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ОглавлениеAuch im 21. Jahrhundert gab es noch das alte England. Das Hanni-und-Nanni-England aus Sues Kindheit in den Siebzigern mit Cricket, schlechtem Essen und der Überzeugung, jedes Problem oder Wehwehchen mit einer Tasse Tee kurieren zu können. Die St. Jacob School for Boys in Marylebone Hill House, ein burgähnliches Gebäude aus edel gedunkeltem Backstein mit unzähligen Türmchen und Erkerchen, stand für dieses England.
Diese edle Aura war jedoch nicht umsonst zu haben. Die Jahresgebühr der Schule war so unverschämt hoch, dass sie dafür in Hallstatt etliche Liegenschaften hätten kaufen können. Sue als Kontinentaleuropäerin (die für die Briten immer im Ruf standen, etwas seltsam zu sein) stand öffentlichen Schulen nicht ablehnend gegenüber, aber für Terence hatte es nie zur Diskussion gestanden, seine Kinder nicht auf standesgemäße Privatschulen zu schicken. Die Netzwerke, Sue, denk’ an die Netzwerke, die sie dort knüpfen! Bis jetzt hatte sich das jedoch noch nicht ausgezahlt, dachte Sue. Amys Freundinnen machten auf sie nicht den Eindruck, als hätten sie je die Absicht, sich mit einem Beruf den Lebensunterhalt zu verdienen. Lernen war ja so lästig, noch dazu, wo sich das gesamte Wissen alle fünf Jahre verdoppelte. Wieso dann überhaupt anfangen? Sie nahmen sich eher Frauen wie Pippa, die Schwägerin von Prince William, zum Vorbild und kultivierten äußere Werte und das geschäftige Nichtstun. Die Jungs waren allerdings auch nicht viel besser. Beruf: „Sohn“ stand auf der Karrierewunschliste von Philipps Klassenkameraden ganz weit oben. Die einzige Alternative war das Gründen von Firmen (mit Daddys Geld natürlich), mit denen sie innerhalb kürzester Zeit immensen Reichtum anhäufen würden. Leider fehlte der Anreiz zu harter Arbeit, weil diese Jungs ja bereits reich waren. Diese Möglichkeit war Philipp verwehrt. Die Urquharts hatten zwar einen makellosen Stammbaum vorzuweisen, der bis ins 14. Jahrhundert zurückreichte, aber reich waren sie nicht mehr gewesen, seit der Ur-Ur-Großvater von Terence das Familiensilber beim Wetten verloren hatte. Anders sah es aus beim Sohn von Paulina Worthington, die gerade ihren Range Rover vor dem Schultor parkte (für Menschen wie sie schien immer gerade der gewünschte Parkplatz frei zu werden). Die gebürtige Tschechin war eines der Super-Models der Achtziger und hatte den dritten Sohn eines Earls geheiratet. Sie musste mittlerweile stramm auf die Vierzig gehen, war aber immer noch gut im Geschäft. Die Generation der Baby-Boomer wollte eben ihre Antifaltencremes lieber von einer Altersgenossin als von einer magersüchtigen Siebzehnjährigen beworben haben.
Sue zog unwillkürlich den Bauch ein und strich ihren Rock glatt. Bist du blöd, schalt sie sich selbst. Sie sollte ihre Energie lieber für andere Dinge einsetzen, als vor einem Model mit eingezogenem Bauch punkten zu wollen, denn eines war klar: Sie würde in diesem Leben nie mehr Größe 34 tragen (bereits Größe 38 war fraglich), und wie man um drei Uhr nachmittags noch wie frisch aus der Dusche aussehen konnte, würde sie bis zu ihrem letzten Tag nicht mehr herausfinden. Sie fühlte sich schmutzig, minderwertig und alt. Ja alt, gegenüber einer Frau, die genauso alt war wie sie.
Wie konnte man nur so glatte Haut haben? Sie war sich sicher, dass Botox im Spiel war, denn nicht einmal Amy mit ihren 15 Jahren hatte beim Stirnrunzeln eine glatte Haut. Und so tolle Haare, immer perfekt geföhnt? Wahrscheinlich musste diese Frau nicht einmal föhnen. Verdammt, irgendjemand saß da oben über dem dunstgrauen Himmel und machte sich einen Spaß daraus, die äußeren Reize der Gattung Mensch sehr ungerecht zu verteilen. Ein Zyniker war der Himmlische obendrein, denn diese Begünstigte war auch noch nett. Und intelligent. Über Paulinas Abschluss in internationaler Politik und Wirtschaft wollte Sue gar nicht nachdenken. Auch nicht über die Stiftung, die Paulina gegründet hatte und deren Wohltaten tschechischen Waisenkindern und misshandelten Frauen zugute kam.
„Sue“, begrüßte Paulina Sue und lächelte ihr berühmtes Lächeln, das im Moment auf allen Londoner Bussen durch die Stadt fuhr. Sue hatte vergessen, wofür es werben sollte. Nur das Lächeln war unvergesslich. Es war so weiß, dass es blendete. Sue machte sich eine mentale Notiz, sobald wie möglich zur Zahnreinigung zu gehen. Vielleicht sollte sie auch über ein Bleaching nachdenken. Das brachte angeblich ein paar Jahre.
„Ist Ihr Mann nicht dabei?“ Paulina lächelte wieder.
„Er ist gerade im Fernsehstudio“, antwortete Sue.
Terence. Irgendwie ging es in ihrem Leben immer nur um Terence. Sie selbst war anscheinend nicht Small-Talk-tauglich.
„Ach der Arme“, meinte Paulina. „Ich gehe mittlerweile nur noch ins Studio, wenn es für meine Stiftung sein muss. Aber es ist schade, dass ich die Sendung nicht sehen kann. Ihr Mann ist so unglaublich telegen.“
Sue lächelte gezwungen. „Na ja, Sie sollten ihn mal morgens beim Frühstück sehen. Sind Sie auch ohne Mann hier?“
Paulina seufzte und auf ihrer Stirn wurden für den Bruchteil einer Sekunde drei Querfalten sichtbar (wirklich gutes Botox, dachte Sue), doch ehe sie nachzählen konnte, waren sie schon wieder verschwunden (fantastisches Botox. Sie musste an die Adresse kommen!).
„Lester ist natürlich auch unabkömmlich. Als ich klein war, dachte ich immer, Earls und Prinzen müssten nicht arbeiten. Da habe ich mich wohl getäuscht.“
Lester Worthington war eine große Nummer in der Immobilienbranche, die Familie selbst hatte mindestens fünf Häuser, besser gesagt, Residenzen. Allein in England. Paulina lachte, brach jedoch abrupt ab, als es von der anderen Straßenseite her klick machte. Sie seufzte genervt und wandte sich ab, Sue jedoch sah in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. In einem alten Fiat saß ein glatzköpfiger Mann, der eine Kamera auf Paulina hielt. Sue drehte sich ebenfalls ab und folgte Paulina, die bereits das schützende Dunkel der Eingangshalle erreicht hatte. Sie hatte keine Lust, als Anhängsel der berühmten Paulina in einem Magazin wie Grazia oder InStyle zu erscheinen. Obwohl, wahrscheinlich würde man sie sowieso wegretuschieren, um das Bild dieser 1,80 Meter großen Nymphe, die in ihrem Etuikleid wie ein Gemälde wirkte, nicht zu zerstören. Da nützten auch ihre eigenen Louboutin Schuhe und ihr Stella-McCartney-Kostüm nichts.
„Das war Riff Jones“, murmelte Paulina, als sie im schützenden Dunkel der Aula standen. „Einer der Schlimmsten. Muss der verzweifelt sein, wenn er schon vor einer Schule herumlungert. Was ist so interessant daran, wenn ich auf ein Schulfest meines Sohnes gehe?“
Sue zuckte mit den Schultern. „Vielleicht ist es wie bei den Piloten und er braucht ein paar Schnappschüsse, um seine Fotografenlizenz zu erneuern.“
Paulina kicherte. Inzwischen hatten sie den Garten erreicht und tauchten in die erfrischende Kühle der riesigen Eichen und Buchen ein, die das Gewusel und den Lärm von schätzungsweise hundertfünfzig Menschen mit majestätischer Gelassenheit hinnahmen. Paulina atmete tief ein. „Ah, ist das schön hier. Allein der Garten ist das ganze Geld wert.“ Als sie ausatmete, verzog sie das Gesicht. „Achtung, Lady Wichtig ist im Anmarsch.“
Melissa Brown-Harryman. Gott hatte bei ihrer Anfertigung offensichtlich etwas Zahnmaterial übrig gehabt, denn ihr Gebiss hätte jedem Vollblüter zur Ehre gereicht. Kein Kieferorthopäde hatte jemals Hammer und Meißel an diese Kreation gelegt, an der gerade Lippenstiftreste in einem süßlich pastelligen Pfirsichton hafteten. Sie trug ein Wickelkleid in einem lila-braunen Retro-Muster, das schlaff um ihre nur ansatzweise vorhandenen Brüste hing. Dazu trug sie schwarze Leggins und Jesus-Latschen.
„Liebste Paulina!“, rief Melissa. Ihre Stimme drohte vor Enthusiasmus zu kippen. „Schön, dass es noch geklappt hat. Wir müssen dringend Fotos für den Jahresbericht machen. Sie haben doch nichts dagegen. Ich hatte mir gedacht, Sie als Profi?“
Paulina nickte ergeben.
„Und Sie, Sue“, nun wurde Melissas Ton strenger, „Sie werden schon am Würstchenstand erwartet. Die Meute hat Hunger!“ Sie klatschte in die Hände, und als sie lachte, sah sie mehr denn je aus wie ein Pferd, das sich für eine Burlesque-Show verkleidet hatte.
Nachdem Sue gefühlte tausend Hot Dogs zubereitet und abkassiert hatte, gab ihr Sohn Philipp sich zum ersten Mal an diesem Nachmittag die Ehre. Natürlich um eine kostenlose Mahlzeit zu schnorren.
„Mama, kann ich ein Würstchen?“
Trotz teurer Schule litt auch er an der Kinderkrankheit, konsequent das Verb bei Fragen wegzulassen. Er war völlig verschwitzt und hatte sich das Polohemd in den Schulfarben dunkelbraun und grün ausgezogen. Ein leichter Schweißgeruch umgab ihn, auf den Philipp mehr als stolz war. Jeden Abend gab es Theater, wenn Sue ihn unter die Dusche steckte. Mit leiser Wehmut strich sie ihm über den Kopf. Jetzt wurde auch ihr Kleiner langsam groß. Seine dünnen Arme und die Schulterblätter, die wie Engelsflügel aus seinem Rücken ragten, waren jedoch noch hundert Prozent Kind. Verlegen wand er sich aus ihrer Nähe. Sue trat einen Schritt zurück. Mutter kurz vor Schmuseanfall, wie peinlich. Sie konzentrierte sich darauf, ihm ein Hot Dog mit besonders viel Ketchup zu machen. Philipp riss es ihr aus der Hand, und sie konnte ihm gerade noch zurufen, etwas zu trinken, als er bereits wieder in den Weiten des Schulgartens verschwunden war, eine rote Tropfspur hinter sich lassend.
„Mrs Urquhart“, riss eine Stimme, die nach quietschender Kreide auf einer Schultafel klang, Sue aus ihren Gedanken.
„Mr Shalby“, rief sie erfreuter, als sie tatsächlich war.
Mr Shalby war der Schuldirektor und daher wichtig. Obwohl er ein Idiot war, der den Zusammenbruch des englischen Weltreichs noch nicht verinnerlicht hatte und wahrscheinlich in seinem Schrank ein Poster von Königin Victoria hängen hatte. Außerdem schien sein Adamsapfel ein Eigenleben zu führen. Als Shalby weiter sprach, hüpfte er irritierend vital unter der dürren Haut auf und ab.
„Ihr Mann ist nicht zufällig hier?“
Irgendetwas in ihr seufzte auf. Verdammt noch mal, ich bin hier. ICH! Eine Frau von 41 Jahren, gesegnet mit zwei Kindern, einem übervollen Terminkalender und einem blockierten Leber-Galle-Meridian. Und Träumen! (Wobei ich momentan gar nicht weiß, wovon ich eigentlich träume.) Und merkt es euch alle: Ich bin nicht der nutzlose Wurmfortsatz von Terence Urquhart! Es würde so verdammt gut tun, all das in diese sogenannte gute Gesellschaft hinaus zu schreien, aber natürlich benahm sie sich.
„Er wäre so unglaublich gerne gekommen“, zwitscherte Sue, „aber er ist bei einer Live-Sendung im Fernsehen. Was soll man machen?“
Shalby zog anerkennend die Augenbrauen in die Höhe. „Erfolg kommt nicht von Nichtstun, nicht wahr?“ Er beugte sich näher zu Sue, woraufhin sie zurückwich. Sie legte wenig Wert darauf, die Anzahl der geplatzten Äderchen auf seinen Wangen zählen zu können.
„Vielleicht könnten Sie mein Anliegen an Ihren werten Gemahl weiterleiten.“
„Selbstverständlich.“ Jetzt war Sue aber gespannt.
„Wir haben in den unteren Klassen immer dieses leidige Thema …“ Er ließ den Satz mit besorgtem Vibrato ausklingen.
Leidiges Thema? Wovon redete dieser Mensch? Von brutalen Internetspielen? Mobbing? Politisch nicht korrekten, weil nicht von Jamie Oliver autorisierten Pausenbroten?
„Da Ihr Gemahl so eine Kapazität auf diesem gewissen Gebiet ist …“ Wieder schien seine Stimme hilflos in der Luft zu hängen.
Gemahl? Kapazität? Da kam nur ein Thema in Frage. Vielleicht sollte sie dem guten Mann auf die Sprünge helfen. „Meinen Sie Sexualtherapie?“
Nun hatte Sue alle Zuhörer auf ihrer Seite. Die Schlange, die geduldig vor ihrem Stand wartete, schwieg wie aufs Stichwort und lauschte gebannt, was nun folgen würde. Shalbys geplatzte Äderchen schienen eine Nuance zuzulegen.
„Äh, ja, im weitesten Sinne.“ Er räusperte sich. „Nein, es geht um den Aufklärungsunterricht, zu dem, wie Sie vielleicht wissen, wir als Bildungsinstitution verpflichtet sind. Vielleicht würde sich Ihr Gatte dazu bereit erklären? Es würde zum guten Ruf der Schule einen wesentlichen Beitrag leisten.“
Selbstverständlich, dachte Sue. Terence als Aufklärungslehrer und Paulina als Model im Schulprospekt. Und alles umsonst. Von diesem vertrockneten Männlein konnte man lernen, wie man sich durchs Leben schnorrte. „Das ist eine entzückende Idee“, sagte sie. War ihre Nase schon so lang wie die von Pinocchio?
„Finde ich klasse“, sagte Kerry Mulligan, eine andere Mutter, die Würstchen-Dienst hatte. Auch die Warteschlange gab ein kollektives Nicken von sich.
„Bei meinem Ältesten in der Blue Gates Fields Infant School haben sie das mit Rollenspielen gemacht“, gab eine Frau zum Besten. „Die Jungs spielten das Sperma und mussten durch einen Tunnel krabbeln, um zur Gebärmutter zu gelangen. Das war dann ein Igluzelt. Unser John war ganz begeistert.“
Sue setzte ein Lächeln auf. Terence würde ganz und gar nicht begeistert sein, den Aufklärer für zwölfjährige Spermiendarsteller zu spielen. Sein Interesse an Kindern erschöpfte sich in seinen eigenen zwei Exemplaren. Und auch da hielt es sich manchmal in Grenzen. Sie kannte also bereits die Antwort, setzte jedoch ein Lächeln auf und meinte in einem Tonfall, als könnte sie sich nichts Schöneres vorstellen: „Ich werde Ihre Anfrage weiterleiten.“
„Ich wäre Ihnen sehr verbunden“, sagte Shalby, der sichtlich erleichtert wirkte.
„Wer würde diesen Unterricht sonst machen?“, fragte Sue.
Shalby wand sich. „Ich fürchte, das bliebe dann an mir hängen.“
Das wird es auch, mein Lieber, dachte Sue. Denn Terence würde sich eher eine Kugel durch den Kopf jagen.
„Das können wir den Kindern nicht antun“, flüsterte Kerry, als Shalby sich ein paar Meter entfernt hatte.
„Ich wäre aber gerne dabei“, erwiderte Sue.
„Lieber nicht“, meinte Kerry. „Ich glaube, bei mir würde die Lust für immer flöten gehen.“
„Vielleicht schreckt das unsere Jungs ab, und sie warten noch ein bisschen, bis sie loslegen.“ Das meinte Sue wirklich ernst, denn Philipp und Sex? Diese beiden Dinge bekam sie beim besten Willen nicht zusammen.
Ihr Handy klingelte. Sie wischte sich die Hände an einer Serviette sauber und zog das Gerät aus ihrer Handtasche, die sie unter dem Tisch deponiert hatte.
„Susi?“
„Papa! So eine Überraschung! Du, es ist gerade ganz schlecht, ich bin nämlich gerade am Würstl grillen –“
„Ich mach es auch ganz kurz.“
Ein flaues Gefühl durchströmte sie. Das klang nicht gut.
„Die Hilde sie – sie ist tot.“
Das flaue Gefühl machte etwas anderem Platz, das Sue nicht einordnen konnte. Sie hätte sich auf den heißen Grill legen können und hätte trotzdem gefroren. Sogar ihre Gedanken zitterten und schafften es nur noch zu einer einzigen Erkenntnis: Hilde ist tot. Wie in Trance wandte Sue sich ab, schaffte es irgendwie, der erschreckt dreinschauenden Kerry Mulligan ein „Kannst du mal übernehmen?“ zuzuflüstern und taumelte in das Schulgebäude. In der Garderobe ließ sie sich auf die Bank fallen.
„Papa, bist du noch dran?“
Franz Wallner räusperte sich. „Ja.“
„Wie ist es passiert?“
„Ein Unfall. Sie wollte über die Straße und da ist ein Auto gekommen.“ Seine Stimme verhallte voller Unglauben.
Diese Scheißstraße um den See. Eng, kurvig, unübersichtlich.
„War sie gleich …?“ Sie traute sich nicht, weiter zu sprechen.
„Ja. Sie hat nicht leiden müssen. In drei Tagen ist die Beerdigung.“ Du kommst doch? schwang in seinem Tonfall mit.
Sue schüttelte den Kopf. Das ging nicht. Sie hatte eine Beerdigung hinter sich, ihre Mutter vor 26 Jahren. Noch immer fing sie zu zittern an, wenn sie daran dachte. Und jetzt Hilde. Ihre Patentante und die beste Freundin ihrer Mutter, die versucht hatte, ihr den Verlust ein wenig zu ersetzen. Die ihre Hand gehalten hatte, fest und weich zugleich, als sie am Grab standen und beide weinten.
„Ich schaffe das nicht, Papa“, brachte sie mit Mühe heraus.
„Die Arbeit, ich weiß.“ Sein Verständnis brach ihr fast das Herz.
„Ich wollte nur Bescheid geben. Weil es die Hilde ist. Sie war doch immer für Dich da.““ Er klang unendlich traurig.
Sue hätte alles dafür gegeben, ihn in den Arm nehmen zu können. Und sich selbst auch von ihm halten zu lassen.
Die Tür ging auf und Kerry Mulligan schaute herein. „Ist alles in Ordnung?“
Sue sah auf, nickte, sprach ein „Papa, ich rufe dich später an, ja?“ in das Handy und beendete das Gespräch.
„Schlechte Nachrichten?“
Sue nickte. Als sie nicht weiter sprach, meinte Kerry: „Geh ruhig nach Hause, ich mache das schon.“
Sue schüttelte den Kopf. „Nein, ist schon gut. Ich muss jetzt was tun.“
„Wenn du meinst.“ Kerrys Blick blieb skeptisch.
„Ich meine.“ Das war auch immer Hildes Motto gewesen. Weitermachen. Auch wenn es nur so etwas Banales wie Würstchen grillen war.
Es half tatsächlich. Auch wenn ihr zwischen Senf, Ketchup und Currypulver immer wieder Hilde in den Sinn kam. Und ihre Mutter. Sie erinnerte sich an ein Foto, das die beiden als junge Mädchen lachend in Rom zeigte. Mit einer Jugendgruppe waren sie dorthin gereist und hatten sogar an einer Papstaudienz teilgenommen. Wie stolz waren die beiden immer gewesen, wenn sie davon erzählt hatten! Sue tat es jetzt noch leid, dass sie sich in ihrer pubertären Arroganz überhaupt nicht dafür interessiert hatte. Ihr Handy piepte.
Es war eine SMS von Peter Beardsley aus dem Verlag. Er wollte wissen, ob es bei dem Termin um 17 Uhr blieb. Sue seufzte. Es ging um Terences Lesereise. Das war ein wichtiges Treffen, denn man musste langfristig planen, um bei den großen Buchhandlungen berücksichtigt zu werden. Weitermachen. Das war Hildes Mantra. Natürlich blieb es bei dem Termin. Außerdem hatte sie ihrem Vater gesagt, sie hätte viel Arbeit und sie wollte nicht gelogen haben. Wie in Trance simste sie zurück. Sie musste Terence anrufen. Sie wählte seine Nummer, erreichte aber nur seine Mailbox. Sie verzichtete auf eine Nachricht. Der Chat nach der Sendung. Klar, der war wichtig. Dieser ganze Kram war so wahnsinnig wichtig. Resigniert starrte sie ihr Handy an.
„Eine Wurst mit viel Curry, bitte“, piepste es vor ihr. Ein süßer Rothaariger mit einem Sommersprossenteppich über der Nase und den Wangen sah sie treuherzig aus blaugrünen Augen an.
Eine drängende Sehnsucht nach ihrem Sohn erfüllte sie. Sie wollte seinen überhitzten Körper spüren, seine Lebendigkeit und Kraft. Sie gab sich besondere Mühe mit der Bestellung und machte sich dann auf die Suche nach Philipp. Er hatte sich mit Klassenkameraden in einer stillen Ecke des Gartens zusammengerottet. Als sie sahen, dass sie sich näherte, brach Hektik aus. Was sie wohl gerade verstecken, dachte Sue und bemühte sich, locker zu wirken.
„Gibt’s was?“, fragte Philipp. Er wirkte nervös.
Schon tat es Sue leid, dass sie gekommen war. Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte ihrem Sohn das Fest nicht verderben. Er würde noch früh genug von Hildes Tod erfahren.
„Ich wollte mich nur von dir verabschieden.“ Philipp würde heute bei seinem besten Freund Rick übernachten.
„Musst du schon gehen?“, fragte er ohne großes Interesse. Immer wieder glitt sein Blick zu seinen Freunden.
„Ja. Ich muss in den Verlag.“
Philipp nickte wissend. „Na dann, Mum, bis morgen. Holt mich aber nicht zu früh ab, wir wollen noch ein bisschen chillen.“ Und dann gab er ihr, große Überraschung, die Andeutung eines Kusses auf die Wange.
Am Würstchenstand war ihre Ablösung eingetroffen – Laura Neville-Turner, Tochter aus nordenglischem Hochadel, verheiratet mit einem Staatssekretär. Laura verbreitete eine unangemessene Hektik, und Sue freute sich auf die Ruhe des Taxis, das sie sich gleich rufen würde.
„Wie geht das, Sue?“ Laura klang atemlos und völlig gestresst.
„Hot Dogs?“ Machte die Frau Witze? Hot Dogs montierte man einfach zusammen, was gab es da zu erklären?
„Ja, ich habe das noch nie gemacht.“
Während Sue den britischen Hochadel in die Geheimnisse der Hot-Dog-Zubereitung einwies, hegte sie revolutionäre Gedanken. In Österreich war nach dem Ersten Weltkrieg der Adel abgeschafft worden, und sie konnte beim besten Willen nichts Schlechtes daran finden. Für Frauen wie Laura waren Küchen Räume, in denen nur die Bediensteten arbeiteten. Ihre eigene befand sich wahrscheinlich im Keller und wurde von schwitzenden, hohlwangigen Sklaven bevölkert. Laura selbst schien nie zu essen und passte locker in Size Zero. Sie betrachtete die vor Ketchup triefenden Hot Dogs mit derselben Verachtung wie einen hochinfektiösen Schimmelpilz.
Als Sue sich bückte, um ihre Tasche zu holen, blieb sie mit dem Bein am Fuß des Tisches hängen. Besser gesagt an einer Schraube, die herausstand. Das Schicksal ihrer Strumpfhose war besiegelt, denn eine Riesenlaufmasche wand sich fröhlich vom Knie bis zu den Knöcheln.
„Mist“, schimpfte Sue leise vor sich hin. „Auch das noch.“
„Die kannst du wegwerfen“, meinte Kerry, die sich ebenfalls zum Gehen fertigmachte. „Zieh sie doch einfach aus, es ist eh so heiß.“
„Das geht nicht“, stöhnte Sue, „ich habe noch einen Geschäftstermin in der City.“ Hektisch kramte sie in ihrer Tasche nach Ersatz. Vergeblich. Wie dumm, jetzt musste sie noch schnell eine neue besorgen.
„Ich kann dir eine leihen“, bot Kerry an.
„Das wäre wunderbar.“ So könnte sie sich den Weg zum Supermarkt sparen.
Nun kramte Kerry ebenfalls in ihrer Tasche und zog etwas heraus, das nichts Gutes verhieß.
„Die ist lila“, sagte Sue.
„Ich habe keine andere“, entschuldigte sich Kerry. Sie musterte Sue von Kopf bis Fuß. „Ich finde, die passt.“
Lila zu ihren beigefarbenen Schuhen und dem hellen Kleid? Im Juli? Das wäre sogar für eine Engländerin krass. Nein, sie brauchte jetzt etwas Luxuriöses. Etwas Vertrautes. Etwas Heimatliches. Ihre Wolford.
„Ich lasse es lieber. Dann fahre ich einfach schnell in der Praxis vorbei. Aber danke für deine Hilfe.“
Sie sah auf die Uhr. Terence war natürlich nicht gekommen.