten ganz weich.

Nein, bloß keine gestammelten Entschuldigungen, dachte Sue. Ich muss mich zusammenreißen. Nicht in seine Augen sehen. „Ich fürchte, wir müssen los“, unterbrach sie ihn.

Sein knappes „Okay“ klang resigniert. Recht so, dachte Sue. Wieso fühlte sie sich dann so schlecht?

Einen Verlängerten bitte

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