Читать книгу Tod auf den Gleisen - Elisa Scheer - Страница 3
Dienstag, 09.10.2012
Оглавление„Und, hast du dich schon ein bisschen eingewöhnt?“
Doro sah von den Zetteln auf, die sie gerade sortierte, und lächelte Hilde Suttner an. „Ja, danke. Ich finde es richtig nett hier. Hätte ich zugegebenermaßen so am ersten Tag nicht gedacht.“
Hilde lachte. „Ja, das war schon übel. Aber daran gewöhnt man sich - irgendwas geht am ersten Tag immer schief. So viel auf einmal allerdings hatten wir noch nie.“
„Bist du schon so lange hier an der Schule?“
Hilde zuckte die Achseln. „Das ist jetzt mein siebtes Jahr hier. Und da hier ziemliche Fluktuation herrscht, gehöre ich damit wohl schon zu den alten Hasen.“
„Wieso denn Fluktuation? Ich meine, hier ist es doch echt okay. Wenn ich da an meine Seminarschule denke… und die Einsatzschule erst… dagegen ist es hier echt toll. Also, nicht nur relativ gesehen!“, fügte sie hastig hinzu, als ihr klar wurde, wie zweifelhaft dieses Kompliment klingen musste.
„Ich glaube, das hat mit der Qualität einer Schule gar nicht so viel zu tun“, antwortete Hilde nachdenklich und setzte sich nun doch zu Doro an den unordentlichen Mitteltisch. „Oder was meinst du, Luise?“
Die Angesprochene, die gerade vorbeieilte, hielt inne, lächelte und setzte sich ebenfalls. Doro grüßte sie etwas eingeschüchtert. Luise Wintrich war immerhin eine Mitarbeiterin der Schulleitung. Sozusagen ein großes Tier. Hilde Suttner als Oberstufenkoordinatorin eigentlich auch, überlegte sie.
„Stimmt schon“, sagte jetzt Luise, der Hilde das Problem mittlerweile erklärt hatte. „Von zehn Leuten, die wir zu Schuljahrsbeginn neu kriegen, sind sieben Frauen. Klar, typischer Frauenberuf. Von denen lassen sich zwei nach einem Jahr in den Bayerischen Wald, nach Unterfranken oder ins Berchtesgadener Land versetzen oder wo eben ihr Liebster eine gut dotierte Stelle hat. Drei werden schwanger; einer der Männer wird Vater und nimmt Erziehungsurlaub, ein anderer ist Quereinsteiger und fassungslos, dass seine Kundschaft nicht begierig lauscht, sondern keinen Bock hat und Blödsinn macht. Bleiben also zwei Frauen und ein Mann. Im Folgejahr kriegen wir wieder zehn und das Spiel beginnt von vorne.“
„Und dann ist einer von den dreien, die bleiben würden, eine mobile Reserve und wird nach einem halben Jahr abgezogen“, fügte Hilde pessimistisch hinzu.
„Dazu kommen noch die, die nach drei Wochen einen Nervenzusammenbruch haben, die, die so wenig auf dem Kasten haben, dass man sie in der Oberstufe nicht einsetzen kann, und die, die mit den völlig falschen Fächern zu uns kommen.“ Die Wintrich lachte auf. „Aber dieser erste Schultag war so richtig klasse. Der reinste Slapstick!“
Doro erinnerte sich. Sie war pünktlich am so genannten „nullten Schultag“ vormittags gekommen, um ihr Postfach auszuräumen, ihren Stundenplan zu studieren und sich, falls nötig, die passenden Bücher zu holen. Schon um zehn Uhr morgens herrschte heilloses Gedränge in der Eingangshalle, denn dort hingen die Klassenlisten aus, und anscheinend war bei denen etwas schief gelaufen – jedenfalls war das Sekretariat voller empörter Eltern, die festgestellt hatten, dass ihre süßen Kleinen nicht mit ihren Grundschulfreunden in einer Klasse gelandet waren, „obwohl Sie uns das ausdrücklich zugesichert hatten!“
Die Sekretärin, die für die Klassenlisten zuständig war, schluchzte in ein Stück Küchenkrepp, die anderen versuchten, sie zu trösten und gleichzeitig den Eltern zu versichern, es müsse sich um einen Computerfehler handeln, die aushängenden Listen seien völlig falsch, aber bis morgen sei alles wieder in Ordnung. Als Doro sich bescheiden zu Wort meldete und um einen Schlüssel für Klassenzimmer und Lehrerzimmer bat, wurde sie mit „Jetzt nicht!“ rüde abgebürstet.
Sie versuchte es nach einigen Minuten der Verblüffung noch einmal, und jetzt hieß es: „Sie sehen doch, dass wir zu tun haben! Wer sind Sie überhaupt?“
„Dorothea Fiedler. Deutsch, Geschichte, Geographie“, gab sie artig Auskunft.
„Nie gehört“, murrte die Sekretärin, die noch am wenigsten mit der Tröstung der Weinenden beschäftigt war.
„Vielleicht könnten Sie mal nachsehen?“ Dorothea hörte selbst, dass ihr Ton eine Nuance schärfer geworden war, aber diese Reaktion hatte sie nun doch nicht erwartet – haltloses Gekreische: „Lassen Sie mich bloß mit Ihrem blöden Schlüssel in Ruhe, wir haben hier weiß Gott Wichtigeres zu tun, wir arbeiten uns hier zuschanden und keiner dankt es uns. Und jetzt machen Sie, dass Sie hier rauskommen, aber ein bisschen dalli!“
Doro stand noch mit offenem Mund da, als sich im Hintergrund eine Tür öffnete. „Aber Frau Gschwandner, was ist denn los? So kenne ich Sie ja gar nicht!“
Frau Gschwandner starrte den Chef an und brach prompt in Tränen aus. Jetzt heulten schon zwei, und zwar ziemlich lautstark. Dazu protestierten immer noch jede Menge erboste Mütter, und Doro sah Dr. Eisler ratlos an. „Ich weiß es auch nicht… ich bin wohl in einem ungünstigen Moment gekommen? Eigentlich wollte ich bloß einen Schlüssel, sonst kann ich ja nicht ins Lehrerzimmer…“
Dr. Eisler grinste, griff an der schniefenden Frau Gschwandner vorbei in eine Schublade, wühlte in einer Kiste herum und förderte einen Schlüssel zutage, den er Doro zusammen mit einer Unterschriftenliste präsentierte. „Bitte quittieren!“
Doro unterschrieb und lächelte den Schulleiter versuchsweise an. „Im Notfall kämen Sie hier wohl auch alleine zurecht?“ Er erwiderte das Grinsen, aber Frau Gschwandner unterbrach ihr Schnüffeln und maß Doro mit entrüstetem Blick. Die wünschte hastig noch einen schönen Tag und machte, dass sie aus dem Sekretariat kam.
„Ja…“, sagte sie jetzt, „Frau Gschwandner damals… total durch den Wind.“
„Und dann sagen im letzten Moment zwei Leute ab und wir müssen bis zur Konferenz Klassen neu zuteilen und die Stundenpläne ändern. Und natürlich sind die schlechter als die alten und das Gemecker geht los…“
„Ich hab nicht gemeckert!“, protestierte Doro. „Ja, weil Sie sich Ihren alten Plan ja noch gar nicht richtig angeschaut hatten.“
„Ich meckere auch sonst nicht“, beharrte Doro und versuchte, würdevoll dreinzuschauen.
„Die Mendel kriegt einen hysterischen Anfall, weil sie die 9 d am Hacken hat, und sie mag doch keine Neunten, die sind immer so frech…“, erinnerte sich die Wintrich und grinste bei dem Gedanken.
„Die Steinleitner regt sich auf, weil eine Schülerin in der Eingangshalle ein fast durchsichtiges T-Shirt anhat, und will in der Konferenz mal wieder über feste Bekleidungsvorschriften diskutieren lassen…“
„Der alte Beierlein vom Personalrat verlangt die Zusage, dass ein ganzes Jahr auf Extraveranstaltungen und Mehrarbeit verzichtet wird…“
„Im Lehrerzimmer wird die Luft immer schlechter und niemand weiß, wo der Schlüssel für die Fenster ist…“
„Die Konferenz dauert sechs Stunden, weil jeder Quatsch bis zum Gehtnichtmehr diskutiert werden muss…“ Doro lachte. „Lieber Gott, in was für einem Irrenhaus bin ich denn hier gelandet, hab ich gedacht. Und jetzt gefällt es mir richtig gut. War einfach ein Scheißtag damals.“
„Hoffentlich. Aber im Prinzip ist es hier wirklich okay, und es gibt auch nette Leute hier.“
„Ich finde eigentlich alle sehr nett“, bekannte Doro, und die Wintrich lachte. „Na, ein paar sind schon strange – aber die meisten sind tatsächlich in Ordnung. Himmel, ich hab in zehn Minuten eine Besprechung! Bis bald mal!“
Während sie auf den Ausgang des Lehrerzimmers zusteuerte, fiel Hilde Suttner ein, dass sie sich einige renitente Oberstüfler ins Büro bestellt hatte, und Doro erinnerte sich erschrocken daran, dass sie gleich Unterricht hatte, eine Doppelstunde in ihrem Deutschkurs. Naja, Maria Stuart war nun kein großes Problem, und die Schüler waren im Allgemeinen sehr eifrig, was das Interpretieren betraf. Auch mit verteilten Rollen lesen taten sie sehr gerne, wenn sie auch manchmal eher durch Eifer als durch Können glänzten. Über die Mitarbeit - und die Anwesenheit – konnte sie bis jetzt jedenfalls nicht jammern, egal, wie sehr die Suttner sich über dieses Thema beklagte. Aber noch waren die alle ja auch nicht volljährig, also mussten ihre Eltern sie entschuldigen…
Doro packte ein, was sie für den Kurs brauchte, und stapelte alle anderen Mappen und Bücher säuberlich an ihrem Platz auf. Viel Bewegungsfreiheit hatte man hier nicht, dieses Lehrerzimmer war für etwa sechzig Kollegen gedacht und damit gut um 50 % überbelegt. Etwa in der Größe eines DIN A 3 – Blatts durfte man sich ausbreiten. Wie zwei Käfighennen, dachte Doro, während sie ihre Tasche kontrollierte. Ja, alles drin.
Zufrieden kam sie nach der Doppelstunde zurück: Interessante Diskussionen über den Streit der beiden Königinnen, über das Verhältnis der Dramenfigur zur realen Mary Stuart, über das Konzept der schönen Seele und ihr Verhältnis zu den Ideen der Aufklärung. Guter Kurs. In der Zehnten mussten die – zum Teil wenigstens – einen exzellenten Unterricht genossen haben.
Sie setzte sich wieder, um erneut umzupacken, denn in der fünften Stunde stand die Neunte in Deutsch auf dem Programm – Geheimnisse effektvollen Argumentierens, Rückgabe einiger Übungsaufsätze (die nur mäßig gelungen waren).
Danach aß sie den einen von zwei Äpfeln, die sie für heute eingepackt hatte, und sah sich müßig um. Ziemlich viel Betrieb im Lehrerzimmer für die vierte Stunde. Waren irgendwelche Klassen nicht im Haus?
Hilde Suttner heftete etwas ans Informationsbrett für die Oberstufe. Doro betrachtete ihren Rücken in dem rehfarbenen Tweedblazer. Schickes Teil. Und die schmale braune Stoffhose passte genauso gut dazu wie die darunter gerade noch erkennbaren rehbraunen Stiefeletten.
Die Suttner war immer sehr gut gestylt. Die Wintrich auch, fiel Doro ein. Und die Herzberger. Ob die drei zusammen shoppen gingen? Alle drei groß, schlank, elegant und immer so – naja, so englisch gekleidet?
Sie sah etwas mutlos an sich herab: Jeans, wenn auch ordentliche, irgendwelche Loafers. Passten braune Schuhe eigentlich zu dunkelblauen Jeans? Hätte sie nicht doch besser die schwarzen…?
Und das weiß-blau karierte Flanellhemd – war das zu lässig? Hätte sie es vielleicht etwas sorgfältiger bügeln sollen?
Sie sah sich um. Die anderen trugen alles Mögliche, meist Jeans und Blusen/Hemden/Sweatshirts. Manche sahen wirklich ganz schön ungepflegt aus…
Die Herzberger kramte in ihrem Fach. Die war auch nett. Und ebenfalls in schönen Klamotten, grauer Blazer und grau/schwarz/weinrot karierte Hose. Wenn sie sich mal umdrehen würde, könnte man auch sehen, ob sie eine passende dunkelrote Bluse dazu trägt, überlegte Doro.
An seinem Platz neben der Tür zur Teeküche saß der Ederer. Der sollte sich wirklich mal die Haare waschen - und sie sich nicht so klätschig in die Stirn kämmen! Sah aus wie ein Depp. Und der wild gemusterte Pulli war scheußlich. Glaubte er, sowas machte schlank?
„Frau Fiedler?“
Doro sah, aus ihren Styling-Betrachtungen gerissen, alarmiert hoch. „Ja? Oh, guten Morgen, Frau – Echterding, nicht?“
Die Fachbetreuerin für Geschichte und Sozialkunde grinste kurz. „Sehr gut! So fix war ich mit Namen seinerzeit nicht. Ich fürchte, in der Fachsitzung am Freitag werden Sie das Protokoll schreiben müssen. Schlimm?“
„Ach wo. Ich bin von den Seminarsitzungen her ja noch gut im Training. Kein Problem. Huch, was ist jetzt los?“
Am linken Eingang gab es Getümmel, Bücher fielen zu Boden und ein voller Leitzordner wurde ins Lehrerzimmer geschleudert. „Ich bring sie um!“, kreischte eine Stimme. Wer war das denn?
„Die Mendel, die blöde Nuss“, stellte Frau Echterding mit müder Stimme fest. „Was hat sie denn jetzt wieder? Hat es jemand gewagt, ihr Arbeit aufzutragen? Gott behüte gar eine Vertretungsstunde?“ Doro unterdrückte ein Kichern. „Ist die so krass drauf?“
„Noch schlimmer. Manchmal ist es schon tragisch, dass man Beamte nicht so einfach feuern kann. Kaum sind wir die Merz endlich los, rastet die Mendel aus. Dabei ist die seit Jahren schon hier, die müsste doch Routine haben?“
„Was hast du denn?“, fragte eine sanfte Stimme, die Doro in all dem Gewühl nicht richtig zuordnen konnte. „Die Wintrich hat meine Abrechnung nicht genehmigt!“
„Abrechnung? Warst du auf Studienfahrt oder was? Fortbildung?“
„Blödsinn, wozu denn! Nee, meine Büroartikel!“
„Die kann man einreichen? Das wusste ich ja gar nicht!“
„Kann man auch gar nicht“, warf die Echterding ein. „Es sei denn, man hat was für die Schule gekauft.“
„Was mischen Sie sich ein?“, fuhr die Mendel sie an. „Und Sie da, grinsen Sie nicht so dämlich!“ Doro versuchte vergeblich, ihr Gesicht in teilnahmsvolle Falten zu legen.
„Was hast du denn gekauft?“, wollte die sanfte Stimme wissen. Ach so, die Steinleitner. Gutmensch durch und durch, jedenfalls kam es Doro so vor. Und schrecklich bieder. Fast schon eine Karikatur.
„Na, Schreibblöcke. Und Stifte.“
„Für die Schule? Also, für die Materialvorräte?“
„Was? Wie käme ich dazu? Für mich natürlich!“
„Warum soll die Schule das dann bezahlen?“, wollte eine Männerstimme wissen. Wer war das jetzt wieder? So groß war die Schule auch wieder nicht, aber bis man hier mal das ganze Kollegium auf dem Schirm hatte…
Doro erspähte zwischen all den anderen Köpfen ein paar dunkle Löckchen. Ach so, dieser Spanischtyp. Putz oder Pütz oder wie auch immer.
„Sind Sie bescheuert oder was? Ich brauch den Krempel doch bloß für die Schule! Müsste ich nicht hier schuften, bräuchte ich doch keine Schreibwaren!“
„Also, wer hier bescheuert ist… Den Kram können Sie von der Steuer absetzen, aber mehr nicht. Wie kommen Sie bloß auf diese abwegige Idee?“
„Werden Sie nicht unverschämt, ja?“
„Sie haben mich zuerst als bescheuert bezeichnet!“
Ein Fauchen, Getümmel – und der Chef: „Was ist hier los? Herr Pütz, haben Sie sich verletzt?“
„Ich mich nicht. Frau Mendel hat mir ihre Krallen ins Gesicht geschlagen.“
Dr. Eisler seufzte. „Frau Mendel, was ist denn seit Neuestem mit Ihnen los? Sie waren doch bisher eine zuverlässige Kraft? Bitte kommen Sie mit.“
Sie folgte dem Chef laut murrend nach draußen.
Doro sah die Echterding ratlos an: „Hat die einen an der Waffel? Warum sollte die Schule ihren Krempel bezahlen? Ich dachte ja erst, vielleicht Burnout – aber das geht doch wohl weit darüber hinaus!“
„ Sie haben ganz Recht. In den letzten Wochen hat sie wirklich mit allen Krach angefangen – das muss tatsächlich ein ernsthaftes psychisches Problem sein. Sie streitet mit all ihren Klassen, mit dem Chef, mit dem Finanzamt…“
„Steuern zahlt sie also auch nicht?“
„Ich glaube, Sie wollte ihre Supermarktrechnungen absetzen, sie hat mal über so etwas Ähnliches schwadroniert.“
„Wäre bei solchem Realitätsverlust nicht langsam die Geschlossene anzuraten?“
„Zu ihrem eigenen Schutz, meinen Sie? Das halte ich für eine sehr gute Idee.“
Pütz, mit seidenweicher Stimme und perfide lächelnd. Der hatte ein niedliches Grübchen neben dem Mundwinkel. Und er wirkte irgendwie hinterfotzig. Denk nicht „irgendwie“, tadelte Doro sich selbst – einmal Deutschlehrer, immer Deutschlehrer. Auf der Wange hatte er eine ziemliche Schramme.
„Das sollten Sie vielleicht desinfizieren“, schlug sie ihm vor.
Pütz lachte. „Falls die Mendel tollwütig ist? Wäre natürlich auch eine Erklärung… Aber ich hatte eher das Gefühl, dass sie ordentlich einen sitzen hatte.“
„Lassen Sie sich im Sekretariat verarzten, dann wissen die auch gleich Bescheid und der Vorfall ist dokumentiert“, riet die Echterding. „Eines Tages legt noch jemand die Mendel um, wenn sie so weiter macht. Das ist jetzt die dritte Spinnerin in ebenso vielen Jahren – Zöllner, Merz, Mendel. Ich hätte die Mendel aber, wie gesagt, für stabiler gehalten.“
„Vielleicht hat sie schlimme Klassen?“, schlug Doro vor.
Sie traten an den Generalplan.
„ 7a, 9 d, 10 a, 10 c, 10 d“, las die Echterding vor. „Bis auf die 9 d ganz okay.“
„Also ich finde die 9 d auch ganz brauchbar. Bis jetzt sind sie jedenfalls ziemlich brav und eifrig. Deswegen würde ich bestimmt nicht austicken“, protestierte Doro. „Und warum sollte jemand diese arme Irre umbringen? Wenn natürlich jemand anders die Leiche wäre, könnte ich mir vorstellen, dass sie´s war, in einem Wutanfall…“
„Sie meinen, diese Ausbrüche sind doch eher erheiternd?“ Pütz kräuselte den Mundwinkel. „Nein“, fuhr Doro ihn ärgerlich an, „so lustig finde ich es auch nicht, wenn jemand ein Rad ab hat. Aber warum sollte das in jemandem die Mordlust wecken?“
„In mir schon“, sagte Hilde, die sich von hinten genähert hatte. „Jede Schulaufgabenaufsicht, jede Vertretung in diesem Jahr: stundenlange sinnlose Debatten. Ich würde sie am liebsten gar nicht mehr einsetzen, aber ich glaube, genau das will sie ja. Und warum sollten die anderen mehr arbeiten, nur weil sie sich überlastet fühlt? Objektiv ist das doch Blödsinn!“
Dagegen war nichts zu sagen, auch wenn Doro noch etwas mehr Mitleid aufbringen konnte – aber sie musste ja auch nicht um die Mendel herum organisieren!
Sie sah auf die Uhr und sammelte ihren Kram ein – auf zur 9 d! Und danach den Geschichtskurs – das deutsch-französische Verhältnis. Warum dieser dämliche Arminius seit neuestem in Geschichte so breitgetreten wurde, hatte sie auch noch nicht verstanden – aber bitte! Sie unterrichtete, was gewünscht wurde.
Danach zwei Freistunden und dann die Doppelstunde W-Seminar: Verkehrssysteme weltweit. Nächste Woche hätten sie da eine Exkursion nach München, um das U-und S-Bahn-System zu studieren. Der Kurs hatte schon gemault, warum nicht zu London Transport oder zur Pariser Métro, ein ganz Kesser hatte die Moskauer U-Bahn vorgeschlagen.
„Jaja“, hatte Doro gespottet, „so schaut ihr aus. Moskauer U-Bahn, aber wehe, es kostet was und wir sind nicht spätestens um drei wieder hier, weil ihr da Handballtraining habt. Als Thema für die Seminararbeit könnt ihr das alles gerne nehmen, recherchiert halt im Internet.“
„Auf Russisch?“, hatte der Frechdachs gestöhnt. „Aber nach Moskau fahren wollen!“, hatte sich Doro nicht verkneifen können, und alles hatte gelacht.
Auch heute machte das Seminar viel Spaß und die Teilnehmer/innen zuckten nicht einmal besonders zusammen, als sie sie an die Kurzarbeit in zwei Wochen erinnerte.
Gegen fünf kam sie nach Hause, schwer bepackt mit ihrer Schultasche und einer vollen Supermarkttüte (neue Äpfel, Salat, Joghurts, tiefgefrorenes Obst, Sojaflocken, Eier, fettarmer Käse, Waschpulver, mehrere Gemüsemischungen). Sie verräumte alles in Gefrierfach und Kühlschrank und sah sich dann unzufrieden um.
So schlecht war die Wohnung nicht, aber bis jetzt hatte sie es noch nicht geschafft, sich vernünftig einzurichten. In den Herbstferien sollte sich mal einen Kleiderschrank und ein paar Regale kaufen. Und einen rückenfreundlicheren Schreibtischstuhl. Nur mit ihrem alten Bettsofa, dem wackligen Tisch und den beiden Klappstühlen – und vielen Kisten als Schrankersatz – war das wirklich kein Leben, gerade dass sie schlafen, duschen und korrigieren konnte!
Und wenn sie sich hier zu Schuljahrsanfang nicht nur notdürftigst eingerichtet hätte, wüsste sie auch, wo sich der IKEA-Katalog herumtrieb.
Na, zur Not gab´s immer noch das Internet. Aber erst musste sie die Stunden von morgen vorbereiten. Und den Salat anmachen. Und endlich mal was waschen. Das am besten zuerst!
Sie kippte ihren Wäschekorb um, sortierte eine Maschine voll blauen Kram aus, Jeans, Hemden, ein besseres Sweatshirt, Socken, Handtücher, Unterwäsche (ganz brav im Wäschesäckchen), fischte zwei Euro aus dem Geldbeutel und klemmte sich den Waschpulverkarton unter den Arm. So gerüstet trabte sie nach unten in die Waschküche, wo die Maschine glücklicherweise frei war. Hastig trug sie sich in die Liste an der Wand ein, stopfte alles samt Pulver in die Maschine, knallte die Fronttür zu, warf die zwei Euro ein und startete.
Wieder was erledigt!
Wie das wohl diese schicken Mädels machten? Ließen die waschen? Aber auch wenn sie geringfügig wichtiger waren als Doro, die Anfängerin – für eine Zofe reichte das garantiert nicht.
Zofe, so´n Quatsch. Die waren wohl einfach gut organisiert. Andererseits gab es total souveräne Leute, und bei denen zu Hause sah es aus wie bei Hempels unterm Sofa. Na, die Behausungen von Wintrich, Suttner, Herzberger würde sie ja doch nie zu sehen kriegen, also war es schiere Zeitverschwendung, darüber nachzudenken, beschloss sie, während sie die Treppen wieder hinaufstieg.
Sie hatte eine eigene Wohnung, die es bitter nötig hatte.
Und wie!
Wie immer, wenn sie die Tür aufschloss, überfiel sie tiefes Missbehagen. Schlecht geschnitten war das Appartement nicht, fast quadratisch, Bad und Miniküche Platz sparend untergebracht – aber ohne richtige Möbel? Und überall halb ausgepackte Kisten, in denen sie im Allgemeinen nichts fand.
Wo sollte sie langfristig ihren Tisch und die Regale hinstellen? Die Wand zwischen Küche und Fenster bot sich an, überlegte sie. Besser als die andere Wand, die zwischen Bad und Balkon. Da stand ja auch schon das olle Bettsofa. Ein neues Bett wäre auch nicht übel… bevor sie sich ein Rückenleiden holte?
Und Schränke… der Durchgang zwischen Bad und Küche, der Quasiflur, war immerhin zwei Meter breit. Eins vierzig reichte doch auch, oder? Dann konnte man an die Küchenwand, die ja glatt war, auch einen zwei Meter breiten Schrank stellen.
Ganz schön teuer würde das werden. Und sie hatte noch kein Gehalt bekommen – Kunststück, nach knapp sechs Wochen war das auch nicht zu erwarten. Na, musste das Sparbuch herhalten. Spätestens Weihnachten, hatten erfahrenere Kollegen ihr versprochen, würde der Rubel wohl rollen.
Wollte sie auf Dauer hier bleiben? Ein bisschen schäbig war das Haus. War die ganze Gegend. Aber auf eine doch undefinierbar sympathische Art…
Außerdem waren 550 Euro für 36 qm wirklich nicht teuer, und die Lage war günstig, wenn man nicht gerade auf „gute Gegend“ Wert legte. An der Ecke hielt ein Bus, der in zehn Minuten zum Markt fuhr; von dort waren es kaum fünf Minuten zur Schule. An der gleichen Ecke gab es einen Supermarkt, einen Drogeriemarkt (einen anständigen!), einen Schreibwarenladen mit günstigen Angeboten und einer kleinen Buchabteilung und eine Apotheke; eine Ecke weiter fand man einen Jeansladen (naja, zum Schaufenstergucken reichte es), einen Pizzaservice und einen Obst- und Gemüseladen. Und rundherum eigentlich immer einen Parkplatz für ihre ziemlich schrottreife Kiste. Was wollte man mehr?
Eigentlich konnte man es hier ganz gut aushalten, also konnte sie die Wohnung auch mal fertig möblieren.
Was hatte sie denn jetzt morgen? 9 d in Deutsch und Geschichte, den Deutschkurs der Q 11, eine Doppelstunde Deutsch in der Achten und den Geschichtskurs der Zwölften. Ganz schön viel wieder. Aber nach Mittwoch ließ der Stress immer etwas nach. In der Neunten sollte sie mal ein Geschichtsex schreiben, gleich in der ersten Stunde. Schreck in der Morgenstunde!
Sie bastelte eine Angabe, dachte dann erst daran, nachzusehen, ob die nicht zufällig morgen eine Schulaufgabe schrieben (nein, alles erst nach Allerheiligen), holte die Wäsche nach oben und hängte sie auf, aß ihren Salat und machte sich an die Vorbereitung der übrigen Stunden. Als sie fertig war und alles in ihrer Tasche verstaut hatte, war es Viertel nach neun.
Verflixt, unter der Woche kam man wirklich zu gar nichts!
Wie machten das die anderen? Oder hatten die einfach mehr Übung und mussten nicht mehr so viel vorbereiten? Hatten vielleicht auch nicht drei Deutschklassen und demzufolge nicht dauernd irgendwelche Übungsaufsätze am Bein?
Oder weniger Nachmittagsunterricht? Aber sie selbst hatte eigentlich auch nur einen langen Nachmittag – nämlich heute. Sie musste eben lernen, Haushaltskram nicht auch noch auf diesen Tag zu legen.
Außerdem war Viertel nach neun auch nicht so spät; sie konnte wirklich noch eine von den stabilen kleinen Bücherkisten auspacken und so an der Wand platzieren, dass sie als Regalfach dienen konnte.
Gute Idee, fand sie, als sie das ausprobiert hatte, und machte gleich mit den nächsten Bücherkisten weiter. Wenn man in die untersten Kisten Leitzordner stellte, wurde die Sache auch gleich noch stabiler! Und schließlich blieb eine leere Kiste übrig, obwohl alle Bücher ordentlich arrangiert waren.
Diese leere Kiste stellte Doro neben ihr Sofa und warf sämtliche Unterwäsche hinein, die sie in den übrigen Kisten finden konnte. Sobald der frisch gewaschene Kram trocken war, wäre sie auf jeden Fall wieder gut ausgerüstet.
Aber auf die Dauer war das alles kein Zustand. Sie schaute doch noch schnell im Internet nach, was es bei IKEA und im Baumarkt an Regalsystemen gab. Ach, im Baumarkt hatten sie das System „Lasse“ (wollten die IKEA Kunden abjagen mit diesem pseudoskandinavischen Getue?), massives Buchenholz, leiterartige Seitenteile in verschiedenen Höhen, Bretter in verschiedenen Längen, Stützkreuze aus Metall. Ziemlich günstig. Und wenn sie morgen doch mal mit dem Auto in die Schule fuhr und sich ein paar solcher Teile ins Auto lud? Dann brauchte sie eigentlich vorläufig nur noch einen anständigen Tisch und einen Rollcontainer für ihren Schreibwarenkrempel. Buche passte auch genau zu dem verblüffend anständigen Parkett in der Wohnung. Das Bettsofa ging eigentlich noch, beschloss sie. Schließlich war sie nicht Krösus.
Hoch zufrieden schrieb sie sich auf, was sie wollte, fuhr den Rechner wieder herunter und verzog sich nach einer kurzen Bügelaktion ins Bett.